Wahlrecht bei persönlichen Steuerbefreiungen - Einschränkungen des Wahlrechts auf den Zeitpunkt des Beginns der Unternehmereigenschaft
Leitsatz
Das Unionsrecht ist dahin auszulegen, dass es einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, nach der es untersagt ist, eine besondere Mehrwertsteuerregelung – die eine Steuerbefreiung für Kleinunternehmen vorsieht und die gemäß den Bestimmungen von Titel XII Kapitel 1 Abschnitt 2 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem erlassen wurde – auf einen Steuerpflichtigen anzuwenden, der alle materiellen Voraussetzungen erfüllt, der aber von der Möglichkeit, die Anwendung dieser Regelung zu wählen, nicht zu dem Zeitpunkt Gebrauch gemacht hat, zu dem er der Steuerverwaltung die Aufnahme seiner wirtschaftlichen Tätigkeiten angezeigt hat.
Instanzenzug:
Gründe
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung des Unionsrechts und im Besonderen der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1, im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie).
2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Herrn Dávid Vámos und der Nemzeti Adó- és Vámhivatal Fellebbviteli Igazgatósága (Direktion für Rechtsbehelfsangelegenheiten der nationalen Steuer- und Zollverwaltung, Ungarn) (im Folgenden: Direktion für Rechtsbehelfsangelegenheiten) wegen deren Entscheidung, mit der Mehrwertsteuerschulden von Herrn Vámos festgestellt und gegen ihn eine Geldbuße sowie ein Säumniszuschlag verhängt wurden.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
3 In Art. 9 der Mehrwertsteuerrichtlinie heißt es:
„(1) Als ‚Steuerpflichtiger‘ gilt, wer eine wirtschaftliche Tätigkeit unabhängig von ihrem Ort, Zweck und Ergebnis selbstständig ausübt.
Als ‚wirtschaftliche Tätigkeit‘ gelten alle Tätigkeiten eines Erzeugers, Händlers oder Dienstleistenden einschließlich der Tätigkeiten der Urproduzenten, der Landwirte sowie der freien Berufe und der diesen gleichgestellten Berufe. Als wirtschaftliche Tätigkeit gilt insbesondere die Nutzung von körperlichen oder nicht körperlichen Gegenständen zur nachhaltigen Erzielung von Einnahmen.
…“
4 Art. 213 Abs. 1 dieser Richtlinie lautet:
„Jeder Steuerpflichtige hat die Aufnahme, den Wechsel und die Beendigung seiner Tätigkeit als Steuerpflichtiger anzuzeigen.
Die Mitgliedstaaten legen fest, unter welchen Bedingungen der Steuerpflichtige die Anzeigen elektronisch abgeben darf, und können die elektronische Abgabe der Anzeigen auch vorschreiben.“
5 In Art. 214 dieser Richtlinie heißt es:
„(1) Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, damit folgende Personen jeweils eine individuelle Mehrwertsteuer-Identifikationsnummer erhalten:
a) jeder Steuerpflichtige, der in ihrem jeweiligen Gebiet Lieferungen von Gegenständen bewirkt oder Dienstleistungen erbringt, für die ein Recht auf Vorsteuerabzug besteht und bei denen es sich nicht um Lieferungen von Gegenständen oder um Dienstleistungen handelt, für die die Mehrwertsteuer gemäß den Artikeln 194 bis 197 sowie 199 ausschließlich vom Dienstleistungsempfänger beziehungsweise der Person, für die die Gegenstände oder Dienstleistungen bestimmt sind, geschuldet wird; hiervon ausgenommen sind die in Artikel 9 Absatz 2 genannten Steuerpflichtigen;
…“
6 In Art. 272 dieser Richtlinie heißt es:
„(1) Die Mitgliedstaaten können folgende Steuerpflichtige von bestimmten oder allen Pflichten nach den Kapiteln 2 bis 6 befreien:
…
d) Steuerpflichtige, die die Steuerbefreiung für Kleinunternehmen nach den Artikeln 282 bis 292 in Anspruch nehmen;
…“
7 Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie lautet:
„Die Mitgliedstaaten können vorbehaltlich der Gleichbehandlung der von Steuerpflichtigen bewirkten Inlandsumsätze und innergemeinschaftlichen Umsätze weitere Pflichten vorsehen, die sie für erforderlich erachten, um eine genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen und um Steuerhinterziehung zu vermeiden, sofern diese Pflichten im Handelsverkehr zwischen den Mitgliedstaaten nicht zu Formalitäten beim Grenzübertritt führen.
Die Möglichkeit nach Absatz 1 darf nicht dazu genutzt werden, zusätzlich zu den in Kapitel 3 genannten Pflichten weitere Pflichten in Bezug auf die Rechnungsstellung festzulegen.“
8 Art. 281 dieser Richtlinie bestimmt:
Mitgliedstaaten, in denen die normale Besteuerung von Kleinunternehmen wegen deren Tätigkeit oder Struktur auf Schwierigkeiten stoßen würde, können unter den von ihnen festgelegten Beschränkungen und Voraussetzungen nach Konsultation des Mehrwertsteuerausschusses vereinfachte Modalitäten für die Besteuerung und Steuererhebung, insbesondere Pauschalregelungen, anwenden, die jedoch nicht zu einer Steuerermäßigung führen dürfen.“
9 Art. 282 in Titel XII („Sonderregelungen“) Kapitel 1 Abschnitt 2 („Steuerbefreiungen und degressive Steuerermäßigungen“) der Mehrwertsteuerrichtlinie sieht vor:
„Die Steuerbefreiungen und -ermäßigungen nach diesem Abschnitt gelten für Lieferungen von Gegenständen und für Dienstleistungen, die von Kleinunternehmen bewirkt werden.“
10 Art. 287 dieser Richtlinie bestimmt:
„Mitgliedstaaten, die nach dem beigetreten sind, können Steuerpflichtigen eine Steuerbefreiung gewähren, wenn ihr Jahresumsatz den in Landeswährung ausgedrückten Gegenwert der folgenden Beträge nicht übersteigt, wobei der Umrechnungskurs am Tag des Beitritts zugrunde zu legen ist:
…
12. Ungarn: 35 000 [Euro];
…“
11 Art. 290 der Mehrwertsteuerrichtlinie sieht vor:
„Steuerpflichtige, die für die Steuerbefreiung in Betracht kommen, können sich entweder für die normale Mehrwertsteuerregelung oder für die Anwendung der in Artikel 281 genannten vereinfachten Modalitäten entscheiden. In diesem Fall gelten für sie die in den nationalen Rechtsvorschriften gegebenenfalls vorgesehenen degressiven Steuerermäßigungen.“
Ungarisches Recht
12 In § 2 des Az általános forgalmi adóról szóló 2007. évi CXXVII. törvény (Gesetz Nr. CXXVII aus dem Jahr 2007 über die Umsatzsteuer, im Folgenden: Umsatzsteuergesetz) heißt es:
„Nach diesem Gesetz ist Steuer zu zahlen für:
a) die Lieferung von Gegenständen und die Erbringung von Dienstleistungen, die ein Steuerpflichtiger – in dieser Eigenschaft – im Inland und gegen Entgelt durchführt …“
13 In § 187 dieses Gesetzes heißt es:
„(1) Der Steuerpflichtige, der sich zu wirtschaftlichen Zwecken im Inland angesiedelt hat oder, wenn es an einer Ansiedlung zu wirtschaftlichen Zwecken fehlt, dessen Wohnsitz oder gewöhnlicher Aufenthaltsort im Inland liegt, kann sich den Festlegungen in diesem Abschnitt entsprechend für die subjektive Steuerbefreiung entscheiden.
(2) Übt der Steuerpflichtige sein in Abs. 1 genanntes Wahlrecht aus, ist er für die Dauer der subjektiven Steuerbefreiung in seinem subjektiv steuerfreien Status
a) nicht zur Steuerzahlung verpflichtet;
b) nicht zum Vorsteuerabzug berechtigt;
c) nur berechtigt, Rechnungen auszustellen, in denen weder der Betrag der entrichteten Steuer noch der in § 83 festgelegte Steuersatz ausgewiesen sind.“
14 § 188 Abs. 1 des Umsatzsteuergesetzes lautet:
„Die subjektive Steuerbefreiung kann gewählt werden, wenn die entrichtete oder geschuldete Gegenleistung für alle Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen des Steuerpflichtigen im Sinne von § 2 Buchst. a, in [ungarischen Forint (HUF)] ausgedrückt und auf Jahresebene kumuliert,
a) weder im Kalenderjahr vor dem Referenzkalenderjahr tatsächlich
b) noch im Referenzkalenderjahr mit hoher Wahrscheinlichkeit bzw. tatsächlich
die in Abs. 2 festgelegte Obergrenze übersteigt.“
15 Nach § 188 Abs. 2 des Umsatzsteuergesetzes in der bis zum geltenden Fassung entsprach die Obergrenze, bis zu der subjektive Steuerbefreiung gewählt werden konnte, einem Geldbetrag von 5 000 000 HUF (ungefähr 16 040 Euro). Mit Wirkung vom wurde die Grenze auf 6 000 000 HUF (ungefähr 19 250 Euro) angehoben.
Gesetz über das Besteuerungsverfahren
16 § 16 des Az adózás rendjéről szóló 2003. évi XCII. Törvény (Gesetz Nr. XCII aus dem Jahr 2003 über das Besteuerungsverfahren, im Folgenden: Gesetz über das Besteuerungsverfahren) lautet:
„(1) Eine steuerpflichtige Tätigkeit darf außer in den in den §§ 20 und 21 genannten Fällen nur von einem Steuerpflichtigen ausgeübt werden, der über eine Steuernummer verfügt.
(2) Ein Steuerpflichtiger, der eine steuerpflichtige Tätigkeit ausüben möchte, ist zwecks Zuteilung einer Steuernummer zur Anzeige bei der staatlichen Steuerbehörde verpflichtet.“
17 § 17 Abs. 1 Buchst. a des Gesetzes über das Besteuerungsverfahren sieht vor: „Ist seine Steuerpflicht bzw. seine steuerpflichtige Tätigkeit eine Tätigkeit als Einzelunternehmer im Sinne des Gesetzes über Einzelunternehmer, beantragt der Steuerpflichtige mit der Einreichung der Anmeldung (des entsprechend ausgefüllten Anmeldeformulars) bei der für Angelegenheiten mit Bezug zur Tätigkeit als Einzelunternehmer zuständigen Behörde die Zuteilung einer Steuernummer, wodurch er seine Pflicht zur Anzeige bei der staatlichen Steuerbehörde erfüllt“.
18 § 22 Abs. 1 Buchst. c dieses Gesetzes lautet:
„Der Umsatzsteuerpflichtige gibt gleichzeitig mit der Anzeige der Aufnahme seiner steuerpflichtigen Tätigkeit eine Erklärung darüber ab, ob er die subjektive Steuerbefreiung wählt.“
19 § 172 Abs. 1 Buchst. c dieses Gesetzes bestimmt:
„Vorbehaltlich der Regelung in Abs. 2 kann dem Steuerpflichtigen, der eine Privatperson ist, eine Geldbuße bis 200 000 [HUF (ungefähr 640 Euro)] und, wenn es sich um einen anderen Steuerpflichtigen handelt, eine Geldbuße bis 500 000 [HUF (ungefähr 1 600 Euro)] auferlegt werden, wenn er seine Anzeigepflicht (Anzeige der Aufnahme der Tätigkeit und Anzeige von Änderungen), seine Pflicht zur Mitteilung von Daten oder zur Eröffnung eines Girokontos oder die Pflicht zur Einreichung von Steuererklärungen nicht erfüllt.“
Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage
20 Im Anschluss an eine Prüfung befand die ungarische Steuerbehörde, dass Herr Vámos zwischen dem Jahr 2007 und dem 778 Verkäufe von elektronischen Artikeln auf zwei Internetportalen durchgeführt habe, ohne in das Register der Mehrwertsteuerpflichtigen eingetragen zu sein und ohne die Einkünfte aus diesen Verkäufen deklariert zu haben, und setzte daher eine Geldbuße gegen ihn fest.
21 Die ungarische Steuerbehörde stellte ebenfalls fest, dass Herr Vámos in der Zeit vom bis zum einer Verkaufstätigkeit nachgegangen sei, die zu Einnahmen geführt habe, die die in § 188 Abs. 2 des Umsatzsteuergesetzes vorgesehene Obergrenze, bis zu der subjektive Steuerbefreiung gewählt werden könne, nicht überschritten hätten, und dass er vom 1. bis zum eine weitere Verkaufstätigkeit ausgeübt habe, mit der unbedeutende Einnahmen erzielt worden seien.
22 Am meldete sich Herr Vámos als Mehrwertsteuerpflichtiger an und wählte die subjektive Steuerbefreiung, eine Regelung zur Mehrwertsteuerbefreiung für Kleinunternehmen, die in den §§ 187 ff. des Umsatzsteuergesetzes vorgesehen ist.
23 Unabhängig von dem Verfahren, das zur Verhängung einer Geldbuße gegen Herrn Vámos geführt hatte, leitete die ungarische Steuerbehörde ein Verfahren zur nachträglichen Prüfung von dessen Steuererklärungen in Bezug auf sämtliche Steuern und Fördermittel für die Steuerjahre 2012 bis 2014 ein. Aufgrund dieser Prüfung stellte sie fest, dass Herr Vámos Steuerschulden für die Zeit vom ersten Quartal 2012 bis zum ersten Quartal 2014 habe und belegte ihn auf der Grundlage des so aufgezeigten Steuerrückstands mit einer neuerlichen Geldbuße und einem Säumniszuschlag.
24 Auf den von Herrn Vámos gegen diese letztgenannte Entscheidung eingelegten Einspruch wurde diese von der Direktion für Rechtsbehelfsangelegenheiten bestätigt. Sie nahm auf § 187 Abs. 1 des Umsatzsteuergesetzes Bezug, wonach Herr Vámos berechtigt gewesen sei, die subjektive Steuerbefreiung zu wählen, wies aber zugleich darauf hin, dass § 22 Abs. 1 Buchst. c des Gesetzes über das Besteuerungsverfahren die Möglichkeit, die subjektive Steuerbefreiung zu wählen, auf den Zeitpunkt der Anzeige der Aufnahme steuerpflichtiger Tätigkeiten beschränke und dass dieses Wahlrecht nicht zu einem späteren Zeitpunkt ausgeübt werden könne. Da sich Herr Vámos nicht bei der Steuerverwaltung angemeldet und erst am die subjektive Steuerbefreiung gewählt habe, dürfe er die subjektive Steuerbefreiung erst nach diesem Zeitpunkt in Anspruch nehmen.
25 Herr Vámos focht diese Entscheidung der Direktion für Rechtsbehelfsangelegenheiten beim vorlegenden Gericht an und machte geltend, dass die Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit im Sinne von § 6 des Umsatzsteuergesetzes nur zur Mehrwertsteuerpflichtigkeit führe und folglich eine Pflicht zur Anzeige im Sinne von Art. 213 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie und § 16 des Gesetzes über das Besteuerungsverfahren, nicht aber eine Pflicht zur Entrichtung der Mehrwertsteuer nach sich ziehe. Da seine Einnahmen, so wie sie von der ungarischen Steuerbehörde festgestellt worden seien, weder für das Jahr 2012 noch für das Jahr 2013 die Obergrenze, bis zu der die subjektive Steuerbefreiung gewählt werden könne, überschritten hätten, hätte ihn die ungarische Steuerbehörde nicht zur Entrichtung der Mehrwertsteuer für die Steuerjahre 2012 und 2013 verpflichten dürfen, sondern hätte ihn im Rahmen der nachträglichen Überprüfung fragen müssen, ob er die subjektive Steuerbefreiung wählen wolle.
26 Unter diesen Umständen hat das Nyíregyházi Közigazgatási és Munkaügyi Bíróság (Verwaltungs- und Arbeitsgericht Nyíregyháza, Ungarn) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Verstößt eine nationale Regelung, nach der die Steuerbehörde anlässlich einer nachträglichen Steuerprüfung die Möglichkeit, die subjektive Steuerbefreiung zu wählen, deshalb ausschließen kann, weil der Steuerpflichtige dieses Wahlrecht nur zum Zeitpunkt der Anzeige der Aufnahme seiner steuerpflichtigen Tätigkeit ausüben kann, gegen das Unionsrecht?
Zur Vorlagefrage
27 Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob das Unionsrecht dahin auszulegen ist, dass es einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der es untersagt ist, eine besondere Mehrwertsteuerregelung – die eine Steuerbefreiung für Kleinunternehmen vorsieht und die gemäß den Bestimmungen von Titel XII Kapitel 1 Abschnitt 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie erlassen wurde – auf einen Steuerpflichtigen anzuwenden, der alle materiellen Voraussetzungen erfüllt, der aber von der Möglichkeit, die Anwendung dieser Regelung zu wählen, nicht zu dem Zeitpunkt Gebrauch gemacht hat, zu dem er der Steuerverwaltung die Aufnahme seiner wirtschaftlichen Tätigkeiten angezeigt hat.
28 Insoweit ist zunächst darauf hinzuweisen, dass die Art. 282 bis 292 und insbesondere Art. 287 Nr. 12 der Mehrwertsteuerrichtlinie vorsehen, dass die Mitgliedstaaten Kleinunternehmen eine Mehrwertsteuerbefreiung gewähren können.
29 Ferner kann sich der Steuerpflichtige, der für die Mehrwertsteuerbefreiung in Betracht kommt, nach Art. 290 der Mehrwertsteuerrichtlinie entweder für die normale Mehrwertsteuerregelung oder für die Anwendung der vereinfachten Modalitäten im Sinne von deren Art. 281 entscheiden.
30 Überdies können die Mitgliedstaaten ausweislich der Art. 281 und 284 bis 287 dieser Richtlinie Mehrwertsteuer-Sonderregelungen einführen und beibehalten, wenn diese Regelungen mit dem Mehrwertsteuersystem in Einklang stehen. Im Übrigen heißt es im 49. Erwägungsgrund der Richtlinie, dass den Mitgliedstaaten in Bezug auf Kleinunternehmen gestattet werden sollte, ihre Sonderregelungen beizubehalten.
31 Schließlich handelt es sich bei der im ungarischen Recht vorgesehenen Regelung der subjektiven Steuerbefreiung um eine Sonderregelung, die es den Unternehmen, deren Umsatz eine bestimmte Obergrenze nicht übersteigt, ermöglicht, eine Mehrwertsteuerbefreiung in Anspruch zu nehmen. Diese Steuerbefreiungsregelung für Kleinunternehmen bringt es gemäß § 187 Abs. 2 des Umsatzsteuergesetzes mit sich, dass der Steuerpflichtige nicht zur Mehrwertsteuerzahlung verpflichtet ist, nicht zum Vorsteuerabzug berechtigt ist und nur berechtigt ist, Rechnungen auszustellen, in denen keine Mehrwertsteuer ausgewiesen ist. In ihren Erklärungen vor dem Gerichtshof hat die ungarische Regierung ausgeführt, dass von der Möglichkeit, die Steuerbefreiung zu wählen, noch nach der Anzeige der Aufnahme von Tätigkeiten Gebrauch gemacht werden könne, dass eine entsprechende Wahl aber nur für die Zukunft wirksam werden könne.
32 Im vorliegenden Fall hatte der Steuerpflichtige darum ersucht, die subjektive Steuerbefreiung in Anspruch nehmen zu können, was ihm mit der Begründung verwehrt wurde, dass von dem Recht, diese Steuerbefreiung zu wählen, in dem Kalenderjahr hätte Gebrauch gemacht werden müssen, in dem er diese Steuerbefreiung hätte in Anspruch nehmen wollen.
33 Bezüglich der Verpflichtung, die Aufnahme einer wirtschaftlichen Tätigkeit anzuzeigen, hat der Gerichtshof bereits für Recht erkannt, dass die Mehrwertsteuerrichtlinie einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, die einem Steuerpflichtigen eine solche Anzeige vorschreibt, wenn die Einnahmen aus dieser Tätigkeit die Obergrenze, bis zu der die Steuerbefreiung für Kleinunternehmen in Anspruch genommen werden kann, nicht überschreiten (vgl. in diesem Sinne Beschluss vom , Balogh, C-424/14, nicht veröffentlicht, EU:C:2015:708, Rn. 30). Er hat ebenfalls für Recht erkannt, dass die Mehrwertsteuerrichtlinie nicht verbietet, dass mit einer verwaltungsrechtlichen Geldbuße geahndet wird, dass ein Steuerpflichtiger seiner Verpflichtung zur Anzeige nicht nachgekommen ist, sofern diese Geldbuße verhältnismäßig ist (vgl. in diesem Sinne Beschluss vom , Balogh, C-424/14, nicht veröffentlicht, EU:C:2015:708, Rn. 37).
34 Im vorliegenden Fall ist zu prüfen, ob es einem Mitgliedstaat freisteht, den mit einer Steuerbefreiung verbundenen Vorteil davon abhängig zu machen, dass der Steuerpflichtige diese Regelung zu dem Zeitpunkt wählt, zu dem er die Aufnahme der Tätigkeit anzeigt, und dann, wenn der Steuerpflichtige von dieser Wahlmöglichkeit nicht Gebrauch gemacht hat, von Amts wegen die normale Mehrwertsteuerregelung anzuwenden.
35 Hierzu ist zum einen darauf hinzuweisen, dass die Anwendung der Sonderregelung für Kleinunternehmen angesichts der in Rn. 30 des vorliegenden Urteils aufgeführten Bestimmungen eine fakultative Möglichkeit darstellt, die den Mitgliedstaaten zur Verfügung steht, um ihr Besteuerungssystem zu organisieren.
36 Zum anderen ergibt sich aus Art. 273 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie, dass die Mitgliedstaaten noch weitere, nicht in dieser Richtlinie festgelegte Pflichten vorsehen können, die sie für erforderlich erachten, um eine genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen und um Steuerhinterziehung zu vermeiden.
37 Der Gerichtshof hat insoweit klargestellt, dass aus dieser Vorschrift hervorgeht, dass jeder Mitgliedstaat verpflichtet ist, alle Rechts- und Verwaltungsvorschriften zu erlassen, die geeignet sind, die Erhebung der gesamten in seinem Hoheitsgebiet geschuldeten Mehrwertsteuer zu gewährleisten und den Betrug zu bekämpfen (Urteil vom , Cabinet Medical Veterinar Dr. Tomoiagă Andrei, C-144/14, EU:C:2015:452, Rn. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung).
38 Der Gerichtshof hat ebenfalls festgestellt, dass Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie außer den von ihm festgelegten Grenzen weder die Bedingungen noch die Pflichten angibt, die die Mitgliedstaaten vorsehen können, und dass er diesen daher in Bezug auf die Mittel, um die Erhebung der gesamten in ihrem Hoheitsgebiet geschuldeten Mehrwertsteuer zu gewährleisten und den Betrug zu bekämpfen, ein Ermessen einräumt (Urteil vom , BB construct, C-534/16, EU:C:2017:820, Rn. 21 und die dort angeführte Rechtsprechung).
39 Zwar können die Mitgliedstaaten gemäß Art. 272 Abs. 1 Buchst. d der Mehrwertsteuerrichtlinie Steuerpflichtige, die die Steuerbefreiung für Kleinunternehmen in Anspruch nehmen, von bestimmten oder allen Pflichten nach den Kapiteln 2 bis 6 von Titel XI dieser Richtlinie befreien. Es handelt sich jedoch nur um eine Möglichkeit dergestalt, dass die Mitgliedstaaten nicht gehalten sind, Steuerpflichtige von solchen Pflichten zu befreien.
40 Folglich ist im Einklang mit den Nrn. 34 und 46 der Schlussanträge des Generalanwalts festzustellen, dass sich die Entscheidung des ungarischen Gesetzgebers, eine Befreiungsregelung einzuführen, ihre Anwendung aber zugleich an bestimmte verfahrensrechtliche Voraussetzungen zu knüpfen, im Rahmen des Ermessensspielraums bewegt, den die Mehrwertsteuerrichtlinie den Mitgliedstaaten einräumt.
41 Die Mitgliedstaaten verfügen hinsichtlich der Wahl der Maßnahmen zur Sicherstellung der genauen Erhebung der Mehrwertsteuer und der Vermeidung von Steuerhinterziehung zwar über einen weiten Ermessensspielraum, doch sind sie verpflichtet, bei der Ausübung dieser Befugnis das Unionsrecht und seine allgemeinen Grundsätze, insbesondere den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , Salomie und Oltean, C-183/14, EU:C:2015:454, Rn. 50 und die dort angeführte Rechtsprechung), sowie die Grundsätze der steuerlichen Neutralität und der Rechtssicherheit zu beachten.
42 Was erstens den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit angeht, ist, wie der Generalanwalt in den Nrn. 57 und 58 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, festzustellen, dass es sich bei der Verpflichtung, für die getätigten Verkäufe Mehrwertsteuer zu entrichten, nicht um die Ahndung des Versäumnisses, die Aufnahme von Tätigkeiten anzuzeigen und eine Befreiungsregelung zu wählen, sondern um die Eintreibung der Mehrwertsteuer handelt, die ab der Aufnahme der wirtschaftlichen Tätigkeit durch einen Marktteilnehmer wie Herrn Vámos zu entrichten ist.
43 Zudem hat der Gerichtshof im Urteil vom , Vermietungsgesellschaft Objekt Kirchberg (C-269/03, EU:C:2004:512), für Recht erkannt, dass das Unionsrecht und insbesondere der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht ausschließt, dass ein Mitgliedstaat, der von der Befugnis Gebrauch gemacht hat, seinen Steuerpflichtigen das Recht einzuräumen, für eine Steuerbefreiungsregelung zu optieren, eine Regelung einführt, die den vollständigen Vorsteuerabzug von der nicht rückwirkenden vorherigen Zustimmung der Finanzverwaltung abhängig macht.
44 Der Gerichtshof hat insoweit klargestellt, dass die Tatsache, dass das Zustimmungsverfahren keine Rückwirkung hat, dieses Verfahren nicht unverhältnismäßig macht (Urteil vom , Vermietungsgesellschaft Objekt Kirchberg, C-269/03, EU:C:2004:512, Rn. 29).
45 Aus Rn. 34 des vorliegenden Urteils ergibt sich, dass in einer Situation wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden die normale Mehrwertsteuerregelung zur Anwendung kommt, wenn der Steuerpflichtige keine Wahl zugunsten der subjektiven Steuerbefreiung getroffen hat. Folglich geht eine nationale Regelung, nach der es in einer Situation wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nicht möglich ist, die Mehrwertsteuerbefreiung zu gewähren, nicht über das hinaus, was zur genauen Erhebung der Mehrwertsteuer erforderlich ist.
46 Zweitens ist hinsichtlich des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität, in dem der Unionsgesetzgeber den Grundsatz der Gleichbehandlung im Mehrwertsteuerbereich zum Ausdruck gebracht hat (Urteil vom , BB construct, C-534/16, EU:C:2017:820, Rn. 29), bereits entschieden worden, dass die Maßnahmen, die die Mitgliedstaaten erlassen dürfen, um eine genaue Erhebung der Mehrwertsteuer sicherzustellen und Steuerhinterziehungen zu verhindern, nicht so eingesetzt werden dürfen, dass sie die Neutralität der Mehrwertsteuer in Frage stellen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , Rusedespred, C-138/12, EU:C:2013:233, Rn. 28 und 29 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
47 Würde Steuerpflichtigen erlaubt, nach der gesetzten Frist eine Steuerbefreiungsregelung zu wählen, würde ihnen ein unfairer Wettbewerbsvorteil zum Nachteil der Wirtschaftsteilnehmer eingeräumt, die den in der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Regelung festgelegten Verfahrenspflichten nachgekommen sind. Diese Steuerpflichtigen wären nämlich in der Lage, sich zu einem späteren Zeitpunkt zu entscheiden und dementsprechend – gestützt auf die konkreten Ergebnisse ihrer Tätigkeit – die Steuerregelung zu wählen, die sich als die für sie günstigste erweist.
48 Der Grundsatz der steuerlichen Neutralität lässt es insbesondere nicht zu, Steuerpflichtige, die sich in gleichartigen Situationen befinden und deshalb miteinander in Wettbewerb stehen, hinsichtlich der Mehrwertsteuer unterschiedlich zu behandeln.
49 Somit stehen der Grundsatz der steuerlichen Neutralität sowie allgemein der Grundsatz der Gleichbehandlung der Steuerpflichtigen einer nationalen Regelung nicht entgegen, die Steuerpflichtigen, die es versäumt haben, zu dem Zeitpunkt, zu dem sie die Aufnahme ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit anzeigen, eine der Steuerbefreiungsregelungen zu wählen, die Mehrwertsteuerbefreiung versagt, und zwar auch dann, wenn die Einkünfte aus ihrer Tätigkeit nicht die Obergrenze überschreiten, bis zu der die Steuerbefreiung für Kleinunternehmen gewählt werden kann.
50 Drittens ist darauf hinzuweisen, dass der Grundsatz der Rechtssicherheit von den Organen der Europäischen Union, aber auch von den Mitgliedstaaten bei der Ausübung der Befugnisse, die ihnen die Unionsrichtlinien einräumen, beachtet werden muss (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , Salomie und Oltean, C-183/14, EU:C:2015:454, Rn. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung).
51 Dieser Grundsatz verlangt, dass die steuerliche Lage des Steuerpflichtigen nicht unbegrenzt offenbleiben kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , Fatorie, C-424/12, EU:C:2014:50, Rn. 46).
52 Überdies kann es, wie in Rn. 31 des vorliegenden Urteils erwähnt, in Anbetracht dessen, dass die durch die subjektive Steuerbefreiung Begünstigten keine Mehrwertsteuer entrichten und diese somit nicht auf ihre Kunden abzuwälzen brauchen, für die Steuerverwaltungen unerlässlich sein, im Voraus zu wissen, welche Steuerpflichtigen diese Befreiungsregelung gewählt haben.
53 Folglich steht die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung mit dem Grundsatz der Rechtssicherheit in Einklang.
54 Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass das Unionsrecht dahin auszulegen ist, dass es einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, nach der es untersagt ist, eine besondere Mehrwertsteuerregelung – die eine Steuerbefreiung für Kleinunternehmen vorsieht und die gemäß den Bestimmungen von Titel XII Kapitel 1 Abschnitt 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie erlassen wurde – auf einen Steuerpflichtigen anzuwenden, der alle materiellen Voraussetzungen erfüllt, der aber von der Möglichkeit, die Anwendung dieser Regelung zu wählen, nicht zu dem Zeitpunkt Gebrauch gemacht hat, zu dem er der Steuerverwaltung die Aufnahme seiner wirtschaftlichen Tätigkeiten angezeigt hat.
Kosten
55 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Fünfte Kammer) für Recht erkannt:
Das Unionsrecht ist dahin auszulegen, dass es einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, nach der es untersagt ist, eine besondere Mehrwertsteuerregelung – die eine Steuerbefreiung für Kleinunternehmen vorsieht und die gemäß den Bestimmungen von Titel XII Kapitel 1 Abschnitt 2 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem erlassen wurde – auf einen Steuerpflichtigen anzuwenden, der alle materiellen Voraussetzungen erfüllt, der aber von der Möglichkeit, die Anwendung dieser Regelung zu wählen, nicht zu dem Zeitpunkt Gebrauch gemacht hat, zu dem er der Steuerverwaltung die Aufnahme seiner wirtschaftlichen Tätigkeiten angezeigt hat.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
ECLI Nummer:
ECLI:EU:C:2018:321
Fundstelle(n):
SAAAG-84892