Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus: Anforderungen an eine Gefährlichkeitsprognose bei Straftaten nur gegen eine bestimmte Person
Gesetze: § 20 StGB, § 21 StGB, § 63 S 1 StGB, § 224 StGB, § 261 StPO, § 267 StPO
Instanzenzug: LG Aachen Az: 96 KLs 1/16
Gründe
1Das Landgericht hat den Angeklagten der gefährlichen Körperverletzung schuldig gesprochen und seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. In den Urteilsgründen hat es von der Verhängung einer „an sich verwirkten Jugendstrafe“ gemäß § 5 Abs. 3 JGG abgesehen. Die Revision des Angeklagten, mit der er die Verletzung materiellen Rechts rügt, hat den aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Erfolg; im Übrigen erweist sie sich als unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
21. Der Senat holt den versehentlich unterbliebenen Freispruch nach, soweit die Anklage dem Angeklagten eine weitere Tat vorwirft, für die er nicht verurteilt wurde und für die das Landgericht in den Urteilsgründen zum Ausdruck gebracht hat, dass der Angeklagte insoweit freizusprechen ist.
32. Das Landgericht hat im Wesentlichen die folgenden Feststellungen und Wertungen getroffen:
4a) Der bislang nicht vorbestrafte Angeklagte begab sich am Morgen des mit einem „schweren, zwischen 1,5 und 1,8 cm breiten [...] Gegenstand“, mutmaßlich einem Wetzstein, in das Zimmer seines acht Jahre älteren Bruders, zu dem er „eine sehr gute, brüderliche und freundschaftliche Bindung“ hatte. Aufgrund seiner bestehenden Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis in Gestalt der Hebephrenie brach bei dem Angeklagten „raptusartig Aggression“ gegen seinen Bruder aus, mutmaßlich weil sein Bruder nach Bolivien reisen wollte, dessen dauerhafter Aufenthalt in Bolivien „im Raum stand“ und eine für den geplante Geburtstagsreise des Angeklagten nach M. gestrichen worden war. Der Angeklagte schlug „mehrfach - mindestens 4 Mal - mit heftigster Gewalt auf den Kopf“ seines Bruders ein, wobei er zumindest mit bedingtem Tötungsvorsatz handelte. Von weiteren Handlungen ließ er ab, obwohl er bemerkt hatte, dass sein Bruder noch lebte; „möglicherweise“ hat er „sogar selbst versucht [...], seinen Bruder zu verbinden bzw. erstzuversorgen“.
5b) Das Landgericht hat die Tat des Angeklagten als gefährliche Körperverletzung gemäß § 224 Abs. 1 Nr. 2 Var. 2 und Nr. 5 StGB gewertet; vom (unbeendeten) Versuch eines Tötungsdelikts sei der Angeklagte gemäß § 24 Abs. 1 Satz 1 Var. 1 StGB strafbefreiend zurückgetreten.
6Das sachverständig beratene Landgericht hat zum Zustand des Angeklagten festgestellt, dass er „an einer Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis in Gestalt der Hebephrenie [...], einer Störung durch Stimulanzien mit psychotischer Störung [...] sowie einem Abhängigkeitssyndrom“ leide. Deswegen sei zwar bei dem Angeklagten zum Tatzeitpunkt seine Fähigkeit, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, nicht gemäß § 20 StGB ausgeschlossen. Allerdings sei bei ihm „die Fähigkeit, nach dieser Einsicht zu handeln, erheblich vermindert im Sinne von § 21 StGB“.
73. Ausweislich der Feststellungen ist der Schuldspruch gegen den Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung revisionsrechtlich nicht zu beanstanden. Die auf die erhobene Sachrüge durchzuführende umfassende Überprüfung des Urteils zeigt keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten auf. Der Senat kann auch dem Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe noch ausreichend entnehmen, dass die Jugendkammer von einer erheblich eingeschränkten Steuerungsfähigkeit des Angeklagten ausgegangen ist.
84. Die Maßregelanordnung gemäß § 63 StGB ist hingegen rechtlich zu beanstanden. Die für eine Unterbringungsanordnung vorausgesetzte Gefahrenprognose ist nicht ausreichend begründet. Dadurch verliert auch die auf § 5 Abs. 3 JGG gestützte Entscheidung zum Absehen von der Verhängung einer Jugendstrafe ihre Grundlage.
9a) Die unbefristete Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB ist eine außerordentlich belastende Maßnahme, die einen besonders gravierenden Eingriff in die Rechte des Betroffenen darstellt. Sie darf daher nur angeordnet werden, wenn eine Wahrscheinlichkeit höheren Grades dafür besteht, der Täter werde infolge seines fortdauernden Zustands in Zukunft erhebliche rechtswidrige Taten begehen, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich erheblich geschädigt oder erheblich gefährdet werden oder schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird (§ 63 Satz 1 StGB). Diese Prognose ist auf der Grundlage einer umfassenden Würdigung der Persönlichkeit des Täters, seines Vorlebens und der von ihm begangenen Anlasstat zu entwickeln (st. Rspr.; vgl. etwa , NStZ-RR 2016, 306 mwN). Einzustellen sind die konkrete Krankheits- und Kriminalitätsentwicklung sowie die auf die Person des Angeklagten und seine konkrete Lebenssituation bezogenen Risikofaktoren, die eine individuelle krankheitsbedingte Disposition zur Begehung von Straftaten jenseits der Anlasstaten belegen können (vgl. auch , NStZ-RR 2017, 76, 77). Der Tatrichter hat die der Unterbringungsanordnung zugrunde liegenden Umstände in den Urteilsgründen so umfassend darzustellen, dass das Revisionsgericht in die Lage versetzt wird, die Entscheidung nachzuvollziehen (st. Rspr.; etwa BGH, Beschlüsse vom - 4 StR 78/16, NStZ-RR 2017, 74, 75; vom - 4 StR 419/14, NStZ 2015, 394, 395 und vom - 1 StR 265/15, NStZ-RR 2016, 76 mwN).
10b) Die knappen und damit angesichts des erheblichen Eingriffs, der mit der Unterbringung nach § 63 StGB verbunden ist, nicht mehr ausreichenden Urteilsgründe belegen nicht eine Wahrscheinlichkeit höheren Grades für die Begehung erheblicher Straftaten.
11Nach den Ausführungen des Sachverständigen, denen die Jugendkammer auch insoweit gefolgt ist, seien von dem Angeklagten auch zukünftig die Allgemeinheit gefährdende erhebliche Straftaten zu erwarten. Die Gefährlichkeit des Angeklagten für die Allgemeinheit ergebe sich aus der Anlasstat und einem weiteren Vorfall in der Psychiatrischen Klinik am , in der der Angeklagte nach seiner Festnahme untergebracht worden war.
12Diesen Darlegungen lässt sich nicht hinreichend entnehmen, mit welcher Wahrscheinlichkeit die Gefahr einer Wiederholung in der Zukunft besteht. Es ist schon nicht ausreichend mit Tatsachen belegt, dass die - nicht angeklagte - Tat vom auf der Erkrankung des Angeklagten beruht, dessen Tatmotivation und innere Tatseite zudem nicht mitgeteilt werden, sodass deren Prognoserelevanz nicht beurteilt werden kann (vgl. Senat, Beschluss vom - 2 StR 557/16, BGHR StGB § 63 Gefährlichkeit 35; , NStZ-RR 2016, 306, 307 mwN; Senat, Beschluss vom - 2 StR 296/07, StraFo 2007, 468; vgl. auch Matt/Renzikowski/Eschelbach, StGB, § 63 Rn. 33). Auch der Umstand, dass eine solche Tat während der stationären Unterbringung begangen wurde, ist im Rahmen der zu treffenden Gefährlichkeitsprognose einzustellen (vgl. auch Senat, Beschluss vom - 2 StR 297/14, BGHR StGB § 63 Gefährlichkeit 33 mwN).
13Zudem hat das Landgericht die bisherige Unbestraftheit des Angeklagten in den Urteilsgründen nicht erkennbar berücksichtigt und auch nicht festgestellt, dass früheres Verhalten des Angeklagten gegenüber Mitschülern auf seiner Erkrankung beruht.
14Schließlich hätte die Jugendkammer auch in ihre Erwägungen einbeziehen müssen, dass die Motivation zur Anlasstat wesentlich in konstellativen Faktoren zu sehen sein könnte, die dem persönlichen Lebensbereich des Angeklagten vor dem Hintergrund der besonderen Beziehung zu seinem Bruder zuzuordnen sind. Auch die Feststellungen, von weiteren Handlungen habe er abgelassen, obwohl er bemerkt hatte, dass sein Bruder noch lebte und „möglicherweise“ habe er „sogar selbst versucht [...], seinen Bruder zu verbinden bzw. erstzuversorgen“, sind in eine umfassende Würdigung einzustellen. Wenn sich Straftaten, aufgrund derer die Unterbringung angeordnet wird, nur gegen eine bestimmte Person richten oder in der Beziehung zu dieser Person ihre Ursache haben, bedarf die Annahme, dass der Täter für die Allgemeinheit gefährlich ist, genauer Prüfung und Darlegung aufgrund konkreter tatsächlicher Feststellungen (vgl. , BeckRS 2017, 127903 mwN; Senat, Urteil vom - 2 StR 393/14, NStZ-RR 2015, 306 f.); insoweit genügt die bloße Wiederholungsmöglichkeit ebenso wenig wie eine nur latente Gefahr weiterer Straftaten (vgl. auch , insoweit nicht abgedruckt in NStZ 2010, 384, 385).
15c) Mit Blick auf den schwerwiegenden Eingriff der mit der - grundsätzlich unbefristeten - Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus verbunden ist, kann auch dann nicht auf eine sorgfältige Prüfung und Darlegung aller Unterbringungsvoraussetzungen verzichtet werden, wenn bei dem Betroffenen - wie hier dem Angeklagten - ein „schwergradiger Störungskomplex“ besteht, der die Gefahr der Begehung erheblicher Straftaten nicht fernliegend erscheinen lässt.
16Die Aufhebung des Maßregelausspruchs hat aufgrund des bestehenden inneren Zusammenhangs auch die Aufhebung der Entscheidung nach § 5 Abs. 3 JGG zur Folge. Der Umstand, dass nur der Angeklagte Revision eingelegt hat, steht dem nicht entgegen. Wird die Anordnung einer Unterbringung nach § 63 StGB allein auf eine Revision des Angeklagten hin aufgehoben, hindert das Schlechterstellungsverbot den neuen Tatrichter nicht daran, an Stelle der Unterbringung eine Strafe zu verhängen (§ 358 Abs. 2 Satz 2 StPO). Dies gilt nach § 2 Abs. 2 JGG auch im Jugendverfahren (vgl. auch , BGHR JGG § 5 Abs 3 Absehen 3).
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2018:100118U2STR525.16.0
Fundstelle(n):
KAAAG-84231