BVerfG Urteil v. - 2 BvR 2601/17

Teilweise stattgebender Kammerbeschluss: Rechtsschutzinteresse für weitere Beschwerde gem § 310 Abs 1 Nr 1 StPO auch gegen einen zwischenzeitlich gegenstandslos gewordenen Sitzungshaftbefehl (§ 230 Abs 2 StPO) gegeben - hier: Verletzung der Rechtsschutzgarantie (Art 19 Abs 4 GG) - Gegenstandswertfestsetzung

Gesetze: Art 19 Abs 4 S 1 GG, § 93c Abs 1 S 1 BVerfGG, § 14 Abs 1 RVG, § 37 Abs 2 RVG, § 230 Abs 2 StPO, § 310 Abs 1 Nr 1 StPO

Instanzenzug: Az: 1 Ws 928/17 Beschluss

Gründe

A.

1Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Frage, ob Art. 19 Abs. 4 GG das Rechtsmittel der weiteren Beschwerde gemäß § 310 Abs. 1 Nr. 1 StPO auch in Bezug auf einen zwischen Erhebung und Entscheidung über das Rechtsmittel gegenstandslos gewordenen Sitzungshaftbefehl gewährleistet.

I.

2Der am geborene und zum Tatzeitpunkt minderjährige Beschwerdeführer wurde mit Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Memmingen vom zum Amtsgericht Neu-Ulm - Jugendrichter - wegen des vorsätzlichen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in 58 tatmehrheitlichen Fällen im Zeitraum vom bis zum angeklagt.

3Das Amtsgericht Neu-Ulm ließ mit Beschluss vom die Anklage zur Hauptverhandlung zu und eröffnete das Hauptverfahren vor dem Jugendrichter. Termin zur Hauptverhandlung wurde auf den bestimmt. Der Beschwerdeführer wurde mit Datum vom zum Termin geladen.

4Mit Schriftsatz vom bestellte sich Rechtsanwalt G. unter Vorlage einer Vollmacht als Verteidiger des Beschwerdeführers und beantragte Akteneinsicht. Am lud das Amtsgericht den Verteidiger zum Hauptverhandlungstermin am und wies ihn darauf hin, dass die Akte per Post zur Einsicht übersandt wurde und zudem auf der Geschäftsstelle zur Einsicht bereitliege.

5Mit Schriftsatz vom beantragte der Verteidiger die Verlegung des Hauptverhandlungstermins. Er befinde sich vom bis einschließlich zum in seinem Jahresurlaub im Ausland.

6Mit Schriftsatz vom behauptete der Verteidiger unzutreffend, der Beschwerdeführer befinde sich bereits im Auslandsurlaub. Zudem habe er die Akten bislang nicht erhalten und eine Einarbeitung in die Sache habe daher noch nicht erfolgen können. Die bis zum Termin zur Verfügung stehende Zeit reiche für eine hinreichende Vorbereitung nicht mehr aus. Der Termin sei daher aufzuheben.

7Das Amtsgericht lehnte den Terminverlegungsantrag vom mit Beschluss vom ab. Die Mandatierung eines am bereits bestimmten Termin verhinderten Verteidigers rechtfertige die Verlegung eines Termins nicht. Eine solche Verlegung würde überdies dem "besonderen Beschleunigungsgebot" in Jugendsachen nicht ausreichend Rechnung tragen.

8Gegen diesen Beschluss wandte sich der Verteidiger des Beschwerdeführers mit seiner Beschwerdeschrift vom . Er trug vor, der Beschwerdeführer und er würden sich am jeweils im Urlaub befinden. Zudem habe er erst am Tag der Abfassung der Beschwerdeschrift Akteneinsicht erhalten. Die verbleibende Zeit sei zur Vorbereitung des Termins nicht mehr ausreichend. Er bat darum, von dem Erlass eines Haftbefehls nach § 230 Abs. 2 StPO abzusehen.

9Am begab sich der Beschwerdeführer in seinen Urlaub in die Türkei.

10Zum Hauptverhandlungstermin am erschienen weder der Beschwerdeführer noch sein Verteidiger. Das Amtsgericht half der Beschwerde vom nicht ab und erließ auf Antrag der Staatsanwaltschaft gegen den Beschwerdeführer den angegriffenen Haftbefehl gemäß § 230 Abs. 2 StPO - 1 Ds 229 Js 1684/17 jug -.

11Die Beschwerde vom wurde mit Beschluss des Landgerichts Memmingen vom als unzulässig verworfen.

12Nach Beendigung seines Urlaubs am und seiner Rückkehr nach Deutschland wurde der Beschwerdeführer am festgenommen. Er wurde am selben Tag dem zuständigen Jugendrichter vorgeführt, der ihm den Haftbefehl eröffnete und diesen in Vollzug setzte.

13Bei der Eröffnung des Haftbefehls gab der Beschwerdeführer an, er sei am mit seinen Eltern "mit dem Auto" in den Urlaub in die Türkei gefahren und "mit einem Bus" ohne diese zurückgereist. Der Urlaub sei schon vor Zugang der Ladung gebucht gewesen, und er sei davon ausgegangen, der Hauptverhandlungstermin finde nicht statt, weil sein Verteidiger urlaubsbedingt verhindert gewesen sei. Ein späterer Urlaubsbeginn sei nicht möglich gewesen, da verabredet gewesen sei, am zu fahren.

14Das Amtsgericht bestimmte neuen Termin zur Hauptverhandlung auf den .

15Mit Schriftsatz vom erhob der Verteidiger Beschwerde gegen den Haftbefehl. Der Haftbefehl sei unverhältnismäßig, weil eine Vorführung als weniger einschneidende Maßnahme hätte angeordnet werden können. Darüber hinaus sei das Ausbleiben im Termin vom entschuldigt gewesen.

16Mit Schriftsatz vom ergänzte ein weiterer Verteidiger des Beschwerdeführers, Rechtsanwalt M., die Beschwerdebegründung vom . Er wandte insbesondere ein, die Dauer der bis zum Hauptverhandlungstermin am bevorstehenden Inhaftierung sei verfassungswidrig.

17Das Amtsgericht half der Beschwerde vom mit Beschluss vom nicht ab.

18Das Landgericht Memmingen verwarf die Beschwerde vom mit Beschluss vom als unbegründet. Es führte aus, der Beschwerdeführer sei dem Termin zur Hauptverhandlung am unentschuldigt ferngeblieben. Er habe auf die Verlegung des Termins nicht vertrauen dürfen. Es erschließe sich auch nicht, weshalb der Beschwerdeführer am - und damit einen Tag vor dem Hauptverhandlungstermin - in die Türkei gereist sei und seinen Urlaubsantritt nicht um einen Tag auf einen Zeitpunkt nach der Hauptverhandlung verschoben habe. Er hätte notfalls mit einem Bus reisen können. Auf diesem Wege sei er schließlich auch zurückgekehrt. Das Amtsgericht sei nicht gehalten gewesen, zunächst einen "Vorführungsbefehl" zu erlassen. Ein solcher wäre nicht geeignet gewesen, die Durchführung der Hauptverhandlung zu sichern. Dies gelte zunächst für den Hauptverhandlungstermin am , weil aufgrund der Darstellung des Verteidigers G. mit Schriftsatz vom das Gericht habe annehmen müssen, der Beschwerdeführer befinde sich bereits nicht mehr in Deutschland. Nach dem Ausbleiben des Beschwerdeführers im Termin vom sei das Amtsgericht nicht gehalten gewesen, einen neuen Termin zu bestimmen und diesen mittels einer Vorführung zu sichern. Dem Amtsgericht hätten zur Dauer des Auslandsaufenthalts keine verlässlichen Informationen vorgelegen. Zudem habe das Amtsgericht in den Blick nehmen müssen, dass der Beschwerdeführer sich nach der Auskunft seines Vaters aufgrund seiner Ausbildung "immer wieder mal für mehrere Wochen außer Haus" befinde. Ferner sei der Beschwerdeführer umgezogen, ohne sich umzumelden. Die Anordnung der Sicherungshaft sei auch nicht unverhältnismäßig. Das Amtsgericht habe den neuen Termin zur Hauptverhandlung bereits auf den bestimmt. Eine frühere Terminierung auf den sei an einer Verhinderung der Verteidigung gescheitert.

19Der Verteidiger des Beschwerdeführers wandte sich unter dem mit der weiteren Beschwerde gegen den vorgenannten Beschluss des Landgerichts Memmingen. Er trug vor, der Erlass des Haftbefehls sei unverhältnismäßig und der Angeklagte am ausreichend entschuldigt gewesen. Zudem sei die Invollzugsetzung des Haftbefehls am unverhältnismäßig gewesen, weil sich der Beschwerdeführer zu diesem Zeitpunkt wieder in Deutschland befunden habe, seiner beruflichen Tätigkeit nachgegangen sei und weitere Auslandsaufenthalte oder Ortsabwesenheiten in nächster Zeit nicht zu erwarten gewesen seien.

20Am verurteilte das Amtsgericht Neu-Ulm - Jugendrichter - den Beschwerdeführer wegen des vorsätzlichen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in 20 Fällen. Ihm wurde auferlegt, 500 Euro an die "F. e.V." zu zahlen und binnen eines halben Jahres an sechs Drogenberatungsgesprächen teilzunehmen. In den Urteilsgründen heißt es, der Beschwerdeführer befinde sich seit dem "in Untersuchungshaft", die jedoch nicht auf die Geldauflage anzurechnen sei. Das Amtsgericht hob den Haftbefehl vom auf, weil ein Haftgrund nicht mehr bestehe. Der Beschwerdeführer wurde aus der Haft entlassen.

21Am beschloss das Landgericht Memmingen, der weiteren Beschwerde vom nicht abzuhelfen. Der Haftbefehl sei mit der Durchführung der Hauptverhandlung gegenstandslos geworden. Ein Rechtsschutzbedürfnis für eine Beschwerde bestehe nicht mehr, weil der Haftbefehl erst nach der Entscheidung des erstinstanzlichen Beschwerdegerichts aufgehoben worden sei und dieses bereits über die Rechtmäßigkeit der Haft entschieden habe. Ein weiterer Instanzenzug sei in diesem Fall im Hinblick auf die begrenzten Ressourcen der Justiz verfassungsrechtlich nicht geboten.

22Mit Schreiben vom beantragte der Generalstaatsanwalt in München festzustellen, dass eine Entscheidung über die weitere Beschwerde nicht mehr veranlasst sei. Mit der Entlassung sei die rein verfahrenssichernde Verhaftung erledigt und die weitere Beschwerde mithin gegenstandslos.

23Mit Beschluss vom stellte das Oberlandesgericht München fest, die weitere Beschwerde vom gegen den Beschluss des Landgerichts Memmingen vom habe sich erledigt. Das Oberlandesgericht führte zur Begründung aus:

"Die weitere Beschwerde […] wurde zulässig eingelegt.

[…]

Der Haftbefehl nach § 230 Abs. 2 StPO dient allerdings nur der Sicherung der Durchführung der Hauptverhandlung, er wirkt daher nur bis zu deren Ende. Mit dem Ende der Hauptverhandlung wird er gegenstandlos. Vorliegend hat das Amtsgericht Neu-Ulm - Jugendrichter - den Haftbefehl vom zusätzlich - deklaratorisch - aufgehoben.

Infolge des Umstands, dass der Haftbefehl seit nicht mehr besteht, ist hinsichtlich der weiteren Beschwerde vom prozessuale Überholung eingetreten, weswegen sich das Rechtsmittel erledigt hat."

II.

24Mit der am erhobenen und am beim Bundesverfassungsgericht eingegangenen Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer, sowohl der als auch der Haftbefehl des Amtsgerichts Neu-Ulm vom verletzten sein Grundrecht auf Freiheit der Person aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG.

251. Die Verfassungsbeschwerde gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts München sei zulässig. Insbesondere sei die Beschwerdefrist des § 93 Abs. 1 BVerfGG noch nicht abgelaufen, da die angegriffene Entscheidung dem Verfahrensbevollmächtigten des Beschwerdeführers am zugegangen sei. Die Verfassungsbeschwerde sei auch begründet, da das Oberlandesgericht verkannt habe, dass dem Beschwerdeführer trotz Erledigung des Haftbefehls ein Rechtsschutzbedürfnis an dessen fachgerichtlicher Prüfung zugekommen sei. Das Oberlandesgericht habe sich mit der Rechtmäßigkeit des Haftbefehls auseinandersetzen müssen.

262. Die Verfassungsbeschwerde sei auch im Übrigen zulässig und begründet. Der Haftbefehl des Amtsgerichts Neu-Ulm vom könne unter Berücksichtigung der Bedeutung und Tragweite des Grundrechts auf Freiheit der Person des Beschwerdeführers keinen Bestand haben. Es unterliege schon Bedenken, ob der Beschwerdeführer der Hauptverhandlung am unentschuldigt ferngeblieben sei. Der Beschwerdeführer habe sich in der üblichen Sommerferienzeit im lang geplanten Sommerurlaub mit seinen Eltern befunden und darauf vertraut, dass der beauftragte Verteidiger die Terminverlegung "schon regeln werde". Darauf komme es jedoch gar nicht an, da jedenfalls die Invollzugsetzung des Haftbefehls am unverhältnismäßig gewesen sei. Zu diesem Zeitpunkt sei allenfalls der Erlass eines Vorführbefehls in Betracht gekommen. Unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls sei auch die Länge der Haft vom 30. August bis zum Hauptverhandlungstermin am unverhältnismäßig gewesen. Es sei zudem zu berücksichtigen, dass dieser Termin nur wegen eines Urlaubs des Richters auf einen so späten Zeitpunkt bestimmt worden sei.

III.

271. Nach Auffassung des Generalbundesanwalts muss die zulässig erhobene Verfassungsbeschwerde in der Sache teilweise Erfolg haben. Der verletze den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz nach Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG. Zwar rüge der Beschwerdeführer ausdrücklich nur einen Verstoß gegen Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG. Das hindere jedoch nicht eine Prüfung des angegriffenen Beschlusses auch am Maßstab des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG. Eine ausdrückliche Benennung des als verletzt gerügten Grundrechtsartikels verlangten § 23 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 1, § 92 BVerfGG nicht (BVerfGE 47, 182 <187>; 85, 214 <217>; 91, 176 <181>; BVerfGK 4, 261 <264>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom - 2 BvR 598/93 -, NJW 1995, S. 2279 <2279 f.>). Der Beschwerdeführer habe den maßgeblichen Sachverhalt vorgetragen und insbesondere gerügt, das Oberlandesgericht München habe verkannt, dass dem Beschwerdeführer trotz Erledigung des Haftbefehls ein Rechtsschutzbedürfnis an dessen fachgerichtlicher Prüfung zukomme, und sich zudem mit der Rechtmäßigkeit des Sitzungshaftbefehls nicht auseinandergesetzt. Damit habe er auch einen Verstoß gegen Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG hinreichend dargelegt und dem Begründungserfordernis aus § 23 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 1, § 92 BVerfGG genügt. In Bezug auf den gerügten Haftbefehl des Amtsgerichts Neu-Ulm vom sei die Verfassungsbeschwerde wegen des Grundsatzes der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde hingegen unzulässig, da eine abschließende Sachprüfung durch das Oberlandesgericht München noch nicht stattgefunden habe.

282. Das Bayerische Staatsministerium der Justiz hat von einer Stellungnahme zu dem Verfahren abgesehen.

293. Dem Bundesverfassungsgericht haben die Akten des Ausgangsverfahrens (Stand: ) vorgelegen.

B.

30Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang zur Entscheidung an und gibt ihr nach § 93c Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG statt. Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist zur Durchsetzung des Grundrechts des Beschwerdeführers aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG angezeigt (§ 93a Abs. 2 Buchst. b BVerfGG). Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich überwiegend begründet. Die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen sind durch das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).

I.

31Der die weitere Beschwerde vom gegen den Beschluss der Beschwerdekammer des Landgerichts Memmingen vom habe sich erledigt, verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz gemäß Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG.

321. Art. 19 Abs. 4 GG enthält ein Grundrecht auf effektiven und möglichst lückenlosen richterlichen Rechtsschutz gegen Akte der öffentlichen Gewalt (vgl. BVerfGE 8, 274 <326>; 67, 43 <58>; 96, 27 <39>; 104, 220 <231>). Die in Art. 19 Abs. 4 GG verbürgte Effektivität des Rechtsschutzes wird in erster Linie von den Prozessordnungen gesichert. Diese treffen Vorkehrungen dafür, dass der Einzelne seine Rechte tatsächlich wirksam durchsetzen kann und die Folgen staatlicher Eingriffe im Regelfall nicht ohne gerichtliche Prüfung zu tragen hat (vgl. BVerfGE 94, 166 <213>; 96, 27 <39>; 104, 220 <231>). Dabei fordert Art. 19 Abs. 4 GG zwar keinen Instanzenzug (vgl. BVerfGE 49, 329 <343>; 83, 24 <31>; 87, 48 <61>; 92, 365 <410>; 96, 27 <39>; 104, 220 <231>). Eröffnet das Prozessrecht aber eine weitere Instanz, so gewährleistet Art. 19 Abs. 4 GG in diesem Rahmen die Effektivität des Rechtsschutzes im Sinne eines Anspruchs auf eine wirksame gerichtliche Kontrolle (vgl. BVerfGE 40, 272 <274 f.>; 54, 94 <96 f.>; 65, 76 <90>; 96, 27 <39>; 104, 220 <232>). Das Rechtsmittelgericht darf ein von der jeweiligen Prozessordnung eröffnetes Rechtsmittel daher nicht ineffektiv machen und für den Beschwerdeführer "leerlaufen" lassen (vgl. BVerfGE 78, 88 <98 f.>; 96, 27 <39>; 104, 220 <232>; BVerfGK 6, 303 <308>). Hiervon muss sich das Rechtsmittelgericht bei der Antwort auf die Frage leiten lassen, ob im jeweiligen Einzelfall für ein nach der Prozessordnung statthaftes Rechtsmittel ein Rechtsschutzinteresse besteht (BVerfGK 6, 303 <308>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom - 2 BvR 77/16 -, juris, Rn. 33; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom - 2 BvR 1071/15 -, juris, Rn. 21).

33a) Mit der durch Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG sowie durch Art. 20 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 2 Abs. 1 GG verbürgten Effektivität des Rechtsschutzes ist es grundsätzlich vereinbar, ein Rechtsschutzinteresse nur solange als gegeben anzusehen, wie eine gegenwärtige Beschwer ausgeräumt, einer Wiederholungsgefahr begegnet oder eine fortwirkende Beeinträchtigung beseitigt werden kann (BVerfGK 6, 303 <308>). Darüber hinaus kann aber ein Feststellungsinteresse vor allem bei schwerwiegenden, tatsächlich aber nicht mehr fortwirkenden Grundrechtseingriffen fortbestehen (BVerfGK 6, 303 <308>). Solche kommen vor allem bei Anordnungen in Betracht, die das Grundgesetz - wie in den Fällen des Art. 13 Abs. 2 GG und Art. 104 Abs. 2 und 3 GG - vorbeugend dem Richter vorbehalten hat, so dass ein Feststellungsinteresse wegen des Eingriffs in das Freiheitsgrundrecht auch bei der unter Beachtung der Unschuldsvermutung vollzogenen Untersuchungshaft zu bejahen ist (vgl. BVerfGE 9, 89 <93>; 53, 152 <157 f.>; BVerfGK 6, 303 <308 f.>). In der Sache nichts anderes gilt für einen Sitzungshaftbefehl nach § 230 Abs. 2 StPO (BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom - 2 BvR 473/06 -, juris, Rn. 17; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom - 2 BvR 1071/15 -, juris, Rn. 22). Auf diese Weise stehen Anordnungen einer Freiheitsentziehung (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG, Art. 104 Abs. 2 und 3 GG) einer gerichtlichen und verfassungsgerichtlichen Überprüfung offen, auch wenn die angeordnete Maßnahme inzwischen durchgeführt und beendet ist (vgl. BVerfGE 96, 27 <40>; 104, 220 <233>; BVerfGK 6, 303 <309>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom - 2 BvR 77/16 -, juris, Rn. 34; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom - 2 BvR 1071/15 -, juris, Rn. 22).

34b) Während früher generell eine nachträgliche gerichtliche Klärung schwerwiegender Grundrechtseingriffe davon abhängig gemacht wurde, dass deren direkte Belastung sich typischerweise auf eine Zeitspanne beschränkt, in der der Betroffene die gerichtliche Entscheidung in dem von der maßgeblichen Prozessordnung vorgesehenen Verfahren kaum erlangen kann (vgl. BVerfGE 96, 27 <39 f.>; 110, 77 <85 f.>), hängt nach der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die Gewährung von Rechtsschutz im Hinblick auf das bei Freiheitsentziehungen bestehende Rehabilitierungsinteresse weder vom konkreten Ablauf des Verfahrens und dem Zeitpunkt der Erledigung der Maßnahme noch davon ab, ob Rechtsschutz typischerweise noch vor Beendigung der Haft erlangt werden kann (vgl. BVerfGE 104, 220 <235>; BVerfGK 6, 303 <309>). Dies gilt sowohl für den Fall der strafrechtlichen Untersuchungshaft (vgl. BVerfGK 6, 303 <309>) als auch für die Konstellation eines Sitzungshaftbefehls (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom - 2 BvR 473/06 -, juris, Rn. 17; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom - 2 BvR 1071/15 -, juris). Die Beschwerde darf in solchen Fällen nicht wegen prozessualer Überholung als unzulässig verworfen werden; vielmehr ist die Rechtmäßigkeit der zwischenzeitlich erledigten Maßnahme zu prüfen und gegebenenfalls deren Rechtswidrigkeit festzustellen (vgl. BVerfGE 96, 27 <41 f.>; 104, 220 <235 f.>; BVerfGK 6, 303 <309>; -, juris; OLG Celle, Beschluss vom - 2 Ws 39/03 -, juris; -, StV 2006, S. 317; OLG Braunschweig, Beschluss vom - Ws 162/12 -, juris; -, juris). Besteht bei Freiheitsentziehungen durch Haft ein schutzwürdiges Interesse an der (nachträglichen) Feststellung ihrer Rechtswidrigkeit auch dann, wenn sie erledigt sind, so müssen die Fachgerichte dies bei der Beantwortung der Frage nach einem Rechtsschutzinteresse gemäß Art. 19 Abs. 4 GG beachten (BVerfGE 104, 220 <235 f.>). Insoweit kann dem Beschwerdeführer ein "subsidiärer" Charakter des Feststellungsbegehrens nicht entgegengehalten werden.

352. Diesen Maßstäben wird der angegriffene Beschluss des Oberlandesgerichts München nicht gerecht.

36a) Die Vorschrift des § 310 Abs. 1 Nr. 1 StPO eröffnet für den Fall der "Verhaftung" eine weitere fachgerichtliche Überprüfungsinstanz. Gegen die Anordnung und Aufrechterhaltung einer Freiheitsentziehung statthafte Rechtsbehelfe dürfen nicht durch eine zu enge Anwendung der einschlägigen prozessualen Regeln "leerlaufen"; auch mit Rücksicht auf die Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde haben die Fachgerichte die zuvörderst ihnen übertragene Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes sicherzustellen (vgl. BVerfGK 6, 303 <314 f.>). Eine Auslegung des § 310 Abs. 1 Nr. 1 StPO, wonach die weitere Beschwerde nach Aufhebung des Haftbefehls nicht mehr zulässig ist, genügt diesen aus Art. 19 Abs. 4 GG folgenden Anforderungen an die Ausgestaltung des Rechtsschutzes nicht (BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom - 2 BvR 77/16 -, juris, Rn. 37; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom - 2 BvR 1071/15 -, juris, Rn. 25). Nichts anderes gilt für den Fall, dass eine Sachentscheidung über die zulässig erhobene weitere Beschwerde deshalb unterbleibt, weil das zur Entscheidung berufene Gericht infolge prozessualer Überholung von deren Erledigung ausgeht.

37b) Eine nachträgliche gerichtliche Klärung schwerwiegender Grundrechtseingriffe - insbesondere des Rechts auf Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG i.V.m. Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG) - darf nicht davon abhängig sein, ob deren direkte Belastung sich typischerweise auf eine Zeitspanne beschränkt, in der der Betroffene die gerichtliche Entscheidung in dem von der maßgeblichen Prozessordnung vorgesehenen Verfahren kaum erlangen kann. Die zwischenzeitliche Aufhebung des Haftbefehls und die Freilassung des Beschwerdeführers führen angesichts der Schwere der Grundrechtsbeeinträchtigung für sich allein nicht dazu, dass sein Interesse an gerichtlichem Rechtsschutz hinter dem bei einer weiteren Inhaftierung gebotenen zurückbleibt oder gänzlich entfällt. Das ursprüngliche Interesse an gerichtlichem Schutz gegen den vollzogenen Haftbefehl wandelt sich vielmehr in ein Feststellungsinteresse hinsichtlich der Rechtmäßigkeit der Inhaftierung (vgl. BVerfGK 6, 303 <308 ff.>). Die Gewährung von Rechtsschutz und die Eröffnung des nach der Prozessordnung dafür vorgesehenen Instanzenzuges hängen insbesondere nicht vom Zeitpunkt der Erledigung der Maßnahme ab (vgl. BVerfGK 6, 303 <309>). Gilt dies für den Fall der Erhebung der weiteren Beschwerde erst nach Aufhebung des Haftbefehls und Freilassung (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom - 2 BvR 77/16 -, juris; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom - 2 BvR 1071/15 -, juris), ist dies erst recht dann anzunehmen, wenn - wie hier - die weitere Beschwerde sogar noch vor Aufhebung des Haftbefehls und Freilassung erhoben wurde.

38c) Unerheblich ist ferner, dass dem Beschwerdeführer im Rahmen seiner Beschwerde bereits Rechtsschutz vor dem Landgericht Memmingen gewährt worden ist. Vor der Aufhebung des Haftbefehls und der Freilassung wäre ein Rechtsschutzinteresse des Beschwerdeführers auch für die weitere Beschwerde zu bejahen gewesen. Dieses Rechtsschutzinteresse ist - wie ausgeführt - nicht entfallen, sondern besteht nach Aufhebung des Haftbefehls und Freilassung des Beschwerdeführers als Feststellungsinteresse fort (BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom - 2 BvR 77/16 -, juris, Rn. 38; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom - 2 BvR 1071/15 -, juris, Rn. 26).

39d) Der Begriff der "Verhaftung" in § 310 Abs. 1 Nr. 1 StPO ist bei Beachtung der norminternen Direktiven von Art. 19 Abs. 4 GG mithin dahin zu verstehen, dass auch nach Aufhebung des Haftbefehls und Freilassung des Beschwerdeführers eine Rechtmäßigkeitsprüfung im fachgerichtlichen Instanzenzug möglich bleiben muss. Einem solchen Verständnis stehen weder der Wortlaut des § 310 Abs. 1 StPO noch der Umstand entgegen, dass die weitere Beschwerde auf die in § 310 Abs. 1 StPO enumerativ aufgezählten Fälle (vgl. BVerfGE 48, 367 <376>) - wie hier den der "Verhaftung" - beschränkt bleibt. Diese Interpretation des § 310 Abs. 1 Nr. 1 StPO entspricht zudem der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. BVerfGK 6, 303 <314 f.> für den Fall der Untersuchungshaft; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom - 2 BvR 473/06 -, juris, Rn. 9 und 17 für den Fall eines Sitzungshaftbefehls). Die genannten Entscheidungen betreffen im Übrigen nicht lediglich eine von den Fachgerichten zu beantwortende Frage der Auslegung von § 310 Abs. 1 Nr. 1 StPO, sondern statuieren aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG folgende Anforderungen an die Ausgestaltung des Rechtsschutzes für den Fall eines aufgehobenen Haftbefehls. Der Umstand, dass es sich bei der weiteren Beschwerde um ein nicht fristgebundenes Rechtsmittel handelt, das die Möglichkeit eines taktischen Einsatzes eröffnet, führt ebenfalls zu keiner anderen Beurteilung. Ungeachtet dessen, dass eine solche Fallkonstellation vorliegend nicht gegeben ist, wäre ein (rein) taktischer Einsatz des Rechtsmittels ein bei der einzelfallbezogenen Prüfung des Feststellungsinteresses heranzuziehender Umstand. Aus diesem Gesichtspunkt können indes keine Rückschlüsse auf die von Art. 19 Abs. 4 GG gewährleisteten generellen Anforderungen an die Ausgestaltung des Rechtsschutzes gezogen werden (BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom - 2 BvR 77/16 -, juris, Rn. 39; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom - 2 BvR 1071/15 -, juris, Rn. 27).

II.

40Es ist daher gemäß § 95 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG festzustellen, dass der angegriffene den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG verletzt. Der angegriffene Beschluss ist unter Zurückverweisung der Sache aufzuheben (§ 93c Abs. 2 i.V.m. § 95 Abs. 2 BVerfGG). Das Oberlandesgericht München wird unter Beachtung der dargelegten verfassungsrechtlichen Anforderungen erneut zu prüfen haben, ob die weitere Beschwerde vom zulässig und begründet ist.

III.

41Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen. Sie ist insoweit bereits unzulässig. Eine - über die behauptete Verletzung von Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG hinausgehende - verfassungsgerichtliche Sachprüfung widerspräche dem Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde, weil eine abschließende fachgerichtliche Prüfung des angegriffenen Haftbefehls des Amtsgerichts Neu-Ulm vom bislang - entgegen den Vorgaben von Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG - nicht erfolgt ist. Von einer weiteren Begründung wird abgesehen (§ 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG).

IV.

42Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 und 3 BVerfGG.

V.

43Der nach § 37 Abs. 2 RVG festzusetzende Gegenstandswert für die anwaltliche Tätigkeit im Verfassungsbeschwerdeverfahren ist unter Berücksichtigung der in § 14 Abs. 1 RVG genannten Umstände nach billigem Ermessen zu bestimmen und beträgt mindestens 5.000 Euro. Er liegt höher, wenn der Verfassungsbeschwerde aufgrund einer Entscheidung der Kammer stattgegeben wird. Im Hinblick auf die objektive Bedeutung der Sache ist ein Gegenstandswert von 10.000 Euro angemessen.

44Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:


ECLI Nummer:
ECLI:DE:BVerfG:2018:rk20180411.2bvr260117

Fundstelle(n):
NJW 2018 S. 2469 Nr. 34
BAAAG-82144