BGH Beschluss v. - 2 StR 428/16

Ausschluss der Öffentlichkeit bei Vernehmung einer Beweisperson: Erstreckung des Ausschlusses auf damit zusammenhängende Verfahrensvorgänge; Beweiskraft des Protokolls für die Wiederherstellung der Öffentlichkeit

Gesetze: § 274 StPO, § 338 Nr 6 StPO, § 171b Abs 1 S 1 GVG

Instanzenzug: LG Gießen Az: 604 Js 29806/15 - 1 KLs

Gründe

1Das Landgericht hat den Angeklagten wegen „sexuellen Missbrauchs eines Kindes in 108 Fällen sowie wegen schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes in 346 Fällen“ zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von elf Jahren verurteilt. Hiergegen richtet sich seine auf die Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützte Revision.

2Das Rechtsmittel hat mit der auf den absoluten Revisionsgrund des § 338 Nr. 6 StPO gestützten Verfahrensrüge Erfolg.

31. Das Landgericht hat im Hauptverhandlungstermin vom beschlossen, während der Erstattung des Gutachtens des psychiatrischen Sachverständigen und seiner Erörterung gemäß § 171b Abs. 1 Satz 1 GVG die Öffentlichkeit auszuschließen. Nach Verkündung des Beschlusses hat die Kammer den Sachverständigen belehrt und - noch vor Erstattung des Gutachtens - mit dem Angeklagten und den Verfahrensbeteiligten zwei Lichtbildmappen in Augenschein genommen. Diese enthielten auf 77 Seiten 183 Lichtbilder von der Wohnung des Angeklagten und verfahrensrelevanten Gegenständen, u.a. kindliche Zeichnungen und Liebesbriefe (wohl von der Geschädigten) an den Angeklagten, die im Rahmen der Wohnungsdurchsuchung sichergestellt worden waren. Nach zehnminütiger Unterbrechung der Hauptverhandlung hat der Sachverständige sein Gutachten erstattet und als Zeuge ausgesagt. Anschließend hat sich der Angeklagte zur Sache geäußert. Nach der Anordnung, den Sachverständigen unvereidigt zu lassen und zu entlassen, hat der Vorsitzende verfügt, die Hauptverhandlung zu unterbrechen und am fortzusetzen. Das Protokoll vermerkt nicht, dass die Öffentlichkeit vor der Inaugenscheinnahme der Lichtbilder, vor der Äußerung des Angeklagten zur Sache und vor der Verfügung des Fortsetzungstermins wiederhergestellt worden ist.

4Die Wiederherstellung der Öffentlichkeit gehört jedoch zu den wesentlichen Förmlichkeiten, für welche die besondere Beweiskraft des Protokolls nach § 274 StPO gilt (vgl. , BGHR StPO § 274 Beweiskraft 15; , bei Becker NStZ-RR 2001, 264 Nr. 26 jeweils mwN). Das - weder lückenhafte noch widersprüchliche - Protokoll beweist daher, dass die an die genannten Verfahrensvorgänge jeweils anschließende weitere Hauptverhandlung - wie von der Revision geltend gemacht - in Abwesenheit der Öffentlichkeit stattgefunden hat.

52. Während für die Anberaumung des Fortsetzungstermins die Öffentlichkeit nicht wiederhergestellt werden musste (vgl. , NStZ 2006, 117), liegt in der Nichtwiederherstellung der Öffentlichkeit vor Einnahme des Augenscheins und Äußerung des Angeklagten jeweils ein Verstoß gegen die Vorschriften über die Öffentlichkeit.

6Zwar deckt der Beschluss über den Ausschluss der Öffentlichkeit für den Zeitraum der Vernehmung einer Beweisperson auch die im Zusammenhang mit dieser in unmittelbarem Zusammenhang stehenden oder sich aus ihr entwickelnden Verfahrensvorgänge ab (vgl. , NStZ 2016, 118 mit Anm. Bittmann; Urteile vom - 4 StR 614/87, NStZ 1988, 190 zur Augenscheinseinnahme; vom - 1 StR 64/03, BGHSt 48, 268 zur Entlassung eines Zeugen; vom - 3 StR 214/05, NStZ 2006, 117 zu Erklärungen des Angeklagten nach § 257 StPO).

7Die in Augenschein genommenen Lichtbilder hatten jedoch ersichtlich keinen Bezug zum Inhalt des erstatteten Gutachtens und zu den zeugenschaftlichen Bekundungen des Sachverständigen. Auch erfolgte die Inaugenscheinnahme ausweislich des Protokolls „mit dem Angeklagten und den übrigen Verfahrensbeteiligten“, zu denen der Sachverständige nach seiner prozessualen Funktion als persönliches Beweismittel begrifflich nicht gehört (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 60. Aufl., Einl. Rn. 75, 100).

8Auch die Äußerungen des Angeklagten standen in keinem unmittelbaren Zusammenhang zur Gutachtenerstattung, weil er nach dem Protokoll nicht nur eine Erklärung zur vorangegangenen Beweiserhebung nach § 257 StPO abgab, sondern sich „zur Sache“ äußerte.

9Da auch ersichtlich kein Fall vorliegt, in dem das Beruhen des Urteils auf dem Verfahrensverstoß denkgesetzlich ausgeschlossen werden kann (vgl. , NJW 1996, 138), war das Urteil insgesamt aufzuheben.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2017:310517B2STR428.16.0

Fundstelle(n):
UAAAG-80198