Erhebung von Sozialabgaben auf Vermögenseinkünfte
Leitsatz
Die Art. 63 und 65 AEUV sind dahin auszulegen, dass sie Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats wie den im Ausgangsverfahren fraglichen nicht entgegenstehen, nach denen ein Angehöriger dieses Mitgliedstaats, der in einem Drittstaat wohnt, bei dem es sich weder um einen Mitgliedstaat des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) noch um die Schweizerische Eidgenossenschaft handelt, und der dort in einem System der sozialen Sicherheit versichert ist, in dem betreffenden Mitgliedstaat Abgaben auf Einkünfte aus Kapital im Rahmen eines von diesem eingeführten Beitrags zum System der sozialen Sicherheit unterliegt, während ein Unionsbürger, der in einem System der sozialen Sicherheit eines anderen Mitgliedstaats versichert ist, wegen des Grundsatzes der Anwendbarkeit nur eines Rechts im Bereich der sozialen Sicherheit gemäß Art. 11 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit davon befreit ist.
Instanzenzug:
Gründe
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 63 bis 65 AEUV sowie von Art. 11 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl 2004, L 166, S. 1, berichtigt in ABl 2004, L 200, S. 1).
2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Herrn Frédéric Jahin und dem Ministre de l’Économie et des Finances (Minister für Wirtschaft und Finanzen, Frankreich) sowie dem Ministre des Affaires sociales et de la Santé (Minister für Soziales und Gesundheit, Frankreich) wegen der Entrichtung mehrerer Beiträge und steuerlicher Abgaben für die Jahre 2012 bis 2014 auf in Frankreich erzielte Einkünfte aus Vermögen.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
3 Durch die Verordnung Nr. 883/2004 wurde mit Wirkung vom die Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in der durch die Verordnung (EG) Nr. 118/97 des Rates vom (ABl. 1997, L 28, S. 1) geänderten und aktualisierten Fassung (im Folgenden: Verordnung Nr. 1408/71) aufgehoben. Die für die vorliegende Rechtssache relevanten Vorschriften der Verordnung Nr. 883/2004 haben jedoch im Verhältnis zu den entsprechenden Vorschriften in der aufgehobenen Verordnung keine grundlegende Änderung erfahren.
4 Art. 2 („Persönlicher Geltungsbereich”) der Verordnung Nr. 883/2004 sieht in Abs. 1 vor:
„Diese Verordnung gilt für Staatsangehörige eines Mitgliedstaats, Staatenlose und Flüchtlinge mit Wohnort in einem Mitgliedstaat, für die die Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten gelten oder galten, sowie für ihre Familienangehörigen und Hinterbliebenen.”
5 Art. 3 Abs. 1 dieser Verordnung lautet:
„Diese Verordnung gilt für alle Rechtsvorschriften, die folgende Zweige der sozialen Sicherheit betreffen:
Leistungen bei Krankheit;
Leistungen bei Mutterschaft und gleichgestellte Leistungen bei Vaterschaft;
Leistungen bei Invalidität;
Leistungen bei Alter;
Leistungen an Hinterbliebene;
Leistungen bei Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten;
Sterbegeld;
Leistungen bei Arbeitslosigkeit;
Vorruhestandsleistungen;
Familienleistungen.”
6 Art. 11 Abs. 1 dieser Verordnung sieht vor:
„Personen, für die diese Verordnung gilt, unterliegen den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats. …”
7 Die Verordnung Nr. 883/2004 gilt aufgrund des Beschlusses Nr. 76/2011 des Gemeinsamen EWR-Ausschusses vom zur Änderung von Anhang VI (Soziale Sicherheit) und von Protokoll 37 zum EWR-Abkommen (ABl. 2011, L 262, S. 33) für sämtliche Mitgliedstaaten des Europäischen Wirtschaftsraums.
8 Was im Übrigen die Schweizerische Eidgenossenschaft betrifft, so regeln nach Art. 8 des am in Luxemburg unterzeichneten und am in Kraft getretenen Abkommens zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Schweizerischen Eidgenossenschaft andererseits über die Freizügigkeit (ABl. 2002, L 114, S. 6) die Vertragsparteien die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit gemäß Anhang II. Mit dem Beschluss Nr. 1/2012 des Gemischten Ausschusses, eingesetzt im Rahmen des Abkommens zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Schweizerischen Eidgenossenschaft andererseits über die Freizügigkeit, vom zur Ersetzung des Anhangs II dieses Abkommens über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl. 2012, L 103, S. 51), der am in Kraft trat, wurde Abschnitt A dieses Anhangs aktualisiert und nimmt nunmehr auf die Verordnung Nr. 883/2004 Bezug.
Französisches Recht
9 Art. 1600-0 C des Code général des impôts (Allgemeines Steuergesetzbuch) in der auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung lautet:
„Der auf die Einkünfte aus Vermögen erhobene allgemeine Sozialbeitrag wird gemäß den Vorschriften des Art. L. 136-6 des Code de la sécurité sociale [(Sozialgesetzbuch)] festgesetzt, überprüft und erhoben.”
10 Art. L. 136-6 des Sozialgesetzbuchs in der durch die Loi n° 2012-958, du 16 août 2012 (Gesetz Nr. 2012-958 vom ) geänderten Fassung lautet:
„I. – Bei im Sinne von Art. 4 B des Allgemeinen Steuergesetzbuchs in Frankreich steueransässigen natürlichen Personen wird ein Beitrag auf Einkünfte aus Vermögen erhoben, für den der für die Festsetzung der Einkommensteuer ermittelte Nettobetrag Bemessungsgrundlage ist. …
I bis. – Bei nicht im Sinne von Art. 4 B des Allgemeinen Steuergesetzbuchs in Frankreich steueransässigen natürlichen Personen wird der Beitrag ebenfalls erhoben, und zwar auf den für die Festsetzung der Einkommensteuer ermittelten Nettobetrag der Einkünfte im Sinne von Art. 164 B Abs. I Buchst. a des Allgemeinen Steuergesetzbuchs.
…”
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
11 Herr Jahin, ein französischer Staatsangehöriger, wohnt seit dem Jahr 2003 in China. Er übt dort eine Erwerbstätigkeit aus und ist dort in einem privaten System der sozialen Sicherheit versichert.
12 In den Jahren 2012 bis 2014 wurden bei ihm in Frankreich verschiedene Abgaben auf Einkünfte aus Immobilien sowie auf eine infolge der Veräußerung einer Immobilie realisierte Wertsteigerung erhoben.
13 Der Gerichtshof, der bereits mit einem Vorabentscheidungsersuchen des vorlegenden Gerichts, des Conseil d’État (Staatsrat, Frankreich), in einer anderen Rechtssache zu gleichen Abgaben befasst wurde, in der das Urteil vom , de Ruyter (, EU:C:2015:123), ergangen ist, hat im Wesentlichen entschieden, dass derartige Abgaben, wenn sie eine unmittelbare und relevante Verbindung zu bestimmten der in Art. 4 der Verordnung Nr. 1408/71 genannten Zweige der sozialen Sicherheit aufweisen, in den Geltungsbereich dieser Verordnung fallen und dem Grundsatz der Anwendbarkeit nur eines Rechts gemäß Art. 13 Abs. 1 dieser Verordnung unterliegen, auch wenn sie unabhängig davon auf die Einkünfte aus dem Vermögen der Steuerpflichtigen erhoben werden, ob diese eine Erwerbstätigkeit ausüben.
14 Im Anschluss an dieses Urteil entschied das vorlegende Gericht mit Entscheidung vom , dass jede natürliche Person, die in einem System der sozialen Sicherheit eines anderen Mitgliedstaats versichert ist, berechtigt ist, die Entlastung von den Abgaben zu verlangen, die in Frankreich auf die Einkünfte aus ihrem Vermögen erhoben wurden.
15 Die Modalitäten der Erstattung der unionsrechtswidrig erhobenen Abgaben wurden in zwei Pressemitteilungen vom zum einen des Secrétaire d’État chargé du Budget (für den Haushalt zuständiger Staatssekretär, Frankreich) und zum anderen des Directeur général des Finances publiques (Generaldirektor Öffentliche Finanzen, Frankreich) erläutert. Darin heißt es u. a., dass das Recht auf Erstattung allein den natürlichen Personen vorbehalten ist, die in einem System der sozialen Sicherheit eines anderen Staates als der Französischen Republik in der Europäischen Union oder im EWR oder der Schweizerischen Eidgenossenschaft versichert sind, wodurch natürliche Personen, die in einem System der sozialen Sicherheit eines Drittstaats versichert sind, ausgeschlossen sind.
16 Am erhob Herr Jahin bei dem vorlegenden Gericht gegen diese Pressemitteilungen Klage wegen Befugnisüberschreitung und machte geltend, dass dieser Ausschluss mit der Verordnung Nr. 883/2004 und dem in Art. 63 AEUV verbürgten Grundsatz des freien Kapitalverkehrs unvereinbar sei.
17 Unter diesen Umständen hat der Conseil d’État (Staatsrat) das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
Sind die Art. 63, 64 und 65 AEUV dahin auszulegen,
dass der Umstand, dass eine Person, die in einem System der sozialen Sicherheit eines nicht zur Union gehörenden Staates versichert ist, bei dem es sich weder um einen EWR-Mitgliedstaat noch um die Schweizerische Eidgenossenschaft handelt, wie eine in Frankreich sozialversicherte Person den Abgaben auf Einkünfte aus Kapital gemäß den französischen Rechtsvorschriften unterworfen ist, die in den Geltungsbereich der Verordnung Nr. 883/2004 fallen, während eine Person, die in dem System der sozialen Sicherheit eines Mitgliedstaats, bei dem es sich nicht um die Französische Republik handelt, versichert ist, diesen Abgaben gemäß den Bestimmungen dieser Verordnung nicht unterworfen werden kann, eine nach Art. 63 AEUV grundsätzlich verbotene Beschränkung des Kapitalverkehrs aus oder nach dritten Ländern darstellt?
Falls die erste Frage zu bejahen sein sollte: Kann eine solche Beschränkung des Kapitalverkehrs, die sich aus dem Zusammenspiel von französischen Rechtsvorschriften, die alle Bezieher bestimmter Kapitaleinkünfte der streitigen Abgabe unterwerfen, ohne selbst nach dem Ort ihrer Versicherung in einem System der sozialen Sicherheit zu unterscheiden, und einem Sekundärrechtsakt der Union ergibt, als mit den Bestimmungen des Art. 63 AEUV vereinbar angesehen werden, insbesondere
im Hinblick auf Art. 64 Abs. 1 AEUV für Kapitalbewegungen, die in dessen Anwendungsbereich fallen, weil sich die Beschränkung aus der Anwendung des in Art. 11 der Verordnung Nr. 883/2004 verankerten Grundsatzes der Anwendbarkeit nur eines Rechts ergibt, der durch Art. 13 der Verordnung Nr. 1408/71 in das Unionsrecht eingeführt wurde, d. h. zu einem vor dem liegenden Zeitpunkt, während die in Rede stehenden Abgaben auf Kapitaleinkünfte nach dem eingeführt wurden oder anwendbar geworden sind;
im Hinblick auf Art. 65 Abs. 1 AEUV, weil die im Einklang mit der Verordnung Nr. 883/2004 angewandten Vorschriften des französischen Steuerrechts Steuerpflichtige unterschiedlich behandeln, die sich in Bezug auf das Kriterium der Versicherung in einem System der sozialen Sicherheit nicht in derselben Situation befinden;
im Hinblick auf das Bestehen zwingender Gründe des Allgemeininteresses, die eine Beschränkung des freien Kapitalverkehrs rechtfertigen können und daraus abgeleitet werden könnten, dass die Bestimmungen, die eine Beschränkung des Kapitalverkehrs aus oder nach dritten Ländern darstellen, dem mit der Verordnung Nr. 883/2004 verfolgten Ziel der Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union entsprechen?
Zu den Vorlagefragen
18 Mit seinen beiden Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Art. 63 und 65 AEUV dahin auszulegen sind, dass sie Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats wie den im Ausgangsverfahren fraglichen, nach denen ein Angehöriger dieses Mitgliedstaats, der in einem Drittstaat wohnt, bei dem es sich weder um einen EWR-Mitgliedstaat noch um die Schweizerische Eidgenossenschaft handelt, der dort in einem System der sozialen Sicherheit versichert ist und der in dem betreffenden Mitgliedstaat Abgaben auf Einkünfte aus Kapital im Rahmen eines von diesem eingeführten Beitrags zum System der sozialen Sicherheit unterliegt, während ein Unionsbürger, der in einem System der sozialen Sicherheit eines anderen Mitgliedstaats versichert ist, wegen des Grundsatzes der Anwendbarkeit nur eines Rechts im Bereich der sozialen Sicherheit gemäß Art. 11 der Verordnung Nr. 883/2004 davon befreit ist, deshalb entgegenstehen, weil eine solche nationale Regelung eine verbotene Beschränkung des Kapitalverkehrs aus oder nach dritten Ländern darstellt.
19 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass durch Art. 63 AEUV der freie Kapitalverkehr zum einen zwischen den Mitgliedstaaten und zum anderen zwischen den Mitgliedstaaten und dritten Ländern umgesetzt wird.
20 Zu diesem Zweck bestimmt Art. 63 AEUV, der zu Kapitel 4 („Der Kapital- und Zahlungsverkehr”) des Titels IV des AEU-Vertrags gehört, dass alle Beschränkungen des Kapitalverkehrs zwischen den Mitgliedstaaten sowie zwischen den Mitgliedstaaten und dritten Ländern verboten sind.
21 Daraus ergibt sich, dass sich der räumliche Anwendungsbereich des freien Kapitalverkehrs im Sinne des Art. 63 AEUV nicht auf den Kapitalverkehr zwischen den Mitgliedstaaten beschränkt, sondern sich auch auf den Kapitalverkehr zwischen den Mitgliedstaaten und dritten Ländern erstreckt.
22 Was den sachlichen Anwendungsbereich des Art. 63 AEUV betrifft, so wird der Begriff „Kapitalverkehr” zwar im AEU-Vertrag nicht definiert, doch geht aus einer ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs hervor, dass der Kapitalverkehr im Sinne dieses Artikels u. a. Vorgänge umfasst, durch die Personen im Gebiet eines Mitgliedstaats, in dem sie nicht ihren Wohnsitz haben, Investitionen in Immobilien tätigen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom , Stefan, , EU:C:2001:9, Rn. 5, vom , Reisch u. a., , bis und bis , EU:C:2002:135, Rn. 30, sowie vom , Blanckaert, , EU:C:2005:516, Rn. 35).
23 Daraus ergibt sich, dass Abgaben wie die nach den im Ausgangsverfahren fraglichen nationalen Rechtsvorschriften erhobenen dadurch, dass sie Einkünfte aus Immobilien und aus einer infolge der Veräußerung einer Immobilie realisierten Wertsteigerung betreffen, die in einem Mitgliedstaat von einer natürlichen Person bezogen wurden, die die Staatsangehörigkeit dieses Staates besitzt, aber in einem Drittstaat wohnt, bei dem es sich weder um einen EWR-Mitgliedstaat noch um die Schweizerische Eidgenossenschaft handelt, unter den Begriff „Kapitalverkehr” im Sinne des Art. 63 AEUV fallen.
24 Sodann ist festzustellen, ob die steuerliche Behandlung, die die fraglichen nationalen Rechtsvorschriften für die eigenen Staatsangehörigen vorsehen, die in einem Drittstaat leben, bei dem es sich weder um einen EWR-Mitgliedstaat noch um die Schweizerische Eidgenossenschaft handelt, und die in dem System der sozialen Sicherheit dieses Drittstaats versichert sind, eine Beschränkung des Kapitalverkehrs im Sinne des Art. 63 AEUV darstellt.
25 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs gehören zu den Maßnahmen, die Art. 63 Abs. 1 AEUV als Beschränkungen des Kapitalverkehrs verbietet, solche, die geeignet sind, Gebietsfremde von Investitionen in einem Mitgliedstaat oder die in diesem Mitgliedstaat Ansässigen von Investitionen in anderen Staaten abzuhalten (Urteile vom , van Hilten-van der Heijden, , EU:C:2006:131, Rn. 44, vom , NN [L] International, , EU:C:2016:356, Rn. 44, und vom , Pensioenfonds Metaal en Techniek, , EU:C:2016:402, Rn. 27).
26 Im vorliegenden Fall steht fest, dass durch die französischen Rechtsvorschriften zum einen die eigenen Staatsangehörigen, die in einem Drittstaat, bei dem es sich weder um einen EWR-Mitgliedstaat noch um die Schweizerische Eidgenossenschaft handelt, wohnen und dort in einem System der sozialen Sicherheit versichert sind, und zum anderen die französischen Staatsangehörigen, die in Frankreich wohnen und dort in einem System der sozialen Sicherheit versichert sind, gleich behandelt werden, da sie in beiden Fällen in gleicher Weise den in diesen Rechtsvorschriften vorgesehenen Abgaben auf die Einkünfte aus Kapital unterliegen.
27 Hingegen genießen Unionsbürger, die in einem System der sozialen Sicherheit eines anderen Mitgliedstaats, eines EWR-Mitgliedstaats oder der Schweizerischen Eidgenossenschaft versichert sind, eine günstigere steuerliche Behandlung, da sie von diesen Abgaben befreit sind.
28 Eine solche unterschiedliche Behandlung ist indessen geeignet, natürliche Personen, die in einem System der sozialen Sicherheit eines Drittstaats versichert sind, bei dem es sich weder um einen EWR-Mitgliedstaat noch um die Schweizerische Eidgenossenschaft handelt, davon abzuhalten, Investitionen in Immobilien in dem Mitgliedstaat zu tätigen, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzen, und behindern daher den freien Kapitalverkehr von solchen Drittstaaten in diesen Mitgliedstaat.
29 Daher stellen nationale Rechtsvorschriften wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden eine Beschränkung des freien Kapitalverkehrs zwischen einem Mitgliedstaat und einem Drittstaat dar, die nach Art. 63 AEUV grundsätzlich verboten ist.
30 Schließlich ist zu beurteilen, ob eine solche Beschränkung des freien Kapitalverkehrs gerechtfertigt werden kann.
31 Nach Art. 65 Abs. 1 Buchst. a AEUV „berührt [Art. 63] nicht das Recht der Mitgliedstaaten, … die einschlägigen Vorschriften ihres Steuerrechts anzuwenden, die Steuerpflichtige mit unterschiedlichem Wohnort … unterschiedlich behandeln”.
32 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ist diese Bestimmung, da sie eine Ausnahme vom Grundprinzip des freien Kapitalverkehrs darstellt, eng auszulegen. Sie kann somit nicht dahin verstanden werden, dass jede Steuerregelung, die zwischen Steuerpflichtigen nach ihrem Wohnort unterscheidet, ohne Weiteres mit dem Vertrag vereinbar wäre (Urteile vom , Welte, , EU:C:2013:662, Rn. 42, und vom , K, , EU:C:2013:716, Rn. 34).
33 Die in Art. 65 Abs. 1 AEUV vorgesehene Ausnahme wird nämlich ihrerseits durch Abs. 3 dieses Artikels eingeschränkt, wonach die in Abs. 1 genannten nationalen Vorschriften „weder ein Mittel zur willkürlichen Diskriminierung noch eine verschleierte Beschränkung des freien Kapital- und Zahlungsverkehrs im Sinne des Artikels 63 darstellen [dürfen]” (Urteil vom , Welte, , EU:C:2013:662, Rn. 43).
34 Es muss also unterschieden werden zwischen unterschiedlichen Behandlungen, die nach Art. 65 Abs. 1 AEUV erlaubt sind, und willkürlichen Diskriminierungen, die nach Art. 65 Abs. 3 AEUV verboten sind. Insoweit kann nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs eine nationale Regelung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nur dann als mit den Vertragsbestimmungen über den freien Kapitalverkehr vereinbar angesehen werden, wenn die unterschiedliche Behandlung entweder Situationen betrifft, die nicht objektiv miteinander vergleichbar sind, oder wenn sie durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt ist (Urteile vom , Verkooijen, , EU:C:2000:294, Rn. 43, vom , Manninen, , EU:C:2004:484, Rn. 28 und 29, sowie vom , Blanckaert, , EU:C:2005:516, Rn. 42).
35 Es stellt sich daher die Frage, ob in Bezug auf die Erhebung von Abgaben wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden im Hinblick auf den Wohnsitz eine objektiv unterschiedliche Situation besteht zwischen einem Unionsbürger, der in einem System der sozialen Sicherheit eines anderen als des betreffenden Mitgliedstaats versichert ist, und einem Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats, der in einem System der sozialen Sicherheit eines Drittstaats versichert ist, bei dem es sich weder um einen EWR-Mitgliedstaat noch um die Schweizerische Eidgenossenschaft handelt.
36 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass das Kriterium, das in den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Rechtsvorschriften zugrunde gelegt wird, um zwischen steuerpflichtigen natürlichen Personen im Hinblick auf ihre Situation zu differenzieren, zwar nicht ausdrücklich an ihren Wohnsitz, sondern an ihre Versicherung in einem System der sozialen Sicherheit geknüpft ist.
37 Da es sich bei natürlichen Personen, die nicht in einem System der sozialen Sicherheit eines Mitgliedstaats versichert sind, in den meisten Fällen um Personen handelt, die nicht in diesem Staat ansässig sind, führt ein solches Kriterium aber in Wirklichkeit dazu, dass bei steuerpflichtigen natürlichen Personen eine Unterscheidung nach Maßgabe ihres Wohnsitzes vorgenommen wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , Blanckaert, , EU:C:2005:516, Rn. 38).
38 Es ist daher zu prüfen, ob sich ein Unionsbürger, der in einem System der sozialen Sicherheit eines anderen Mitgliedstaats versichert ist, im Hinblick auf das Ziel sowie auf den Gegenstand und den Inhalt der Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats in einer vergleichbaren Situation befindet wie ein Staatsangehöriger dieses Mitgliedstaats, der aber in einem Drittstaat wohnt, bei dem es sich weder um einen EWR-Mitgliedstaat noch um die Schweizerische Eidgenossenschaft handelt, und der dort in einem System der sozialen Sicherheit versichert ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , Pensioenfonds Metaal en Techniek, , EU:C:2016:402, Rn. 48).
39 Was hier das Ziel der französischen Rechtsvorschriften anbelangt, so ist entsprechend den Ausführungen in den Rn. 13 bis 15 des vorliegenden Urteils darauf hinzuweisen, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Pressemitteilungen nur die Modalitäten der Erstattung der Abgaben erläutern, die unionsrechtswidrig bei natürlichen Personen erhoben wurden, die Einkünfte aus Kapital in Frankreich beziehen, aber in einem System der sozialen Sicherheit eines anderen Mitgliedstaats versichert sind.
40 Nach dem in Art. 11 der Verordnung Nr. 883/2004 verankerten Grundsatz der Anwendbarkeit nur eines Rechts im Bereich der sozialen Sicherheit darf ein Mitgliedstaat nämlich bei Unionsbürgern, die in einem System der sozialen Sicherheit eines anderen Mitgliedstaats versichert sind, keine Abgaben – wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden – erheben, die, obwohl sie in den nationalen Rechtsvorschriften als Steuer qualifiziert werden, zu den Rechtsvorschriften betreffend die in Art. 3 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004 aufgeführten Zweige der sozialen Sicherheit einen unmittelbaren und hinreichend relevanten Zusammenhang aufweisen und die speziell für die Finanzierung eines Systems der sozialen Sicherheit des erstgenannten Mitgliedstaats verwendet werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , de Ruyter, , EU:C:2015:123, Rn. 23, 24, 26 und 39).
41 Mit diesem Grundsatz der Anwendbarkeit nur eines Rechts im Bereich der sozialen Sicherheit sollen für Unionsbürger, die innerhalb der Union zu- und abwandern, die Komplikationen, die sich aus der gleichzeitigen Anwendung von Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten ergeben können, vermieden und die Ungleichbehandlungen ausgeschlossen werden, die aus einer teilweisen oder vollständigen Kumulierung der anwendbaren Rechtsvorschriften folgen würden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , de Ruyter, , EU:C:2015:123, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung).
42 Aus den vorstehenden Überlegungen ergibt sich, dass ein objektiver Unterschied besteht zwischen zum einen der Situation eines Staatsangehörigen des betreffenden Mitgliedstaats, der in einem Drittstaat wohnt, bei dem es sich weder um einen EWR-Mitgliedstaat noch um die Schweizerische Eidgenossenschaft handelt, und der dort in einem System der sozialen Sicherheit versichert ist, und zum anderen der Situation eines Unionsbürgers, der in einem System der sozialen Sicherheit eines anderen Mitgliedstaats versichert ist, da nur dem Letzteren – aufgrund seiner Zu- oder Abwanderung innerhalb der Union – der in Art. 11 der Verordnung Nr. 883/2004 verankerte Grundsatz der Anwendbarkeit nur eines Rechts im Bereich der sozialen Sicherheit zugutekommen kann.
43 Hingegen besteht kein objektiver Unterschied zwischen der Situation eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, der in einem Drittstaat wohnt, bei dem es sich weder um einen EWR-Mitgliedstaat noch um die Schweizerische Eidgenossenschaft handelt, und der dort in einem System der sozialen Sicherheit versichert ist, und der Situation eines Staatsangehörigen desselben Mitgliedstaats, der dort wohnt und dort in einem System der sozialen Sicherheit versichert ist, da die betreffenden Personen in beiden Fällen nicht von ihrer Freizügigkeit innerhalb der Union Gebrauch gemacht haben und daher nicht den Grundsatz der Anwendbarkeit nur eines Rechts im Bereich der sozialen Sicherheit geltend machen können.
44 Daher können nationale Rechtsvorschriften wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden im Hinblick auf Art. 65 Abs. 1 Buchst. a AEUV durch den objektiven Unterschied gerechtfertigt werden, der zwischen der Situation einer natürlichen Person, die Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats ist, aber in einem Drittstaat wohnt, bei dem es sich weder um einen EWR-Mitgliedstaat noch um die Schweizerische Eidgenossenschaft handelt, und die dort in einem System der sozialen Sicherheit versichert ist, und der eines Unionsbürgers besteht, der in einem anderen Mitgliedstaat wohnt und dort in einem System der sozialen Sicherheit versichert ist.
45 Jedenfalls ist hinzuzufügen, dass eine andere Auslegung darauf hinausliefe, dass einem Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats – wie Herrn Jahin –, der in einem Drittstaat wohnt, bei dem es sich weder um einen EWR-Mitgliedstaat noch um die Schweizerische Eidgenossenschaft handelt, der in Art. 11 der Verordnung Nr. 883/2004 verankerte Grundsatz der Anwendbarkeit nur eines Rechts im Bereich der sozialen Sicherheit zugutekäme, obwohl die Verordnung gemäß ihrem Art. 2 Abs. 1 nur für Staatsangehörige eines Mitgliedstaats gilt, für die die sozialrechtlichen Vorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten gelten.
46 Da aber der AEU-Vertrag keine Bestimmung enthält, die die Arbeitnehmerfreizügigkeit auf Personen erstreckt, die in einen Drittstaat auswandern, ist zu vermeiden, dass die Auslegung von Art. 63 Abs. 1 AEUV in Bezug auf die Beziehungen zu Drittstaaten, bei denen es sich weder um EWR-Mitgliedstaaten noch um die Schweizerische Eidgenossenschaft handelt, es Personen, die sich außerhalb des räumlichen Anwendungsbereichs der Arbeitnehmerfreizügigkeit befinden, erlaubt, in den Genuss dieser Freizügigkeit zu gelangen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , Test Claimants in the FII Group Litigation, , EU:C:2012:707, Rn. 100).
47 Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass die Art. 63 und 65 AEUV dahin auszulegen sind, dass sie Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats wie den im Ausgangsverfahren fraglichen nicht entgegenstehen, nach denen ein Angehöriger dieses Mitgliedstaats, der in einem Drittstaat wohnt, bei dem es sich weder um einen EWR-Mitgliedstaat noch um die Schweizerische Eidgenossenschaft handelt, und der dort in einem System der sozialen Sicherheit versichert ist, in dem betreffenden Mitgliedstaat Abgaben auf Einkünfte aus Kapital im Rahmen eines von diesem eingeführten Beitrags zum System der sozialen Sicherheit unterliegt, während ein Unionsbürger, der in einem System der sozialen Sicherheit eines anderen Mitgliedstaats versichert ist, wegen des Grundsatzes der Anwendbarkeit nur eines Rechts im Bereich der sozialen Sicherheit gemäß Art. 11 der Verordnung Nr. 883/2004 davon befreit ist.
Kosten
48 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem nationalen Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zehnte Kammer) für Recht erkannt:
Die Art. 63 und 65 AEUV sind dahin auszulegen, dass sie Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats wie den im Ausgangsverfahren fraglichen nicht entgegenstehen, nach denen ein Angehöriger dieses Mitgliedstaats, der in einem Drittstaat wohnt, bei dem es sich weder um einen Mitgliedstaat des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) noch um die Schweizerische Eidgenossenschaft handelt, und der dort in einem System der sozialen Sicherheit versichert ist, in dem betreffenden Mitgliedstaat Abgaben auf Einkünfte aus Kapital im Rahmen eines von diesem eingeführten Beitrags zum System der sozialen Sicherheit unterliegt, während ein Unionsbürger, der in einem System der sozialen Sicherheit eines anderen Mitgliedstaats versichert ist, wegen des Grundsatzes der Anwendbarkeit nur eines Rechts im Bereich der sozialen Sicherheit gemäß Art. 11 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit davon befreit ist.
ECLI Nummer:
ECLI:EU:C:2018:18
Fundstelle(n):
VAAAG-72507