(Nichtzulassungsbeschwerde - grundsätzliche Bedeutung einer Rechtssache - Schwerbehindertenrecht - Merkzeichen RF - Ermäßigung des Rundfunkbeitrags - Störung anderer Teilnehmer auf Veranstaltungen - keine Berücksichtigung von Empfindlichkeiten der Öffentlichkeit - Ungleichbehandlung von blinden oder hörgeschädigten Menschen gegenüber schwerbehinderten Menschen mit Mindest-GdB von 80 - Unmöglichkeit der Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen - Verfassungsrecht - indiziengestützte Typisierung - Zulässigkeit von strengeren zweckbestimmten Anforderungen in Generalklausel sozialgerichtliches Verfahren - keine Umgehung von § 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 SGG)
Leitsatz
Das Merkzeichen RF kann nicht allein mit dem Ziel zuerkannt werden, besonderen Empfindlichkeiten der Öffentlichkeit Rechnung zu tragen.
Gesetze: § 69 Abs 4 SGB 9, § 4 Abs 2 Nr 3 RdFunkBeitrStVtr BY, § 4 Abs 2 Nr 1 RdFunkBeitrStVtr BY, § 4 Abs 2 Nr 2 RdFunkBeitrStVtr BY, § 3 Abs 1 Nr 5 SchwbAwV, Art 3 Abs 1 GG, § 118 Abs 1 S 1 SGG, § 160a Abs 2 S 3 SGG, § 160 Abs 2 Nr 1 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 SGG, § 172 Abs 2 SGG, § 406 Abs 2 ZPO
Instanzenzug: SG Bayreuth Az: S 12 SB 371 /14 Gerichtsbescheidvorgehend Bayerisches Landessozialgericht Az: L 18 SB 105 /16 Urteil
Gründe
1I. Die Klägerin begehrt die Zuerkennung des Merkzeichens RF.
2Ihren darauf gerichteten Antrag lehnte der Beklagte ab, weil die Klägerin die Voraussetzungen des § 4 Abs 2 Rundfunkbeitragsstaatsvertrag (RBStV) verfehle. Sie könne an öffentlichen Veranstaltungen teilnehmen, eventuell mit Hilfe der ihr gewährten Merkzeichen B und G (Bescheid vom , Widerspruchsbescheid vom ).
3Klage und Berufung sind nach medizinischen Ermittlungen erfolglos geblieben. Das LSG hat ausgeführt, Harn- und Stuhldrang könne die Klägerin durch Inkontinenzartikel ausgleichen. Störungen durch das Aufsuchen einer Toilette seien anderen Veranstaltungsteilnehmern ohne Weiteres zuzumuten unter dem Gesichtspunkt der Inklusion. Sturzgefahr könne die Klägerin mit einem Rollstuhl vermeiden (Urteil vom ).
4Gegen die Nichtzulassung der Revision in diesem Urteil hat die Klägerin Beschwerde erhoben. Das LSG habe die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache verkannt und einen Verfahrensfehler begangen.
5II. Die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin ist unzulässig. Die Begründung genügt nicht den gesetzlichen Anforderungen, weil weder der behauptete Verfahrensmangel (1.), noch eine grundsätzliche Bedeutung (2.) ordnungsgemäß dargetan worden sind (vgl § 160a Abs 2 S 3 SGG).
61. Einen Verfahrensmangel (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG) durch die behauptete Verletzung des § 159 SGG hat die Beschwerde nicht substantiiert dargetan. Die Klägerin meint, das LSG habe bei seiner Entscheidung gegen eine Zurückverweisung an das SG sein Ermessen aus § 159 Abs 1 Nr 2 SGG verletzt. Die Beschwerde hat indes nicht dargelegt, warum dieses Ermessen überhaupt eröffnet gewesen sein sollte. Eine Zurückverweisung nach § 159 Abs 1 Nr 1 SGG schied aus, weil das SG durch Gerichtsbescheid in der Sache entschieden hatte. Eine Zurückverweisung nach § 159 Abs 1 Nr 2 SGG wäre nur infrage gekommen, wenn der vermeintliche Verfahrensfehler - die Entscheidung ohne ehrenamtliche Richter durch Gerichtsbescheid - umfangreiche und aufwändige neue Ermittlungen erfordert hätte. Dazu hat die Beschwerde nichts Konkretes vorgetragen.
72. Ebenso wenig hat die Beschwerde eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG) dargelegt.
8Eine Rechtssache hat nur dann grundsätzliche Bedeutung, wenn sie eine Rechtsfrage aufwirft, die über den Einzelfall hinaus aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts einer Klärung durch das Revisionsgericht bedürftig und fähig ist. Der Beschwerdeführer muss daher anhand des anwendbaren Rechts und unter Berücksichtigung der höchstrichterlichen Rechtsprechung angeben, welche Fragen sich stellen, dass diese noch nicht geklärt sind, weshalb eine Klärung dieser Rechtsfragen aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts erforderlich ist und dass das angestrebte Revisionsverfahren eine Klärung erwarten lässt. Ein Beschwerdeführer muss mithin, um seiner Darlegungspflicht zu genügen, eine Rechtsfrage, ihre (abstrakte) Klärungsbedürftigkeit, ihre (konkrete) Klärungsfähigkeit (Entscheidungserheblichkeit) sowie die über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung der von ihm angestrebten Entscheidung (so genannte Breitenwirkung) darlegen (zum Ganzen vgl BSG SozR 3-1500 § 160a Nr 34 S 70 mwN).
9Diese Darlegungen enthält die Beschwerde nicht.
11b) Darüber hält die Klägerin sinngemäß die Rechtsfrage für grundsätzlich bedeutsam, ob andere Teilnehmer an öffentlichen Veranstaltungen es als zumutbar hinnehmen müssten, dass sie mehrmals eine Toilette aufsuche und dadurch störe. Insoweit setzt sich die Beschwerde indes ebenfalls nicht mit der bereits vorhandenen Senatsrechtsprechung auseinander. Danach darf es nicht darauf ankommen, inwieweit sich Teilnehmer an öffentlichen Veranstaltungen durch Behinderte gestört fühlen. Das Merkzeichen RF kann nicht allein mit dem Ziel zuerkannt werden, besonderen Empfindlichkeiten der Öffentlichkeit Rechnung zu tragen. Der auf gesellschaftliche Teilhabe gerichtete Zweck dieses Merkzeichens würde sonst in sein Gegenteil verkehrt. Deshalb steht das Merkzeichen RF andererseits besonders empfindsamen Behinderten auch nicht allein deshalb zu, weil sie die Öffentlichkeit um ihrer Mitmenschen willen meiden. Allenfalls in äußersten Randsituationen mag etwas Anderes gelten. Solche Situation festzustellen und zu bewerten ist indes grundsätzlich Aufgabe des Tatrichters (vgl 9/9a RVs 7/91 - SozR 3-3870 § 48 Nr 2). Die Beschwerde legt nicht dar, welchen grundsätzlichen Klärungsbedarf der Fall über die Ergebnisse der genannten Rechtsprechung hinaus noch aufwerfen oder warum die diesbezüglichen Feststellungen des Berufungsgerichts verfahrensfehlerhaft sein sollten.
12c) Die Klägerin hält es weiter für klärungsbedürftig, ob unter bestimmten Voraussetzungen ein Ablehnungsgesuch gegen einen Sachverständigen außerhalb der Zwei-Wochen-Frist des § 118 Abs 1 S 1 SGG iVm § 406 Abs 2 ZPO zulässig ist. Dieser Vortrag verfehlt ebenfalls die Anforderungen an eine Grundsatzrüge. Zwar können prinzipiell auch prozessuale Fragen grundsätzliche Bedeutung haben und eine Rechtsfortbildung im Verfahrensrecht erfordern. Diese darf aber nicht zur Umgehung von § 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 SGG führen, soweit dieser die Nachprüfbarkeit von Verfahrensmängeln einschränkt ( - Juris). Insoweit hat die Beschwerde aber nicht dargelegt, wie eine vermeintlich verfahrensfehlerhafte Entscheidung des SG über das Ablehnungsgesuch gegen den Sachverständigen im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde vor dem BSG überhaupt noch als Verfahrensfehler geltend gemacht werden könnte. Nach § 172 Abs 2 SGG können Beschlüsse des SG über die Ablehnung von Sachverständigen grundsätzlich nicht einmal mit der Beschwerde zum LSG angefochten werden. Schon das LSG als Berufungsinstanz kann einen solchen unanfechtbaren Beschluss nach § 202 S 1 SGG iVm § 512 ZPO nicht unmittelbar überprüfen. Selbst das Berufungsgericht könnte insoweit allenfalls einen Verfahrensmangel berücksichtigen, der als Folge der beanstandeten Vorentscheidung weiterwirkend der angefochtenen Sachentscheidung anhaftet (vgl Aubel in Zeihe, SGG, Stand 04/2017, § 172 RdNr 14c unter Hinweis auf - NJW 1998, S 2301). Schon dazu hat die Beschwerde in Bezug auf das abgelehnte Befangenheitsgesuch nichts vorgetragen. Unabhängig davon hat das LSG die Ablehnung auch in der Sache als gerechtfertigt angesehen; dagegen erhebt die Beschwerde ebenfalls keine stichhaltigen Einwendungen.
13Sie ist somit ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter zu verwerfen (§ 160a Abs 4 S 1 Halbs 2, § 169 SGG).
14Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (vgl § 160a Abs 4 S 2 Halbs 2 SGG).
153. Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 Abs 1 SGG.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BSG:2017:091117BB9SB3517B0
Fundstelle(n):
CAAAG-69720