BFH Urteil v. - VI R 79/99

Gründe

Die Kläger und Revisionskläger (Kläger) sind Eheleute. Sie erzielen beide Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit. In ihren gemeinsamen Einkommensteuererklärungen für die Streitjahre machten sie Kinderbetreuungskosten für ihre 1982 und 1987 geborenen Kinder geltend (7 500 DM für 1984, 8 616 DM für 1986 und 1 048 DM für 1987). Die Klägerin war wegen Mutterschutz und Erziehungsurlaub im Jahr 1987 weitgehend freigestellt.

Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt —FA—) lehnte die Berücksichtigung der Kinderbetreuungskosten ab. Mit ihren dagegen erhobenen Klagen brachten die Kläger vor, durch die Nichtabziehbarkeit dieser Aufwendungen würden sie in verfassungswidriger Weise gegenüber Alleinstehenden benachteiligt, die neben den Kinderbetreuungskosten zusätzlich noch einen Haushaltsfreibetrag ansetzen könnten.

Das Finanzgericht (FG) wies die Klagen ab. Die Nichtzulassungsbeschwerde hatte keinen Erfolg. Auf die hiergegen eingelegte Verfassungsbeschwerde der Kläger hob das u.a. (BVerfGE 99, 216, BStBl II 1999, 182) den Beschluss des Bundesfinanzhofs (BFH) über die Zurückweisung der Nichtzulassungsbeschwerde (Az. III B 88/89) auf. Im Hinblick auf den Ausschluss vom Abzug der Kinderbetreuungskosten und eines Haushaltsfreibetrags seien die angegriffenen Gerichtsentscheidungen und die ihnen insoweit zugrunde liegenden gesetzlichen Bestimmungen mit Art. 6 Abs. 1 und 2 des Grundgesetzes (GG) unvereinbar. Die verfassungswidrigen Normen würden nicht für nichtig erklärt, sondern blieben bis zu der gebotenen gesetzlichen Neuregelung weiterhin anwendbar.

Das Anlassverfahren verwies das BVerfG —ebenso wie die anderen Ausgangsverfahren— an den BFH zurück. Dabei führte es aus, die Beschwerdeführer hätten ”... im Blick auf die verfassungsrechtlich gebotene stufenweise Angleichung des geltenden Rechts…einen Anspruch darauf ..., dass der Erfolg ihrer Verfassungsbeschwerden sich für sie auch für die jeweils anhängigen Veranlagungszeiträume in einer den verfassungsrechtlichen Vorgaben entsprechenden einkommensteuerlichen Entlastung auswirkt.” Der BFH habe deshalb zu prüfen, ob durch eine erweiternde Anwendung der beanstandeten Vorschriften des Einkommensteuergesetzes (EStG) oder durch entsprechende Anwendung des Rechtsgedankens der §§ 163, 227 der Abgabenordnung —AO 1977— (vgl. dazu , BVerfGE 99, 246, BStBl II 1999, 174) sichergestellt werden könne, dass die im EStG für Alleinstehende mit Kindern vorgesehenen Entlastungen den Klägern zugute kommen. Anderenfalls müsste der Gesetzgeber insoweit eine rückwirkende Regelung treffen.

Mit Beschluss vom VI B 73/99 hat der Senat die Revision zugelassen.

Zur Begründung ihrer Revision tragen die Kläger im Wesentlichen vor, das FG habe § 33c EStG sowie den Begriff der Werbungskosten (§ 9 EStG) fehlerhaft angewandt und damit die steuerliche Berücksichtigung von kindbedingtem zwangsläufigem Aufwand in verfassungswidriger Weise verneint. Dem klägerischen Begehren könne durch verfassungskonforme Auslegung des Werbungskostenbegriffs stattgegeben werden. Ebenso sei eine Lösung über eine Billigkeitsregelung denkbar.

Die Kläger beantragen, die angefochtenen Steuerbescheide dahin gehend zu ändern, dass die Einkommensteuer für 1984 auf 12 250 DM, für 1986 auf 9 802 DM und für 1987 auf 7 829 DM herabgesetzt wird.

Das FA tritt dem Revisionsbegehren entgegen. Es trägt vor, ihm sei es als unterstem Teil der Exekutive aufgrund der bestehenden Gesetzeslage nicht möglich, den Klägern den Haushaltsfreibetrag zu gewähren und die Kinderbetreuungskosten zum Abzug zuzulassen. Eine darüber hinausgehende, gegen den Wortlaut der Vorschriften erfolgende Auslegung würde die Kompetenzen des FA übersteigen. Auch eine entsprechende Billigkeitsregelung komme nicht in Betracht, da eine solche nicht dazu diene, bestehende gesetzliche Regelungen außer Kraft zu setzen.

Die Revision der Kläger ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des finanzgerichtlichen Urteils und zur überwiegenden Stattgabe der Klage (§ 126 Abs. 3 Nr. 1 der FinanzgerichtsordnungFGO—).

1. Nach der vorbezeichneten Entscheidung des BVerfG (in BVerfGE 99, 216, BStBl II 1999, 182) haben die Kläger einen Rechtsanspruch darauf, dass der Erfolg ihrer Verfassungsbeschwerde sich für sie in einer den verfassungsrechtlichen Vorgaben entsprechenden einkommensteuerlichen Entlastung auswirkt. Es ist sicherzustellen, dass den Klägern die in den Vorschriften des § 33c EStG ab 1984 (Kinderbetreuungskosten) und des § 32 Abs. 3 EStG 1984 bzw. § 32 Abs. 7 EStG 1986 (Haushaltsfreibetrag) vorgesehenen Entlastungen zugute kommen. An diese Ausführungen ist der Senat gemäß § 31 Abs. 1 des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht (BVerfGG) gebunden (s. auch Senatsurteil vom VI R 26/00, BFH/NV 2002, 1085). Der Senat versteht die Entscheidung des BVerfG dahin gehend, dass eine der Verfassung gemäße Besteuerung der Kläger nur dann gegeben ist, wenn die angeführten kindbedingten Entlastungen betragsmäßig in voller Höhe berücksichtigt werden, ohne dass es auf die im Klage- und Revisionsverfahren gestellten Anträge ankommt. Dies bedeutet für den vorliegenden Anlassfall, dass zum einen die Kinderbetreuungskosten nach § 33c EStG (mit dem gesetzlichen Höchstbetrag von 4 000 DM für 1984 und 1986 sowie in der entstandenen Höhe von 1 048 DM für 1987) und zum anderen der volle Haushaltsfreibetrag in Höhe von 4 212 DM (1984) bzw. 4 536 DM (1986 und 1987) zu berücksichtigen sind. Bei den Kinderbetreuungskosten ist eine zumutbare Eigenbelastung nicht anzusetzen (, BFHE 179, 422, BStBl II 1997, 27).

2. Der —wenngleich ersatzweise zum Eingreifen berufene— Gesetzgeber hat u.a. für den vorliegenden Ausgangsfall z.B. im Zuge der Neuregelung des § 53 EStG (Gesetz zur Familienförderung vom , BGBl I 1999, 2552) keine rückwirkende Regelung zugunsten der Kläger getroffen. Eine solche Regelung ist auch nicht (mehr) zu erwarten. Zudem hat es das FA abgelehnt, den Klägern die gebotenen kindbedingten Entlastungen zugute kommen zu lassen; insbesondere hat es die vom BVerfG angeregte Billigkeitsprüfung nicht aufgegriffen. Es ist deshalb Aufgabe des Senats, die Vorgaben des BVerfG in einer den Rechtsschutz der Kläger in vollem Umfang wahrenden Weise umzusetzen.

3. Die Sache ist spruchreif. Gemäß den vorstehenden Erwägungen setzt der Senat die Einkommensteuer für die Streitjahre wie folgt fest:

1984:

Das bisherige zu versteuernde Einkommen in Höhe von 65 124 DM vermindert sich um die Kinderbetreuungskosten (4 000 DM) und den Haushaltsfreibetrag (4 212 DM) auf 56 912 DM. Die Steuer hierauf beträgt nach der Splittingtabelle 11 990 DM = 6 130,39 EUR.

1986:

Das bisherige zu versteuernde Einkommen in Höhe von 58 563 DM vermindert sich um die Kinderbetreuungskosten (4 000 DM) und den Haushaltsfreibetrag (4 536 DM) auf 50 027 DM. Die Steuer hierauf (Splitting) beträgt 9 554 DM. Abzüglich 200 DM Spenden sind festzusetzen 9 354 DM = 4 782,62 EUR.

1987:

Das bisherige zu versteuernde Einkommen in Höhe von 54 121 DM vermindert sich um die Kinderbetreuungskosten (1 048 DM) und den Haushaltsfreibetrag (4 536 DM) auf 48 537 DM. Die Steuer hierauf (Splitting) beträgt 9 112 DM. Abzüglich 600 DM Baukindergeld sind festzusetzen 8 512 DM = 4 352,12 EUR.

4. Soweit die Steuerfestsetzung für das Streitjahr 1987 höher ist als von den Klägern im Klage- und Revisionsverfahren beantragt, war die Klage abzuweisen. Da die Kläger insoweit nur zu einem geringen Teil unterlegen sind, hat der Senat es für angemessen erachtet, die Verfahrenskosten insgesamt dem FA aufzuerlegen (§ 135 Abs. 1, § 136 Abs. 1 Satz 3 FGO).

5. Im Übrigen wird das FA zu prüfen haben, ob wegen der Vorläufigkeit der angefochtenen Steuerbescheide die Vorschrift des § 54 EStG 1991 bzw. die Sondervorschrift des § 53 EStG zur Anwendung kommt.

Fundstelle(n):
BFH/NV 2002 S. 1557 Nr. 12
SAAAA-68619