Stattgebender Kammerbeschluss: Verletzung des Anspruchs auf Rechtsschutzgleichheit durch Versagung von PKH für Asylverfahren unter Durchentscheidung schwieriger, bislang uneinheitlich beantworteter Fragen - hier: Flüchtlingseigenschaft unverfolgt ausgereister Syrer aufgrund der Gefahr von Folter im Falle einer Rückkehr nach Syrien, sowie Flüchtlingseigenschaft wehrdienstpflichtiger Syrer als schwierige, nicht im PKH-Verfahren zu entscheidende Tatsachenfragen - Gegenstandswertfestsetzung
Gesetze: Art 3 Abs 1 GG, Art 19 Abs 4 GG, § 93c Abs 1 S 1 BVerfGG, § 3 Abs 1 AsylVfG 1992, § 4 AsylVfG 1992, § 14 Abs 1 RVG, § 37 Abs 2 S 2 RVG, § 166 VwGO, § 114 Abs 1 S 1 ZPO
Instanzenzug: Az: 16 A 4396/16 Beschlussvorgehend Az: 16 A 3924/16 Beschlussvorgehend Az: 16 A 6726/16 Beschlussvorgehend Az: 16 A 4637/16 Beschlussvorgehend Az: 16 A 6318/16 Beschlussvorgehend Az: 16 A 5082/16 Beschlussvorgehend Az: 16 A 4693/16 Beschlussvorgehend Az: 16 A 6237/16 Beschlussvorgehend Az: 16 A 3246/16 Beschluss
Gründe
I.
1 Die Verfassungsbeschwerden betreffen die Ablehnung von Prozesskostenhilfe in asylrechtlichen Verfahren.
2 1. Die Beschwerdeführer sind syrische Staatsangehörige, überwiegend kurdischer, teilweise arabischer Volkszugehörigkeit, die in den Jahren 2015 und 2016 in die Bundesrepublik Deutschland einreisten und hier Asyl beantragten. Das Bundesamt erkannte den unverfolgt ausgereisten Beschwerdeführern subsidiären Schutz zu und lehnte die Asylanträge im Übrigen ab. Weder verwirklichten sie eines der in Betracht kommenden Anknüpfungsmerkmale noch werde ihnen ein solches vom syrischen Regime zugeschrieben.
3 2. a) Die Beschwerdeführer erhoben gegen die Bescheide Klage zum Verwaltungsgericht Hamburg, gerichtet auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, und beantragten die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für die Verfahren. Sie trugen insbesondere vor, dass unverfolgt ausgereisten Syrern aufgrund der Asylantragstellung im westlichen Ausland politische Verfolgung durch das syrische Regime drohe. Weiterhin seien sie gegen das Assad-Regime gewesen und seien teilweise in Syrien wehrdienstpflichtig. In derartigen Fällen erkenne das Bundesamt sonst den Flüchtlingsschutz zu.
4 b) Das Verwaltungsgericht lehnte die Bewilligung von Prozesskostenhilfe jeweils ab. Die Klage habe keine hinreichende Aussicht auf Erfolg. Die erkennende Einzelrichterin folge der zwischenzeitlich überwiegend vertretenen Auffassung in der obergerichtlichen Rechtsprechung ( -; -; Bayerischer 21 ZB 16.30338 -; entgegen Hessischer .Z.A. -; -), dass unverfolgt ausgereisten Syrern nicht allein aufgrund ihrer Asylantragstellung im Ausland politische Verfolgung drohe. Ende 2015 seien von den zuvor in Syrien lebenden 22 Millionen Menschen 4,9 Millionen aus dem Land geflohen. Angesichts dieser Zahlen gebe es keine hinreichenden tatsächlichen Erkenntnisse, dass weiterhin alle ins Ausland ausgereisten Syrer als potentielle Oppositionelle angesehen würden. Aktuelle Erkenntnismittel würden keine ausreichenden Hinweise für systematische Rückkehrerbefragungen unter Anwendung von Folter ergeben. Der Bericht des Auswärtigen Amts vom sei nicht mehr hinreichend aktuell. Gegen systematische Folter spreche auch die hohe Zahl freiwilliger Rückkehrer nach Syrien aus Jordanien und insbesondere der Türkei. Auch eine mögliche Wehrdienstentziehung führe nicht zu politischer Verfolgung im Sinne des § 3 AsylG. Zwar sei in diesen Fällen gesetzlich mit einer Freiheitsstrafe von 15 Jahren zu rechnen, insoweit würde jedoch nicht an die in § 3 AsylG genannten Kriterien angeknüpft. Insoweit folge das Verwaltungsgericht der Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts für das Land Rheinland-Pfalz.
5 3. Die Beschwerdeführer erhoben gegen die Beschlüsse Anhörungsrügen, die das Verwaltungsgericht zurückwies.
6 4. Die Beschwerdeführer haben fristgemäß jeweils Verfassungsbeschwerde erhoben, mit der sie eine Verletzung der Rechtsschutzgleichheit und des rechtlichen Gehörs rügen. Die Rechtsfrage, ob die drohende Folter bei einer Rückkehrerbefragung die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft rechtfertige, sei nicht durch das Bundesverwaltungsgericht und auch nicht durch das Oberverwaltungsgericht Hamburg geklärt. Die übrigen Oberverwaltungsgerichte beantworteten die Frage uneinheitlich. Ebenfalls ungeklärt seien die Rechtsfolgen der Wehrdienstentziehung durch wehrdienstfähige Männer. Die Außerachtlassung des Berichts des Auswärtigen Amts vom sei willkürlich. Die Anzahl an Rückkehrern in die kurdischen Gebiete könne schlechterdings nicht zur Ablehnung einer Foltergefahr bei einer Rückkehr über Damaskus herangezogen werden. Weiterhin habe das Verwaltungsgericht den Vortrag zur Gefährdung bei Wehrdienstentziehung und die Entscheidung des - nicht in seine Entscheidungsfindung einbezogen und damit das rechtliche Gehör verletzt.
7 5. Die Akten der Ausgangsverfahren haben dem Bundesverfassungsgericht vorgelegen. Die Freie und Hansestadt Hamburg hatte Gelegenheit zur Äußerung.
II.
8 Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerden zur Entscheidung an und gibt ihnen statt. Die Annahme der Verfassungsbeschwerden ist zur Durchsetzung des Grundrechts der Beschwerdeführerinnen und Beschwerdeführer aus Art. 3 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 19 Abs. 4 GG angezeigt. Die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerden maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen hat das Bundesverfassungsgericht bereits geklärt (vgl. BVerfGE 81, 347 <356 f.>). Die zulässigen Verfassungsbeschwerden sind in einer die Entscheidungskompetenz der Kammer eröffnenden Weise offensichtlich begründet. Die Beschlüsse des Verwaltungsgerichts verletzen die Beschwerdeführerinnen und Beschwerdeführer in ihrer durch Art. 3 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG grundrechtlich geschützten Rechtsschutzgleichheit.
9 1. Das Recht auf effektiven und gleichen Rechtsschutz, das für die öffentlich-rechtliche Gerichtsbarkeit aus Art. 3 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 19 Abs. 4 GG abgeleitet wird, gebietet eine weitgehende Angleichung der Situation von Bemittelten und Unbemittelten bei der Verwirklichung des Rechtsschutzes (vgl. BVerfGE 78, 104 <117 f.>; 81, 347 <357> m.w.N.). Es ist dabei verfassungsrechtlich grundsätzlich unbedenklich, die Gewährung von Prozesskostenhilfe davon abhängig zu machen, dass die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg hat und nicht mutwillig erscheint.
10 Die Auslegung und Anwendung des § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO (hier in Verbindung mit § 166 VwGO) wie auch des jeweils anzuwendenden einfachen Rechts obliegt hierbei in erster Linie den zuständigen Fachgerichten, die dabei den - verfassungsgebotenen - Zweck der Prozesskostenhilfe zu beachten haben. Das Bundesverfassungsgericht kann nur eingreifen, wenn Verfassungsrecht verletzt ist, insbesondere wenn die angegriffene Entscheidung Fehler erkennen lässt, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung der durch das Grundgesetz verbürgten Rechtsschutzgleichheit beruhen.
11 Die Fachgerichte überschreiten ihren Entscheidungsspielraum, wenn sie die Anforderungen an das Vorliegen einer Erfolgsaussicht überspannen und dadurch den Zweck der Prozesskostenhilfe, dem Unbemittelten den weitgehend gleichen Zugang zu Gericht zu ermöglichen, deutlich verfehlen (vgl. BVerfGE 81, 347 <357 f.>). Die Prüfung der Erfolgsaussicht soll nicht dazu dienen, die Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung selbst in das Nebenverfahren der Prozesskostenhilfe vorzuverlagern und dieses an die Stelle des Hauptsacheverfahrens treten zu lassen (vgl. BVerfGE 81, 347 <357>; vgl. ausführlich Bergner/Pernice, in: Emmenegger/Wiedmann, Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Band 2, 241 <258 ff.>). Prozesskostenhilfe ist allerdings nicht bereits zu gewähren, wenn die entscheidungserhebliche Frage zwar noch nicht höchstrichterlich geklärt ist, ihre Beantwortung aber im Hinblick auf die einschlägige gesetzliche Regelung oder die durch die bereits vorliegende Rechtsprechung gewährten Auslegungshilfen nicht in dem genannten Sinne als "schwierig" erscheint. Ein Fachgericht, das § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO dahin auslegt, dass auch schwierige, noch nicht geklärte Rechtsfragen im Prozesskostenhilfeverfahren "durchentschieden" werden können, verkennt jedoch die Bedeutung der verfassungsrechtlich gewährleisteten Rechtsschutzgleichheit (vgl. BVerfGE 81, 347 <359>). Denn dadurch würde dem unbemittelten Beteiligten im Gegensatz zu dem bemittelten die Möglichkeit genommen, seinen Rechtsstandpunkt im Hauptsacheverfahren darzustellen und von dort aus in die höhere Instanz zu bringen (vgl. BVerfGK 2, 279 <282>; 8, 213 <217>).
12 2. Gemessen an diesen Maßstäben halten die angegriffenen Beschlüsse einer verfassungsgerichtlichen Überprüfung offensichtlich nicht stand. Das Verwaltungsgericht hat vorliegend in den angegriffenen Beschlüssen über die Bewilligung von Prozesskostenhilfe schwierige Tatsachenfragen durchentschieden, die jedenfalls durch das Hamburgische Oberverwaltungsgericht als das dem Verwaltungsgericht Hamburg übergeordnete Gericht nicht geklärt waren. Das Hamburgische Oberverwaltungsgericht hat die entscheidungserhebliche Frage, inwieweit unverfolgt ausgereisten Syrern bei einer Rückkehr in ihr Heimatland Folter bei Rückkehrerbefragungen aufgrund einer durch das syrische Regime angenommenen oppositionellen Gesinnung droht und ihnen deshalb die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist, noch nicht entschieden. Diese Frage ist auch in der übrigen verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung ungeklärt; sie wurde und wird uneinheitlich beantwortet. Einige Oberverwaltungsgerichte, auf deren Auffassung sich das Verwaltungsgericht Hamburg stützt, lehnen die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ab (vgl. -; -; Bayerischer 21 ZB 16.30338 -). Andere Oberverwaltungsgerichte, die das Verwaltungsgericht teilweise nennt, denen es jedoch nicht folgt, sprechen die Flüchtlingseigenschaft zu (vgl. Hessischer .Z.A. -; - und zuletzt differenzierend Hessischer .A -) oder haben in jüngerer Zeit erneut die Berufung zu dieser Frage zugelassen ( -). Die erstinstanzliche Entscheidungspraxis ist sehr uneinheitlich. Angesichts dieser Lage verfehlen die angegriffenen Beschlüsse die verfassungsrechtlichen Vorgaben deutlich. Aufgrund der Uneinheitlichkeit der Rechtsprechung der Oberverwaltungsgerichte konnte weder von einer einfachen Frage ausgegangen werden, noch konnte das Verwaltungsgericht von einer Klärung der Frage durch andere Oberverwaltungsgerichte ausgehen, da unter diesen ebenfalls noch Uneinigkeit herrschte. Vor diesem Hintergrund würde die Versagung von Prozesskostenhilfe die Unbemittelten gegenüber den Bemittelten deutlich schlechter stellen und ihnen die Chance nehmen, ihren Rechtsstandpunkt in der mündlichen Verhandlung und in der zweiten Instanz weiter zu vertreten. Die Durchführung erstinstanzlicher Verfahren zur Sache war auch erforderlich, um dem Hamburgischen Oberverwaltungsgericht Gelegenheit zu geben, sich mit den entscheidungserheblichen Fragen auseinanderzusetzen. Ob im Anschluss an die Klärung der Tatsachenfrage auch noch eine - erst durch das Bundesverwaltungsgericht abschließend zu klärende - Rechtsfrage im Raume stehen würde, lässt sich erst auf der Grundlage einer geklärten Tatsachenfeststellung entscheiden.
13 Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass auch die Frage der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft für wehrdienstpflichtige Syrer, jedenfalls bei einer ausstehenden Klärung der tatsächlichen Feststellungen durch das jeweils übergeordnete Oberverwaltungsgericht, eine schwierige Tatsachenfrage sein dürfte, die nicht im Prozesskostenhilfeverfahren durchentschieden werden kann.
14 3. Die Beschlüsse des Verwaltungsgerichts sind aufzuheben und die Sachen dorthin zurückzuverweisen, da nicht auszuschließen ist, dass das Verwaltungsgericht bei Berücksichtigung der verfassungsrechtlichen Maßgaben zu einem anderen Ergebnis gekommen wäre.
III.
15 Die Freie und Hansestadt Hamburg hat den Beschwerdeführern gemäß § 34a Abs. 2 BVerfGG die notwendigen Auslagen zu erstatten. Die Festsetzung des Werts des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit beruht auf § 37 Abs. 2 Satz 2 RVG.
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BVerfG:2017:rk20170829.2bvr035117
Fundstelle(n):
CAAAG-58412