Gründe
I. Die Beklagte und Revisionsklägerin (die Oberfinanzdirektion —OFD—) erteilte der Klägerin und Revisionsbeklagten (Klägerin) im Mai 1998 eine verbindliche Zolltarifauskunft (vZTA) für ein ”Silhouette-Kissen” und wies darin diese Ware der Unterpos. 8714 20 00 der Kombinierten Nomenklatur (KN) zu (bestätigt durch Einspruchsentscheidung vom ).
Nach der Beschreibung der Klägerin wird vor der Herstellung des Kissens im Ausland auf einem besonderen Messstuhl (Shape Sensor) unter Berücksichtigung des Sitzneigungswinkels, des Winkels der Rückenlehne, deren Höhe sowie der Stellung der Fuß- und Armstützen des Rollstuhls in Deutschland ein Sitzabdruck des Patienten erstellt, der zusammen mit den Daten über die Dicke und Dichte des benötigten Schaumgummis in ein Computermodell eingeht, das per Modem an den Hersteller im Ausland versandt wird. Anschließend wird das Sitzkissen (Sitzschale) individuell aus Schaumstoff hergestellt und komplett mit Bezug von dort eingeführt.
Die Klage, mit der die Einreihung der Ware in die Pos. 9021 KN als ”andere orthopädische Vorrichtung” begehrt wurde, hatte Erfolg. Das Finanzgericht (FG) entschied unter Aufhebung der Verwaltungsentscheidungen antragsgemäß und führte in der angefochtenen Entscheidung zur Begründung aus, dass das Sitzkissen dieselbe Funktion habe, die andere orthopädische Apparate und andere orthopädische Vorrichtungen hätten. Mit dem Sitzkissen würden gerade Funktionsschäden oder Gebrechen, wie sie insbesondere bei Fehl- oder Schiefständen entstünden, ausgeglichen. Das Kissen sei auch kein Teil oder Zubehör im Sinne der Kap. 86 bis 88 KN, weil es eine eigenständige Funktion habe, die mit der einer Krücke zu vergleichen sei. Im Übrigen könne das Kissen auch als Auflage für einen Autositz verwendet werden.
Die OFD vertritt in ihrer Revision die Auffassung, dass eine Einreihung des Sitzkissens in die Unterpos. 9021 19 10 ausscheide, weil das Produkt nur der Dekubitusprophylaxe und dem bequemen Sitzen durch eine andere Gewichtsverteilung diene. Damit verhüte und korrigiere es keine körperlichen Missbildungen, wie es für eine Einreihung in die Pos. 9021 KN vorausgesetzt werde. Das FG habe außerdem nicht berücksichtigt, dass der Gegenstand in der von der Klägerin vorgelegten fachärztlichen Stellungnahme teilweise als Sitzkissensystem, das aus einem Sitzkissen und einem Rückenteil bestehe, angesprochen werde. Das Gutachten könne daher für das streitgegenständliche Sitzkissen, das nur einen Teil der Funktionen des Systems erfülle, nicht herangezogen werden. Insbesondere werde die Stützfunktion nur gemeinsam mit dem Rückenteil erreicht. Da das Sitzkissen nach den Prospektangaben hauptsächlich für die Verwendung im Rollstuhl vorgesehen sei, handele es sich um ein Zubehör für einen Rollstuhl und sei in die Pos. 8714 KN einzureihen.
Die OFD beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben und (sinngemäß) die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.
II. Die als Revision gegen ein Urteil in Zolltarifsachen zulassungsfrei statthafte Revision (§ 116 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung —FGO—) der OFD ist unbegründet. Sie ist daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 FGO).
Das FG hat im Ergebnis rechtsfehlerfrei erkannt, dass das streitgegenständliche Sitzkissen in die Code-Nr. 9021 1910 001 des Deutschen Gebrauchszolltarifs einzureihen ist. Die Verwaltungsentscheidungen haben die Ware zu Unrecht der Unterpos. 8714 20 00 KN 1998 zugewiesen.
1. Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) wie auch des erkennenden Senats (vgl. etwa —Vobis—, EuGHE 1996, I-3047 Rz. 13; Senatsurteil vom VII R 36/94, BFH/NV 1995, 846) ist das entscheidende Kriterium für die zollrechtliche Tarifierung von Waren allgemein in deren objektiven Merkmalen und Eigenschaften zu suchen, wie sie im Wortlaut der Positionen und Unterpositionen und in den Anmerkungen zu den Abschnitten oder Kapiteln des Gemeinsamen Zolltarifs festgelegt sind. Dazu gibt es auch Erläuterungen, die für die KN von der Europäischen Kommission ausgearbeitet wurden und ein wichtiges, wenn auch nicht verbindliches Erkenntnismittel für die Auslegung der einzelnen Tarifpositionen darstellen (vgl. etwa die —Knubben—, EuGHE 1997, I-7039 Rz. 14, und vom Rs. C-11/93 —Siemens Nixdorf—, EuGHE 1994, I-1945 Rz. 11 und 12). Auf den Verwendungszweck darf nur dann abgestellt werden, wenn im Wortlaut der Bestimmungen oder in den Erläuterungen dazu ausdrücklich auf dieses Kriterium Bezug genommen wird (vgl. Senatsurteil vom VII R 91/97, BFH/NV 1999, 234). Bei der insoweit geforderten Verwendungseignung kommt es nicht auf den Verwendungszweck an, den der Zollbeteiligte seiner Ware beimisst oder für den er sie bestimmt hat. Maßgebend ist für die zolltarifliche Einordnung die objektive Beschaffenheit anhand der an der Ware feststellbaren Merkmale und Eigenschaften. Im Augenblick der Zollabfertigung muss die ausschließliche oder hauptsächliche Verwendungseignung der Ware erkennbar sein.
2. Das Sitzkissen gehört nicht als Zubehör für einen Rollstuhl (Pos. 8714 KN) zum Abschn. XVII. Die vorliegende Ware wird durch die Anmerkung 2 g zu Abschn. XVII KN aus diesem Abschnitt ausgewiesen. Nach dieser Anmerkung sind umfassend alle Instrumente, Apparate und Geräte des Kap. 90 KN und damit auch solche Waren, die als Vorrichtungen bezeichnet werden, nicht als ”Teile” oder als ”Zubehör” einzureihen, auch wenn sie erkennbar für Waren des Abschn. XVII KN bestimmt sind.
Innerhalb des Kap. 90 KN erfasst die Pos. 9021 KN ihrem Wortlaut nach ”Orthopädische Apparate und andere orthopädische Vorrichtungen, einschließlich Krücken sowie medizinisch-chirurgische Gürtel und Bandagen; Schienen und andere Vorrichtungen zum Behandeln von Knochenbrüchen; Prothesen und andere Waren der Prothetik; Schwerhörigengeräte und andere Vorrichtungen zum Beheben von Funktionsschäden oder Gebrechen, zum Tragen in der Hand oder am Körper oder zum Einpflanzen in den Organismus.”
3. Das Sitzkissen ist eine orthopädische Vorrichtung i.S. der Unterpos. 9021 19 10 KN, weil es jeweils maßangefertigt wird und der Verhütung und Korrektur bestimmter körperlicher Fehlbildungen dient.
a) Für orthopädische Vorrichtungen der Pos. 9021 KN ist kennzeichnend, dass sie den Funktionsschäden, die sie beheben sollen, speziell angepasst und speziell für eine bestimmte Person gefertigt sind (vgl. —3M Medica—, EuGHE 1994, I-1123). Der EuGH stützt sich für seine Auffassung insbesondere auf die Erläuterungen zum Harmonisierten System (ErlHS), nach denen u.a. maßgerecht gefertigte Spezialeinlagen für Schuhe und maßgerecht angefertigte orthopädische Schuhe mit verlängerter Hinterkappe aus Leder (ErlHS zu 9021/1 Rz. 11.0 und 12.0) als ”orthopädische Vorrichtungen” anzusehen sind. Mit dem Kriterium der Maßanfertigung bei orthopädischen Vorrichtungen trägt der EuGH dem Umstand Rechnung, dass die Pos. 9021 KN keine Auffangposition darstellt, sondern besonders herausgehobene ”Hilfsmittel” und einzelne Serienprodukte, die in der Pos. 9021 KN besonders genannt sind (wie Krückstöcke), umfasst. Nicht in die Pos. 9021 KN einzureihen sind daher z.B. seriengefertigte Schwangerschafts- oder Mutterschaftsgürtel (vgl. ErlHS zu 9021/1 Rz. 23.7), ebenso wie einfache Fußschützer oder Vorrichtungen zum Vermindern des Druckes an bestimmten Stellen. Das gleiche gilt für serienmäßig hergestellte Schuhe mit reliefartig geformter Innensohle zum Stützen des Fußgewölbes bei Plattfuß (ErlHS zu 9021/1 Rz. 23.8). Das streitgegenständliche Sitzkissen ist kein solches Serienprodukt, sondern eine auf die speziellen Bedürfnisse des jeweiligen Rollstuhlfahrers zugeschnittene maßangefertigte Ware.
b) Nach den ErlHS (vgl. Rz. 02.0 bis 04.1 zu 9021/1) sollen die orthopädischen Vorrichtungen der Pos. 9021 KN dem Verhüten oder Korrigieren bestimmter körperlicher Missbildungen (das Wort Missbildungen wird in der medizinischen Fachsprache weitgehend durch den sinngleichen Begriff der ”Fehlbildungen” ersetzt, vgl. Brockhaus, Die Enzyklopädie, 7. Band, 20. Aufl. 1997), oder dem Stützen oder Halten von Körperteilen nach einer Krankheit oder Operation dienen.
Eine Vorrichtung dient der Korrektur von Fehlbildungen (Missbildungen), wenn sie dazu beiträgt, die bestehende Fehlbildung eines oder mehrerer Körperteile in Richtung auf den gesunden Zustand zurückzuführen. Eine orthopädische Vorrichtung ist von prophylaktischer, also verhütender Natur, wenn sie aufgrund ihrer objektiven Beschaffenheit geeignet ist, das Entstehen von körperlichen Fehlbildungen zumindest vorübergehend zu verhindern. Hilfsmittel, die (lediglich) dazu dienen, die nachteiligen Folgen von körperlichen Fehlbildungen zu mildern statt diese selbst zumindest teilweise auszugleichen, dienen nicht der Korrektur oder Verhütung von Fehlbildungen und gehören insoweit nicht zu den orthopädischen Vorrichtungen der Pos. 9021 KN.
Das Sitzkissen minimiert nach der Herstellerbeschreibung die Gewebeverformung und die dadurch verursachten Druckstellen und Beschwerden, weil es nach den speziellen Maßen des Benutzers gefertigt wird. Damit wird jedoch keine körperliche Fehlbildung korrigiert, sondern nur dafür Sorge getragen, dass der durch das ständige Sitzen verursachte Druck auf die gesamte Sitzfläche beim Rollstuhlfahren verteilt wird, was gleichzeitig eine Dekubitusprophylaxe (Wundbrandvorsorge) ermöglicht. Dass insoweit auch eine körperliche Fehlbildung korrigiert oder verhütet wird, lässt sich weder aus dem von der Klägerin vorgelegten Gutachten noch aus der dem Antrag auf Erteilung einer vZTA beigefügten Herstellerbeschreibung der Ware entnehmen.
Letztlich kommt es hierauf jedoch nicht an, weil das Sitzkissen nach den Feststellungen des FG über eine weitere Wirkungsweise verfügt, die sowohl der Verhütung als auch der Korrektur einer Fehlbildung dient. Das FG ist in revisionsrechtlich nicht zu beanstandender Weise zu dem Ergebnis gelangt, dass das Sitzkissen nach dem fachärztlichen Gutachten vom —neben der Dekubitusprophylaxe— auch noch eine weitere, für die Einreihung in die Unterpos. 9021 19 10 KN entscheidende, Wirkungsweise hat. Diese Würdigung des FG ist möglich; sie verstößt weder gegen Denkgesetze noch gegen Erfahrungssätze, so dass der Senat an die tatrichterliche Würdigung gebunden ist (§ 118 Abs. 2 FGO).
Das FG konnte —entgegen der Auffassung der OFD in der Revisionsbegründung— die fachärztliche Stellungnahme vom heranziehen, weil diese nicht nur zum kompletten ”Silhouette-System”, sondern auch zum ”Silhouette Kissensystem” und seiner Wirkungsweise Ausführungen enthält. Aus dem Gutachten wird hinreichend deutlich, dass schon das Kissen und nicht erst das komplette System der Korrektur, dem Stützen und Halten von Becken und Rumpf im Rollstuhl dient, womit Fehl- oder Schiefstände des Beckens verhindert werden. Wenn das FG aus der fachärztlichen Stellungnahme den Schluss zieht, das Sitzkissen habe eine Wirkung, die über die Dekubitusprophylaxe hinausgehe, ist dies jedenfalls möglich und entspricht im Übrigen auch der Einlassung der OFD in ihrem Schriftsatz vom an das FG. Die OFD ging bei ihrer Bewertung der fachärztlichen Stellungnahme vom vom gleichen Ansatzpunkt wie das FG aus, weil sie damals der medizinischen Sichtweise der fachärztlichen Stellungnahme uneingeschränkt gefolgt ist. Unbeachtlich ist in diesem Zusammenhang, dass die OFD unter Zugrundelegung der breiten Wirkungsweise des Sitzkissens (”bestmögliche Beckenposition beim Sitzen”) letztlich zu einem anderen zolltariflichen Ergebnis gekommen ist, weil eine Zuweisung des Sitzkissens zur Pos. 9021 KN nach ihrer Auffassung deswegen nicht in Betracht kam, weil das Kissen —anders als bei orthopädischen Apparaten und anderen Vorrichtungen— nicht ständig am menschlichen Körper wirke, sondern dazu bestimmt sei, die Umwelt des Behinderten dessen anatomischen Gegebenheiten anzupassen.
Dass die vom FG festgestellte Stützfunktion zur Vermeidung oder zur Korrektur eines Beckenschiefstandes —anders als die OFD meint— ausreichend ist für eine Einreihung des Sitzkissens in die Pos. 9021 KN, belegen schließlich auch die ErlHS (9021/1 Rz. 16.0 bis 21.0), die unterschiedliche Streck- und Stützapparate der Pos. 9021 KN zuweisen.
4. Der Senat ist in Anwendung der Grundsätze des 283/81 (EuGHE 1982, 3415 —C.I.L.F.I.T.—) nicht nach Art. 234 Abs. 3 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft i.d.F. des Vertrages von Amsterdam vom (Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften —ABlEG— Nr. C 340/1; ABlEG 1999 Nr. L 114/56) zur Einholung einer Vorabentscheidung des EuGH verpflichtet. Die Auslegung des maßgebenden Begriffs ”orthopädische Vorrichtung” der Pos. 9021 KN hält der Senat für zweifelsfrei und offenkundig; er ist davon überzeugt, dass für die Gerichte der übrigen Mitgliedstaaten und für den EuGH die gleiche Gewissheit bestünde.
5. Die Entscheidung ergeht mit Einverständnis der Beteiligten durch Urteil ohne mündliche Verhandlung (§§ 121, 90 Abs. 2 FGO). Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 2 FGO.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
Fundstelle(n):
BFH/NV 2001 S. 499 Nr. 4
RAAAA-67494