BSG Beschluss v. - B 6 KA 89/16 B

Vertragsärztliche Versorgung - umsatzmäßig unterdurchschnittliche Praxis - Fallzahlerhöhung - Durchschnittsumsatz der Arztgruppe - völlige Freistellung von der Wachstumsbegrenzung - Möglichkeit zur Steigerung der Fallzahl - Berücksichtigung anstelle eines Fallzahlzuwachses (oder zumindest gleichberechtigt daneben) auch von Fallwertsteigerungen - Verpflichtung nur in besonderen Fallkonstellationen

Gesetze: § 85 Abs 4 SGB 5, § 87b Abs 2 SGB 5 vom

Instanzenzug: Az: S 1 KA 134/13 Urteilvorgehend Landessozialgericht Berlin-Brandenburg Az: L 24 KA 25/15 Urteil

Gründe

1I. Die Beteiligten streiten um die Höhe des Honorars der Klägerin in den Quartalen I, III und IV/2011. Die Klägerin ist seit Dezember 2008 zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassen. Die beklagte KÄV ging davon aus, dass es sich bei der Praxis der Klägerin bezogen auf die streitgegenständlichen Quartale um eine „Jungpraxis“ handelt. Sie wies der Klägerin für die genannten Quartale deshalb zunächst - ausdrücklich vorläufig - ein RLV zu, das auf der Grundlage der durchschnittlichen Fallzahl der Arztgruppe ermittelt worden war. Mit den später ergangenen Honorarbescheiden änderte die Beklagte die RLV-Zuweisung, indem sie anstelle der durchschnittlichen Fallzahl die (unter dem Durchschnitt der Fachgruppe liegende) tatsächliche Fallzahl der Klägerin zugrunde legte. Daraus folgten Vergütungsquoten von 79,93 % im Quartal I/2011, 89,16 % im Quartal III/2011 und 91,14 % im Quartal IV/2011. Widersprüche, Klage und Berufung der Klägerin, mit der sie sich im Wesentlichen gegen die Berechnung des RLV unter Zugrundelegung ihrer tatsächlichen Fallzahl anstelle des Durchschnitts der Fachgruppe wandte, blieben ohne Erfolg.

2Mit ihrer Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in diesem Urteil macht die Klägerin die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (Zulassungsgrund gemäß § 160 Abs 2 Nr 1 SGG) geltend.

3II. Die Beschwerde der Klägerin ist nicht begründet. Die geltend gemachte grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache liegt nicht vor.

41. Die grundsätzliche Bedeutung einer Rechtssache setzt eine Rechtsfrage voraus, die in dem angestrebten Revisionsverfahren klärungsfähig (entscheidungserheblich) sowie klärungsbedürftig und über den Einzelfall hinaus von Bedeutung ist (vgl - SozR 4-1500 § 153 Nr 3 RdNr 13 mwN; B 9a/9 VG 15/04 B - SozR 4-1500 § 160 Nr 5 RdNr 3). Die Klärungsbedürftigkeit fehlt dann, wenn die Rechtsfrage bereits geklärt ist und/oder wenn sie sich ohne Weiteres aus den Rechtsvorschriften und/oder aus der bereits vorliegenden Rechtsprechung klar beantworten lässt (hierzu s zB - SozR 3-1500 § 146 Nr 2 S 6; - SozR 3-1500 § 160a Nr 21 S 38; vgl auch - SozR 3-4100 § 111 Nr 1 S 2 f; - SozR 3-2500 § 240 Nr 33 S 151 f mwN). Diese Anforderungen sind verfassungsrechtlich unbedenklich (s die BVerfG-Angaben im - SozR 4-1500 § 153 Nr 3 RdNr 13 sowie BVerfG <Kammer> Beschluss vom - 1 BvR 2597/05 - SozR 4-1500 § 160a Nr 16 RdNr 4 f; BVerfG <Kammer> Beschluss vom - 1 BvR 2856/07 - SozR 4-1500 § 160a Nr 24 RdNr 5).

6Soweit der Fragestellung die Annahme der Klägerin zugrunde liegt, dass ihr RLV nicht mit dem aktuellen Fallwert, sondern dem Fallwert der Fachgruppe aus dem entsprechenden Quartal des Vorjahres gebildet worden sei, so trifft dies nicht zu. Richtig ist, dass für die Berechnung des Fallwerts an das entsprechende Vorjahresquartal angeknüpft wird. Das gilt aber nicht nur für die Klägerin oder andere Jungpraxen. Vielmehr kam der nach Teil F I Nr 3.2.1 BewA-Beschluss vom (218. Sitzung vom idF der Beschlussfassung in der 242. Sitzung) allgemein maßgebende arztgruppenspezifische Fallwert zur Anwendung. Da der Berechnung der RLV der Klägerin kein anderer Fallwert zugrunde gelegt wurde als der Berechnung des RLV der anderen Ärzte ihrer Arztgruppe, erreicht sie bei durchschnittlicher Fallzahl auch die durchschnittliche Höhe des RLV. Damit kann sie auch den Durchschnittsumsatz der Fachgruppe erreichen. Dass die Klägerin ein niedrigeres RLV als der Durchschnitt der Fachgruppe erreicht, liegt in deren unterdurchschnittlicher Fallzahl begründet.

7Im Rahmen der Begründung der Klärungsfähigkeit konkretisiert die Klägerin die Rechtsfrage indes dahingehend, dass es ihr auf die Frage ankommt, ob ihr nicht - anstelle der Berechnung des RLV unter Berücksichtigung ihrer tatsächlichen Fallzahl im Abrechnungsquartal - ein RLV in Höhe des Durchschnitts der Fachgruppe hätte zuerkannt werden müssen. Insoweit ist die Beschwerde der Klägerin jedoch nicht begründet, weil sich diese Frage aus der bereits vorliegenden Rechtsprechung klar beantworten lässt:

8Nach ständiger Rechtsprechung müssen umsatzmäßig unterdurchschnittliche Praxen - typischerweise insbesondere neu gegründete Praxen - die Möglichkeit haben, durch Erhöhung der Zahl der von ihnen behandelten Patienten den durchschnittlichen Umsatz der Arztgruppe zu erreichen (vgl zB - BSGE 83, 52, 55, 58 f = SozR 3-2500 § 85 Nr 28 S 204, 207 f; - BSGE 92, 10 = SozR 4-2500 § 85 Nr 5, RdNr 23 mwN). Daraus folgt, dass Honorarbegrenzungsregelungen grundsätzlich nicht so ausgestaltet werden müssen, dass ein Erreichen des Durchschnittsumsatzes unabhängig von der Fallzahl erreicht werden kann. Dies gilt auch für umsatzmäßig unterdurchschnittliche Praxen in der Aufbauphase. Der Unterschied zu anderen unterdurchschnittlich abrechnenden Praxen besteht lediglich darin, dass Praxen in der Aufbauphase die Möglichkeit haben müssen, den durchschnittlichen Umsatz nicht erst „in absehbarer Zeit“ und damit innerhalb von fünf Jahren (vgl - BSGE 92, 233 = SozR 4-2500 § 85 Nr 9, RdNr 18; - SozR 4-2500 § 85 Nr 45 RdNr 29) zu erreichen, sondern dass ihnen die Steigerung auf den Durchschnittsumsatz sofort ermöglicht werden muss (vgl - SozR 4-2500 § 87b Nr 2 RdNr 18; - SozR 4-2500 § 85 Nr 50 RdNr 15).

9Soweit der Senat in einigen Urteilen formuliert hat, dass neu gegründete Praxen für die Zeit des Aufbaus von der Wachstumsbegrenzung „völlig freizustellen“ seien ( - BSGE 92, 233 = SozR 4-2500 § 85 Nr 9, RdNr 19; - SozR 4-2500 § 85 Nr 45 RdNr 28), handelte es sich um eine Formulierung, die sich in erster Linie auf die Möglichkeit zur Steigerung der Fallzahl bezog. Auf die Möglichkeit zu einem Wachstum allein durch eine Steigerung des Fallwerts hat der Senat diese Aussage hingegen nie bezogen. Soweit der Senat in einer Entscheidung vom (B 6 KA 5/08 R - SozR 4-2500 § 85 Nr 45 RdNr 27) erwogen hat, ob eine Steigerungsmöglichkeit auch in der Form gewährt werden kann oder muss, dass anstelle eines Fallzahlzuwachses (oder zumindest gleichberechtigt daneben) auch Fallwertsteigerungen zu berücksichtigen sind, hat er in seiner (in der Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde unberücksichtigt gebliebenen) Entscheidung vom (B 6 KA 4/15 R - SozR 4-2500 § 85 Nr 85 RdNr 35) klargestellt, dass eine solche Verpflichtung nur in besonderen Fallkonstellationen in Betracht kommt, etwa im Zusammenhang mit einer Änderung der Praxisausrichtung. Eine solche Konstellation steht hier nicht infrage: In dem hier maßgebenden Zeitraum wurde einer typischerweise mit höheren Fallwerten verbundenen besonderen Praxisausrichtung, ua durch qualifikationsgebundene Zusatzvolumen und durch die Möglichkeit zur Berücksichtigung von Praxisbesonderheiten Rechnung getragen. Dass die Klägerin von diesen Regelungen nicht profitiert, ist darauf zurückzuführen, dass sie die Voraussetzungen nicht erfüllt. Eine besondere Praxisausrichtung oder eine Spezialisierung macht sie nicht geltend und dafür bestehen auch keine Anhaltspunkte. Ihr Fallwert lag kontinuierlich unter dem durchschnittlichen Fallwert der Fachgruppe. Dass die Klägerin unter diesen Umständen und unter Berücksichtigung der dazu in der Rechtsprechung des BSG entwickelten Maßstäbe nicht beanspruchen kann, dass ihr als Jungpraxis - unabhängig von der tatsächlichen Fallzahl - ein RLV mindestens in Höhe des Durchschnitts der Fachgruppe zugebilligt wird, unterliegt keinem Zweifel.

102. Die Kostenentscheidung folgt aus § 197a Abs 1 Satz 1 Teilsatz 3 SGG iVm einer entsprechenden Anwendung der §§ 154 ff VwGO. Danach trägt die Klägerin die Kosten des von ihr erfolglos geführten Rechtsmittels (§ 154 Abs 2 VwGO).

113. Die Festsetzung des Streitwerts hat ihre Grundlage in § 197a Abs 1 Satz 1 Teilsatz 1 SGG iVm § 63 Abs 2 Satz 1, § 52 Abs 3 Satz 1, § 47 Abs 1 und 3 GKG.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BSG:2017:280617BB6KA8916B0

Fundstelle(n):
KAAAG-53120