Blindengeldleistung in Nordrhein-Westfalen: Regress des Sozialleistungsträgers beim Schädiger aus übergegangenem Recht
Leitsatz
Wird nach einem Landes-Blindengesetz (hier: GHBG NRW § 3 Abs. 1) Blindenhilfe mit der Maßgabe gewährt, dass auf bürgerlich-rechtlichen Rechtsvorschriften beruhende Schadensersatzleistungen Dritter zum Ausgleich der durch die Blindheit bedingten Mehraufwendungen auf das Blindengeld anzurechnen sind, kann der Sozialleistungsträger keinen Regress beim Schädiger aus übergegangenem Recht gemäß § 116 Abs. 1 Satz 1 SGB X nehmen.
Gesetze: § 116 Abs 1 S 1 SGB 10, § 3 Abs 1 GHBG NW
Instanzenzug: Az: I-26 U 14/16 Urteilvorgehend LG Bochum Az: I-6 O 205/15
Tatbestand
1Der Kläger, ein Sozialleistungsträger, macht gegen den beklagten Augenarzt Regressansprüche wegen der Zahlung von Blindengeld an Herrn D. (im Folgenden: Geschädigter) geltend.
2Der Geschädigte war in den Jahren 2006 und 2007 wegen Augenschmerzen mehrfach bei dem als Augenarzt niedergelassenen Beklagten vorstellig geworden. Er klagte im September 2007 auch über Dunkelsehen auf dem linken Auge. Bei einem Türkeiaufenthalt ließ sich der Geschädigte dort augenärztlich untersuchen. Die Untersuchung ergab Hinweise auf ein fortgeschrittenes Glaukom. Nach seiner Rückkehr suchte er eine andere Arztpraxis auf. Trotz zweier Operationen konnte das Augenlicht nicht gerettet werden. Das Gesichtsfeld des Geschädigten ist auf unter 5° verengt, womit er praktisch blind ist.
3Der Kläger zahlt dem Geschädigten seit Januar 2009 Blindengeld nach den Vorschriften des Gesetzes über die Hilfen für Blinde und Gehörlose des Landes Nordrhein-Westfalen (GHBG NRW) vom (GV. NRW 1997, 430 ff.).
4Daneben machte der Geschädigte Schadensersatzansprüche gegenüber dem Haftpflichtversicherer des Beklagten geltend. Der vom Haftpflichtversicherer eingeschaltete Gutachter bestätigte grobe Behandlungsfehler des Beklagten. Im Mai 2010 bot der Haftpflichtversicherer eine Abfindung von 450.000 € an, davon 50.000 € als pauschale Entschädigung für die durch Blindheit bedingten Mehraufwendungen. Anfang Juli 2010 bot der Haftpflichtversicherer 475.000 € an. Der Geschädigte unterschrieb die Abfindungsvereinbarung und erhielt das Geld ausbezahlt.
5Gegenüber einem Sachbearbeiter des Klägers erklärte der Bevollmächtigte des Geschädigten im September 2010, dieser habe einen Betrag von 50.000 € für die durch Blindheit bedingten Mehraufwendungen erhalten. Der Kläger kürzte daraufhin unter Berücksichtigung der statistisch verbleibenden Lebenserwartung des Geschädigten das Blindengeld um monatlich 110 €.
6Das Landgericht hat der auf Ersatz des vom Kläger bereits geleisteten, gekürzten Blindengeldes sowie Feststellung der weiteren Einstandsverpflichtung des Beklagten gerichteten Klage stattgegeben. Auf die Berufung des Beklagten hat das Oberlandesgericht das landgerichtliche Urteil abgeändert und die Klage abgewiesen. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision begehrt der Kläger die Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils.
Gründe
I.
7Das Berufungsgericht ist der Auffassung, dass die für einen gesetzlichen Forderungsübergang nach § 116 SGB X notwendige sachliche Kongruenz zwischen dem vom Kläger geleisteten Blindengeld und dem Anspruch des Geschädigten auf Ersatz seiner blindheitsbedingten Mehraufwendungen fehle. Die im Sozialrecht vorgenommene abstrakte Berechnung des Blindengeldes, die für sich gar nicht in Anspruch nehme, jeglichen Mehraufwand abzudecken, sei auf den für den Forderungsübergang nach § 116 Abs. 1 SGB X maßgeblichen zivilrechtlichen Schadensersatzanspruch schwerlich übertragbar, weil es nach haftungsrechtlichen Gesichtspunkten allein auf den tatsächlich entstandenen blindheitsbedingten Mehrbedarf ankomme. Entscheidend komme hinzu, dass auch in Fällen einer sachlichen Kongruenz zu prüfen sei, ob Sinn und Zweck des § 116 SGB X einen Anspruchsübergang rechtfertigten, wenn der Ersatzanspruch durch den Leistungsträger anstelle des Geschädigten geltend gemacht werde. Es solle sichergestellt werden, dass eine vollständige Schadensdeckung beim Geschädigten erreicht werde und nicht allein deswegen, weil der Sozialversicherungsträger (nur) einen Teil abdecke, ein Schadensrest ungedeckt bleibe.
II.
8Das angefochtene Urteil hält im Ergebnis revisionsrechtlicher Prüfung stand.
9Der Kläger ist bereits nicht aktivlegitimiert, weil im Streitfall ein Übergang der Ansprüche des Geschädigten gegen den Schädiger auf Ersatz blindheitsbedingter Mehraufwendungen auf den Kläger nach § 116 Abs. 1 Satz 1 SGB X wegen der vorrangigen Anrechnungsregelung des § 3 Abs. 1 GHBG NRW ausscheidet.
101. Blinde erhalten nach § 1 Abs. 1 GHBG NRW zum Ausgleich der durch die Blindheit bedingten Mehraufwendungen Blindengeld. Nach § 3 Abs. 1 GHBG NRW werden Leistungen, die Blinde zum Ausgleich der durch die Blindheit bedingten Mehraufwendungen nach anderen Rechtsvorschriften erhalten, auf das Blindengeld angerechnet. Ausgenommen sind Leistungen aus bürgerlich-rechtlichen Unterhaltsansprüchen, jedoch nicht Leistungen von Schadensersatz.
112. Aus dieser Regelung ergibt sich, dass auf bürgerlich-rechtlichen Rechtsvorschriften beruhende Schadensersatzleistungen zum Ausgleich der durch die Blindheit bedingten Mehraufwendungen auf das Blindengeld anzurechnen sind, was der Kläger auch getan hat. Die so gegebene Anrechnungsmöglichkeit ermöglicht es dem Kläger, ohne Legalzession die Kosten für die Solidargemeinschaft gering zu halten, indem tatsächlich erfolgte Schadensersatzleistungen auf das Blindengeld angerechnet werden. Deshalb können die staatlichen Stellen, die nach den Landes-Blindengesetzen mit einer entsprechenden Anrechnungsregelung Blindenhilfe gewähren, keinen Regress beim Schädiger aus übergegangenem Recht gemäß § 116 Abs. 1 Satz 1 SGB X nehmen (vgl. Plagemann, in: von Maydell/Ruland/Becker, Sozialrechtshandbuch, 5. Aufl. 2012, § 9 Rn. 20).
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2017:110417UVIZR454.16.0
Fundstelle(n):
IAAAG-46451