BGH Beschluss v. - 1 StR 487/16

Verfahrensrüge in Strafsachen: Ausschluss der Öffentlichkeit beim letzten Wort des Angeklagten

Gesetze: § 171b Abs 3 S 2 GVG, § 171b Abs 5 GVG, § 336 S 2 StPO, § 338 Nr 6 StPO

Instanzenzug: LG Ravensburg Az: 430 Js 4951/12 - 1 KLsnachgehend Az: 1 StR 487/16 Beschluss

Gründe

1Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in 201 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Jahren und drei Monaten verurteilt. Die Revision des Angeklagten hat den aus der Beschlussformel ersichtlichen Teilerfolg (§ 349 Abs. 4 StPO). Im Übrigen ist sie unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.

I.

2Das Verfahren war gemäß § 206a Abs. 1 StPO einzustellen, soweit der Angeklagte in Fall 199 der Urteilsgründe wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern gemäß § 176 Abs. 5 Nr. 2 StGB aF verurteilt worden ist.

3Zwar erfüllt das unter Fall 199 der Urteilsgründe geschilderte Verhalten des Angeklagten zwischen dem und dem den Tatbestand des nach § 2 Abs. 3 StGB anwendbaren § 176 Abs. 5 Nr. 2 StGB in der bis zum gültigen Fassung. Jedoch war die Tat bei Einleitung des Ermittlungsverfahrens im Jahr 2013 bereits verjährt. § 176 Abs. 5 StGB aF sah nämlich als Rechtsfolge Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe vor, so dass nach § 78 Abs. 3 Nr. 4 StGB die fünfjährige Verjährungsfrist galt. Da die Verjährung nach § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB aF bis zur Vollendung des achtzehnten Lebensjahres des Opfers ruhte, begann die Verjährungsfrist erst am 18. Geburtstag des Opfers, dem , zu laufen und war im Jahr 2013 bei Einleitung des Ermittlungsverfahrens bereits verstrichen.

4Dieses von Amts wegen zu beachtende Verfahrenshindernis gebietet die Einstellung des Verfahrens im Fall 199 nach § 206a Abs. 1 StPO und führt zu einer entsprechenden Änderung des Schuldspruchs.

5Es kommt dadurch zum Wegfall der für Fall 199 verhängten Einzelfreiheitsstrafe von sieben Monaten. Der Ausspruch über die Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Jahren und drei Monaten hat dennoch Bestand, da der Senat in Anbetracht der für die übrigen Taten verhängten 200 Einzelfreiheitsstrafen zwischen neun Monaten sowie zwei Jahren und acht Monaten ausschließen kann, dass die Gesamtfreiheitsstrafe ohne die in Wegfall geratene Einzelfreiheitsstrafe niedriger ausgefallen wäre.

II.

6Im Übrigen ist die Revision aus den vom Generalbundesanwalt in seiner Antragsschrift vom ausgeführten Gründen unbegründet.

7Näherer Erörterung bedarf hier nur die Verfahrensrüge nach § 338 Nr. 6 StPO:

8Die Revision rügt einen Verstoß gegen den Grundsatz der Öffentlichkeit, indem diese am nach Ausschluss gemäß § 171b Abs. 3 Satz 2 GVG bei „den Plädoyers von Staatsanwaltschaft, Nebenklägervertreter und Verteidiger“ für das letzte Wort des Angeklagten nicht wiederhergestellt worden sei.

9Die Rüge ist nicht nach § 171b Abs. 5 GVG ausgeschlossen. Nach § 171b Abs. 5 GVG i.V.m. § 336 Satz 2 StPO ist die gerichtliche Entscheidung darüber der revisionsgerichtlichen Kontrolle entzogen, ob die in § 171b Abs. 1 bis 4 GVG normierten tatbestandlichen Voraussetzungen für einen Ausschluss der Öffentlichkeit im Einzelfall vorlagen. Dies hindert jedoch nicht die Überprüfung der Frage, ob eine generelle Befugnis besteht, die Öffentlichkeit während eines bestimmten Verfahrensabschnitts auszuschließen (vgl. bzgl. Verlesung der Anklageschrift: , BGHSt 57, 273 ff. Rn. 7; bzgl. der Schlussanträge: , NStZ 2016, 180).

10Die Rüge ist jedoch unbegründet. Nach § 171b Abs. 3 Satz 2 GVG ist die Öffentlichkeit für „die Schlussanträge“ in Verfahren wegen der in § 171b Abs. 2 GVG genannten Straftaten auszuschließen, wenn die Verhandlung unter den Voraussetzungen des § 171b Abs. 1 oder 2 GVG oder des § 172 Nr. 4 GVG ganz oder zum Teil unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattgefunden hat.

11Vorliegend war die Öffentlichkeit in einem Verfahren wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern an vorangegangenen Sitzungstagen nach § 171b Abs. 1 und 3 GVG - während Zeugenvernehmungen und der vom Verteidiger vorgetragenen Einlassung des Angeklagten - zeitweise ausgeschlossen gewesen. Für diesen Fall bestimmt § 171b Abs. 3 Satz 2 GVG einen zwingenden Ausschluss der Öffentlichkeit auch für „die Schlussanträge“.

12Zu den „Schlussanträgen“ im Sinne des § 171b Abs. 3 Satz 2 GVG zählt auch das letzte Wort des Angeklagten. Dies gebieten Sinn und Zweck der Vorschrift.

13Der Ausschluss der Öffentlichkeit nach § 171b GVG dient dem Schutz sowohl der Intimsphäre der Prozessbeteiligten als auch der von Zeugen. Umstände aus dem persönlichen Lebensbereich, insbesondere aus dem Sexualbereich, sollen in der Regel nicht öffentlich erörtert werden müssen (vgl. BT-Drucks. 10/5305, S. 23). Dies soll nicht nur den Zeugen schützen, sondern ein Ausschluss der Öffentlichkeit ist nach § 171b Abs. 1 Satz 1 GVG vielmehr auch dann vorgesehen, wenn allein der Angeklagte dies zum Schutz seines persönlichen Lebensbereichs beantragt (vgl. BGH, Beschlüsse vom - 1 StR 212/14 und vom - 2 StR 311/15, NStZ 2016, 180).

14§ 171b Abs. 3 Satz 2 GVG sieht einen zwingenden Ausschluss der Öffentlichkeit bei den Schlussanträgen für den Fall vor, dass die Öffentlichkeit bereits im Verlauf der Hauptverhandlung nach § 171b Abs. 1 oder 2 GVG oder § 172 Nr. 4 GVG ausgeschlossen war. In den Schlussanträgen wird nämlich typischerweise der Inhalt der Hauptverhandlung, mithin auch die den persönlichen Lebensbereich eines Prozessbeteiligten oder Zeugen betreffenden Umstände, erneut aufgerollt (vgl. BT-Drucks. 17/12735, S. 17 f.). Dies gilt für das letzte Wort ebenso wie für die Plädoyers von Staatsanwaltschaft und Verteidigung. Auch der Angeklagte kann sich in seinem letzten Wort auf Beweiserhebungen aus der Hauptverhandlung beziehen, die den persönlichen Lebensbereich eines Prozessbeteiligten oder Zeugen betreffen. Eine Differenzierung zwischen den Schlussanträgen der Prozessbeteiligten und dem letzten Wort des Angeklagten ist deshalb unter dem Gesichtspunkt des Schutzzwecks dieser Vorschrift nicht veranlasst. Im Übrigen wurde von einer Beschränkung des Öffentlichkeitsausschlusses auf einzelne Abschnitte der Plädoyers, in denen die betreffenden Umstände erörtert werden, bewusst abgesehen, da eine entsprechende Teilung praktisch nicht durchführbar wäre (vgl. BT-Drucks. 17/12735, S. 18). Für das letzte Wort gilt Gleiches.

15Vor allem spricht jedoch für den Ausschluss der Öffentlichkeit nach § 171b Abs. 3 Satz 2 GVG auch während des letzten Wortes des Angeklagten, dass dieser andernfalls im letzten Wort eingeschränkt sein könnte. Sinn und Zweck des letzten Wortes nach § 258 Abs. 2 und 3 StPO ist es, dem Angeklagten zu ermöglichen, auch noch im letzten Augenblick vor der Urteilsverkündung für ihn günstige Umstände gegenüber dem Gericht vorzubringen (vgl. , NStZ 1987, 423). Hierbei könnte der Angeklagte in öffentlicher Sitzung gehemmt sein, wenn es sich um Umstände handelt, die seinen persönlichen Lebensbereich betreffen, und über die er sich zuvor nur in nicht-öffentlicher Sitzung geäußert hat. Dies soll § 171b Abs. 3 Satz 2 GVG jedoch gerade verhindern (vgl. , NStZ 2016, 180).

16Dieser Auslegung von § 171b Abs. 3 Satz 2 GVG steht auch nicht der Wortlaut der Vorschrift „Schlussanträge“ entgegen. Vielmehr spricht das Gesetz auch im Rahmen von § 258 Abs. 1 StPO davon, dass nach Schluss der Beweisaufnahme der Staatsanwalt und sodann der Angeklagte „zu ihren Ausführungen und Anträgen“ das Wort erhalten. § 258 Abs. 2 StPO stellt nur eine Konkretisierung der Reihenfolge dahingehend dar, dass dem Angeklagten - auch im Falle einer Erwiderung der Staatsanwaltschaft - das letzte Wort zusteht. Es handelt sich hierbei jedoch offensichtlich um einen Unterfall der „Ausführungen und Anträge“ aus § 258 Abs. 1 StPO, die als gesetzliche Überschrift den Titel „Schlussvorträge“ tragen. Es spricht daher bereits der Wortlaut dafür, das letzte Wort des Angeklagten, das bei einem nicht-verteidigten Angeklagten kaum von seinem Schlussantrag getrennt werden kann, als Unterfall der „Schlussanträge“ i.S.d. § 171b Abs. 3 Satz 2 GVG anzusehen (so wohl auch der 2. Strafsenat, der bei einem contra legem unterbliebenen Ausschluss der Öffentlichkeit nach § 171b Abs. 3 Satz 2 GVG ein Beruhen des Strafausspruchs auf diesem Verfahrensfehler nicht ausschließen konnte, da nicht ausgeschlossen werden könne, dass „der Angekl., wäre ihm das letzte Wort unter Ausschluss der Öffentlichkeit erteilt worden, Ausführungen gemacht hätte, die die Strafzumessung zu seinen Gunsten beeinflusst hätten“, , NStZ 2016, 180).

III.

17In Anbetracht des nur geringen Teilerfolgs der Revision hält der Senat es nicht für unbillig, den Angeklagten mit den vollen Rechtsmittelkosten sowie den im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen der Nebenklägerin zu belasten (§ 473 Abs. 1 Satz 1 und 2, Abs. 4 StPO).

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:


ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2016:071216B1STR487.16.0

Fundstelle(n):
XAAAG-46083