BGH Urteil v. - IV ZR 435/15

Versicherungsvertrag: Anwendbarkeit der neuen Gerichtsstandsregelung auf Streitigkeiten aus Altverträgen

Leitsatz

Der Regelungsbereich der Übergangsvorschrift in Art. 1 Abs. 1 und 2 EGVVG erfasst nicht die Gerichtsstandsregelung des § 215 VVG.

Gesetze: Art 1 Abs 1 VVGEG, Art 1 Abs 2 VVGEG, § 215 VVG

Instanzenzug: OLG Bamberg Az: 1 U 106/14vorgehend LG Würzburg Az: 94 O 2494/13 Ver

Tatbestand

1Der Kläger begehrt von der Beklagten die Rückzahlung einer Versicherungsprämie wegen fehlerhafter Beratung bei Abschluss einer Lebensversicherung, aus bürgerlich-rechtlicher Prospekthaftung sowie aufgrund ungerechtfertigter Bereicherung.

2Anfang 2006 schloss der Kläger bei der Beklagten, einem Versicherer mit Sitz in Liechtenstein, der Tochterunternehmen eines österreichischen Versicherungskonzerns ist, eine "Lebensversicherung mit Vermögensverwaltung" gegen Zahlung einer Einmalprämie von 20.000 € ab.

3Dem Vertragsschluss ging eine Beratung des Klägers durch einen Untervermittler voraus, der dem Kläger unter Verwendung von zwei Broschüren das Versicherungsprodukt, das nach den Feststellungen des Berufungsgerichts eine komplexe und risikobehaftete Anlagestrategie für das verwaltete Anlagevermögen vorsah, erläutert hatte. Der Kläger leistete den Versicherungsbeitrag. Seine Anlage entwickelte sich in der Folge jedoch nicht wie von ihm erhofft. Inzwischen ist der fast vollständige Verlust des eingesetzten Kapitals eingetreten.

4Der Kläger macht geltend, durch den Untervermittler unzureichend über Kosten und Risiken sowie die Renditeaussichten der Kapitalanlage unterrichtet worden zu sein. Diese Pflichtverletzung müsse sich die Beklagte gemäß § 278 BGB zurechnen lassen, nachdem sie sich des Untervermittlers als Erfüllungsgehilfen bedient hätte. Zudem hafte die Beklagte unter dem Gesichtspunkt der bürgerlich-rechtlichen Prospekthaftung.

5Seine auf Prämienrückzahlung gerichtete Klage hat der Kläger bei dem Landgericht erhoben, in dessen Bezirk sich sein Wohnsitz befindet. Während des erstinstanzlichen Verfahrens hat er durch seinen Prozessbevollmächtigten den Widerspruch nach § 5a VVG a.F. erklären lassen und das geltend gemachte Rückforderungsbegehren auch hierauf gestützt.

6Das Landgericht hat die Klage mangels internationaler Zuständigkeit des angerufenen Gerichts als unzulässig abgewiesen. Das Oberlandesgericht hat das Urteil aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landgericht zurückverwiesen. Mit der Revision erstrebt die Beklagte die Wiederherstellung des landgerichtlichen Urteils.

Gründe

7Das Rechtsmittel hat keinen Erfolg.

8I. Das Berufungsgericht hat ausgeführt, die internationale Zuständigkeit des angerufenen Gerichts ergebe sich aus § 215 Abs. 1 Satz 1 VVG.

9Die vorrangigen Zuständigkeitsregelungen der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 (EuGVVO 2001) und des Luganer Übereinkommens vom (LugÜ 2007) griffen nicht ein. Die EuGVVO 2001 gelte für die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union, das LugÜ 2007 für seine Zeichnerstaaten. Hierzu gehöre Liechtenstein jedoch nicht. Eine Anwendung von Art. 9 Abs. 2 EuGVVO 2001 im Hinblick auf die österreichische Konzernmutter der Beklagten scheide aus.

10Die internationale Zuständigkeit folge danach mittelbar aus den Bestimmungen über die örtliche Zuständigkeit. Insoweit sei § 215 Abs. 1 Satz 1 VVG sowohl zeitlich als auch sachlich anwendbar. Gemäß Art. 1 Abs. 1 EGVVG, der ebenso wie Art. 1 Abs. 2 EGVVG auch für prozessrechtliche Vorschriften gelte, sei das neue Versicherungsvertragsgesetz (VVG) ab dem auch auf Versicherungsverträge anzuwenden, die vor der Neukodifikation abgeschlossen worden seien. Art. 1 Abs. 2 EGVVG erfasse die vorliegende Fallkonstellation aber nicht, in der die Abwicklung eines Versicherungsfalls nicht in Rede stehe. Eine analoge Anwendung scheide aus. In sachlicher Hinsicht umfasse § 215 Abs. 1 Satz 1 VVG Ansprüche aus vorvertraglichem Verschulden ebenso wie bereicherungsrechtliche Ansprüche auf Rückerstattung der Prämie nach Widerspruch gemäß § 5a VVG a.F.

11II. Das hält der rechtlichen Überprüfung im Ergebnis stand. Das Berufungsgericht hat zu Recht angenommen, dass die deutschen Gerichte gemäß § 215 Abs. 1 Satz 1 VVG zur Entscheidung des Rechtsstreits international zuständig sind. Dies gilt für alle vom Kläger geltend gemachten Ansprüche.

121. Die nationalen Zuständigkeitsvorschriften werden hier nicht durch die Regelungen der EuGVVO 2001 oder des LugÜ 2007 verdrängt, die jeweils nach Maßgabe ihres Art. 4 Abs. 1 nicht anwendbar sind. Die Beklagte hat weder im Sinne von Art. 4, 60 Abs. 1 EuGVVO 2001 ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates noch gemäß den Art. 4, 60 Abs. 1 LugÜ 2007 im Hoheitsgebiet eines durch das Übereinkommen, dem das Fürstentum Liechtenstein nicht beigetreten ist (Senatsurteil vom - IV ZR 80/15, VersR 2016, 1099 Rn. 14 m.w.N.), gebundenen Staates. Sie ist auch entgegen der noch in der Berufungsinstanz durch den Kläger geäußerten Ansicht, auf welche die Parteien im Revisionsverfahren zu Recht nicht zurückgekommen sind, nicht mit Blick auf ihre österreichische Konzernmutter nach Art. 9 Abs. 2 EuGVVO 2001 und LugÜ 2007 so zu behandeln, wie wenn sie einen solchen Wohnsitz hätte. Ebenso ist für die Klage keine vom Wohnsitz unabhängige Zuständigkeit nach den vorrangigen Art. 22, 23 EuGVVO 2001 und LugÜ 2007 begründet, deren Voraussetzungen hier nicht vorliegen.

132. Die internationale Zuständigkeit für die Klage ergibt sich danach mittelbar aus den nationalen Vorschriften über die örtliche Zuständigkeit (Senatsurteil vom aaO Rn. 15 m.w.N.), hier aus § 215 Abs. 1 Satz 1 VVG.

14a) Dies gilt ungeachtet des Umstands, dass sich der Kläger auf keine vertraglichen Rechte beruft.

15§ 215 Abs. 1 Satz 1 VVG setzt zwar nach seinem Wortlaut eine Klage "aus dem Versicherungsvertrag" voraus. Dieser Begriff ist aber, wenn es - wie hier - um einen Versicherungsvertrag geht (vgl. dazu Senatsurteil vom - IV ZR 50/16, VersR 2017, 118 Rn. 12 m.w.N.), insofern weit auszulegen, als er alle Ansprüche umfasst, bei denen das Bestehen, Nichtbestehen oder Nichtmehrbestehen eines Versicherungsverhältnisses auch nur die Rolle einer klagebegründenden Behauptung spielt (PK-VVG/Klär, 2. Aufl. § 215 Rn. 5; Klimke in Prölss/Martin, VVG 29. Aufl. § 215 Rn. 4; HK-VVG/Muschner, 3. Aufl. § 215 Rn. 6; Wagner, VersR 2009, 1589). Sie erstreckt sich auf Streitigkeiten im Zusammenhang mit der Anbahnung, dem Abschluss, der Durchführung oder der Rückabwicklung eines Versicherungsvertrags (, juris Rn. 43 [insoweit in r+s 2016, 213 nicht abgedruckt]; Brand in Bruck/Möller, VVG 9. Aufl. § 215 Rn. 25; Klimke aaO; MünchKomm-VVG/Looschelders, 2. Aufl. § 215 Rn. 30; Fricke, VersR 2009, 15). Dies betrifft auch Ansprüche aus gesetzlichen Schuldverhältnissen, sofern diese im Zusammenhang mit einem Versicherungsvertrag stehen, wie z.B. Ansprüche aus ungerechtfertigter Bereicherung nach Widerspruch oder aus deliktischer Haftung (Brand aaO; Looschelders aaO Rn. 31; Rixecker in Langheid/Rixecker, VVG 5. Aufl. § 215 Rn. 5; Wolf in Looschelders/Pohlmann, VVG 2. Aufl. § 215 Rn. 2; Looschelders/Heinig, JR 2008, 265).

16Die Norm erfasst damit die Klage, soweit sie auf die bereicherungsrechtliche Rückabwicklung des Versicherungsvertrags nach Widerspruch (vgl. hierzu bereits Senatsurteil vom - IV ZR 80/15, VersR 2016, 1099 Rn. 1, 15) sowie auf Schadensersatz aus Beratungsverschulden bei Anbahnung des Versicherungsvertrags gerichtet ist. Letzteres schließt die Prospekthaftung im weiteren Sinne mit ein, die als Anwendungsfall der Haftung für Verschulden bei Vertragsschluss (, WM 2013, 1597 Rn. 26; st. Rspr.) hier ebenfalls auf das Verhalten des Untervermittlers im Rahmen der Beratung des Klägers über die streitgegenständliche Versicherung abstellt. Nichts anderes gilt aber auch für eventuelle Ansprüche des Klägers aus Prospekthaftung im engeren Sinne. Denn unabhängig davon, ob man diese als quasivertraglich oder -deliktisch qualifiziert (vgl. hierzu Schütze in Assmann/Schütze, Handbuch des Kapitalanlagerechts 4. Aufl. § 7 Rn. 20 f. m.w.N.), stehen sie in engem Zusammenhang mit dem Versicherungsvertrag, von dessen Abschluss sie unmittelbar abhängen (vgl. , BGHZ 115, 213, 220 f.).

17b) Wie das Berufungsgericht im Ergebnis richtig erkannt hat, ist § 215 Abs. 1 Satz 1 VVG auch in zeitlicher Hinsicht anwendbar, obgleich der Vertragsschluss noch vor der Reform des Versicherungsvertragsrechts erfolgte.

18aa) § 215 VVG wurde im Zuge dieser Reform zum als Nachfolgevorschrift zu § 48 VVG a.F. in das neue Versicherungsvertragsgesetz aufgenommen. Umstritten ist, ob und in welchem Umfang die Vorschrift von Art. 1 EGVVG erfasst wird.

19(1) Eine Ansicht, die auch das Berufungsgericht vertritt, sieht den zeitlichen Anwendungsbereich des § 215 VVG als von Art. 1 Abs. 1 EGVVG geregelt an, weil dieser nicht zwischen verschiedenen Arten von Vorschriften des Versicherungsvertragsgesetzes differenziere (OLG Bamberg VersR 2011, 513; OLG Braunschweig NJOZ 2012, 804; OLG Dresden VersR 2010, 1065, 1066; OLG Düsseldorf VersR 2010, 1354 f.; OLG Frankfurt, Beschluss vom - 14 U 61/15 unter II I 2 b bb aaa, nicht veröffentlicht; OLG Hamburg VersR 2009, 531; OLG Hamm VersR 2009, 1345, 1346; OLG München VersR 2015, 1153, 1154; OLG Naumburg VersR 2010, 374, 375; OLG Nürnberg VersR 2010, 935; OLG Rostock, Beschluss vom - 5 W 179/09, juris Rn. 8 f.; OLG Stuttgart r+s 2009, 102; VersR 2009, 246; Brand in Bruck/Möller, VVG 9. Aufl. § 215 Rn. 55; ders. in Looschelders/Pohlmann, VVG 2. Aufl. Art. 1 EGVVG Rn. 5 ff.; PK-VVG/Klär, 2. Aufl. § 215 Rn. 16; Klimke in Prölss/Martin, VVG 29. Aufl. § 215 Rn. 2; MünchKomm-VVG/Looschelders, 2. Aufl. § 215 Rn. 39; HK-VVG/Muschner, 3. Aufl. § 215 Rn. 19; Bauer/Rajkowski, VersR 2010, 1559, 1560 f.; Brand, VersR 2011, 557, 559; Wagner, VersR 2009, 1589, 1591; (mit abweichender Begründung:) Gal in Langheid/Rixecker, VVG 5. Aufl. Art. 1 EGVVG Rn. 10). Innerhalb dieser Meinung herrscht wiederum darüber Streit, ob auch Art. 1 Abs. 2 EGVVG Anwendung findet.

20Die einen wenden Art. 1 Abs. 2 EGVVG nicht an und halten § 215 VVG im Falle eines Altvertrags ab dem in zeitlicher Hinsicht ohne Einschränkung für anwendbar (Bundesregierung, BT-Drucks. 16/11480, S. 3; OLG Dresden VersR 2010, 1065, 1066; OLG Hamburg VersR 2009, 531, 532; OLG Köln VersR 2009, 1237, 1348; , juris Rn. 34 f. [insoweit in r+s 2016, 213 nicht abgedruckt]; OLG Rostock, Beschluss vom - 5 W 179/09, juris Rn. 9; Klimke in Prölss/Martin, VVG 29. Aufl. § 215 Rn. 3; Gal in Langheid/Rixecker, VVG 5. Aufl. Art. 1 EGVVG Rn. 10; Wagner, VersR 2009, 1589, 1591).

21Die anderen sehen - wie das Berufungsgericht - Art. 1 Abs. 2 EGVVG als einschlägig an und lassen § 215 VVG bei Rechtsstreitigkeiten im Zusammenhang mit Altverträgen keine Anwendung finden, wenn es um einen Versicherungsfall geht, der bis zum eingetreten ist (OLG Bamberg VersR 2011, 513; OLG Braunschweig NJOZ 2012, 804; OLG Düsseldorf VersR 2010, 1354, 1355 f.; OLG Hamm VersR 2009, 1345, 1346; OLG Naumburg VersR 2010, 374, 375; OLG Nürnberg VersR 2010, 935; Brand in Bruck/Möller, VVG 9. Aufl. § 215 Rn. 56; ders. in Looschelders/Pohlmann, VVG 2. Aufl. Art. 1 EGVVG Rn. 8; PK-VVG/Klär, 2. Aufl. § 215 Rn. 16; MünchKomm-VVG/Looschelders, 2. Aufl. § 215 Rn. 40; HK-VVG/Muschner, 3. Aufl. § 215 Rn. 20; Bauer/Rajkowski, VersR 2010, 1559, 1560 f.; Brand, VersR 2011, 557, 559 f.). Dabei besteht wiederum darüber Uneinigkeit, ob sich die Anwendung von Art. 1 Abs. 2 EGVVG auf den dort geregelten Eintritt eines Versicherungsfalls beschränkt (OLG Dresden, Urteil vom - 4 U 1175/14 unter II A 2 c, nicht veröffentlicht; OLG Frankfurt, Beschluss vom - 14 U 61/15 unter II I 2 b bb bbb (2), nicht veröffentlicht; Klimke aaO Rn. 3a; Schneider, VersR 2008, 859, 863) oder ob die Vorschrift - wie die Revision annimmt - auch Fälle umfasst, in denen die Voraussetzungen für den geltend gemachten Anspruch bereits vor dem eingetreten sind ( unter I 1, nicht veröffentlicht; LG Hanau, Urteil vom - 6 O 39/14 S. 10 f., nicht veröffentlicht). Danach wäre § 215 VVG auch bei allen Rechtsstreitigkeiten im Zusammenhang mit Altverträgen nicht anwendbar, in denen es um Ansprüche geht, die bis zum entstanden sind.

22(2) Nach der Gegenauffassung wird § 215 VVG als Norm des Prozessrechts schon von Art. 1 Abs. 1 EGVVG nicht erfasst (OLG Dresden, Urteil vom - 4 U 1175/14 unter II A 2 c, nicht veröffentlicht; OLG Frankfurt NJOZ 2009, 2246; OLG Koblenz VersR 2010, 1356; unter II b, nicht veröffentlicht; OLG Saarbrücken VersR 2008, 1337; Armbrüster in Prölss/Martin, VVG 29. Aufl. Art. 1 EGVVG Rn. 5, 8; BeckOK-VVG/Staudinger, § 215 Rn. 21 (Stand ); Wolf in Looschelders/Pohlmann, 2. Aufl. § 215 Rn. 11; Schneider in Beckmann/Matusche-Beckmann, Versicherungsrechts-Handbuch 3. Aufl. § 1a Rn. 45b; Fricke, VersR 2009, 15, 20; Schneider, VersR 2008, 859, 861). Vielmehr sei die neue Gerichtsstandsregel gemäß Art. 12 Abs. 1 des Gesetzes zur Reform des Versicherungsvertragsrechts vom (BGBl. I 2631) seit dem geltendes Recht, das unabhängig vom Zeitpunkt des Vertragsschlusses anzuwenden ist (OLG Saarbrücken aaO; Staudinger aaO; Schneider in Beckmann/Matusche-Beckmann aaO; Fricke aaO; Schneider, VersR 2008, 859, 861).

23bb) Die letztgenannte Meinung trifft zu. § 215 VVG unterfällt nicht dem Regelungsbereich von Art. 1 Abs. 1 und 2 EGVVG. Das ergibt die Auslegung der intertemporalen Kollisionsnorm.

24(1) Art. 1 Abs. 1 EGVVG erfasst - entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts und der Revision - die zivilprozessualen Regelungen des Versicherungsvertragsgesetzes nicht.

25Zwar ist sein Wortlaut insofern nicht eindeutig, als er einerseits die Anwendung des alten Rechts "auf Versicherungsverhältnisse" anordnet, was ein materiell-rechtliches Verständnis der Verweisungsnorm möglich erscheinen lässt (vgl. OLG Saarbrücken VersR 2008, 1337; MünchKomm-VVG/Looschelders, 2. Aufl. § 215 Rn. 39; Schneider, VersR 2008, 859, 860; a.A. OLG Bamberg VersR 2011, 513; OLG Braunschweig NJOZ 2012, 804; OLG Nürnberg VersR 2010, 935; HK-VVG/Muschner, 3. Aufl. § 215 Rn. 19), und andererseits auf das Versicherungsvertragsgesetz insgesamt verweist, das auch prozessuale Normen enthält. Sinn und Zweck der Vorschrift sprechen aber - anders als die Revision meint - für einen entsprechend beschränkten Regelungsbereich.

26Ausweislich der Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung zur Reform des Versicherungsvertragsrechts sollte mit der Norm eine Umkehr des Grundsatzes erreicht werden, dass neue vertragsrechtliche Regelungen nur für Verträge gelten, die nach dem Inkrafttreten des Gesetzes geschlossen werden, und die bis zu diesem Zeitpunkt bestehenden Vertragsverhältnisse (Altverträge) Bestandsschutz genießen (vgl. BT-Drucks. 16/3945 S. 118). Diese Zielrichtung ergibt sich nicht auf den ersten Blick, da die Vorschrift ausdrücklich nur die Fortgeltung des alten Versicherungsvertragsgesetzes für Altverträge bis zum regelt. Inzident bestimmt sie damit aber zugleich im Grundsatz, dass das neugefasste Versicherungsvertragsgesetz ab auch auf Altverträge anwendbar ist (Gesetzentwurf der Bundesregierung aaO). Art. 1 Abs. 1 EGVVG ist damit - im Vergleich zu den ungeschriebenen intertemporalen Regeln des materiellen Rechts - auf keine Beschränkung, sondern eine erweiterte Geltung des neuen Versicherungsvertragsgesetzes gerichtet.

27Demgegenüber gilt im Prozessrecht der Grundsatz, dass neue Gesetze - vorbehaltlich abweichender Überleitungsvorschriften des Gesetzgebers - auch schwebende Verfahren erfassen, die danach mit Inkrafttreten des Änderungsgesetzes regelmäßig nach neuem Recht zu beurteilen sind, soweit es nicht um unter Geltung des alten Rechts abgeschlossene Prozesshandlungen und abschließend entstandene Prozesslagen geht (st. Rspr.; vgl. , BGHZ 114, 1, 3 f.; Beschluss vom - II ZB 29/05, BGHZ 172, 136 Rn. 25 jeweils m.w.N.). Neue prozessuale Normen gelten damit - unabhängig von materiell-rechtlichen Rechtsverhältnissen - grundsätzlich ex nunc. Wäre Art. 1 Abs. 1 EGVVG als hiervon abweichende Überleitungsvorschrift anzusehen, würde dies zu einer Geltungsbeschränkung der neuen Gerichtsstandsklausel in § 215 VVG und damit des neuen Rechts führen, die der gesetzgeberischen Zielrichtung zuwiderliefe.

28(2) Greift Art. 1 Abs. 1 EGVVG nicht ein, ist auch für eine Anwendung von Art. 1 Abs. 2 EGVVG kein Raum. Schon sein Wortlaut zeigt, dass er auf den vorherigen Absatz aufbaut (vgl. Brand in Bruck/Möller, VVG 9. Aufl. § 215 Rn. 56). Das bestätigt auch die Begründung des Gesetzentwurfs (vgl. aaO li. Sp. Abs. 2 und 3; Schneider, VersR 2008, 859, 860 "Ausnahme von der Ausnahme").

29Gründe verfassungsrechtlich gewährleisteten Vertrauensschutzes gebieten nichts anderes (a.A. OLG Dresden VersR 2010, 1065, 1066; kritisch: Brand in Bruck/Möller, 9. Aufl. § 215 VVG Rn. 55; ders. in Looschelders/Pohlmann, VVG 2. Aufl. Art. 1 EGVVG Rn. 7; ders., VersR 2011, 557, 559). § 215 VVG berührt nicht die Zulässigkeit von Klagen, die bei einem nach bisheriger Rechtslage örtlich zuständigen Gericht erhoben worden sind, weil insoweit ohnehin der Grundsatz der Fortdauer der einmal begründeten Zuständigkeit (perpetuatio fori) gilt (st. Rspr.; statt aller: , NJW 2002, 1351 unter 1 m.w.N.). Im Übrigen kann die Regelung zwar die Fortgeltung unter dem bisherigen Recht wirksam getroffener Gerichtsstandsvereinbarungen entfallen lassen. Hierbei handelt es sich aber um einen Fall unechter Rückwirkung (vgl. BVerfGE 31, 222, 226), die nur dann unzulässig ist, wenn das Vertrauen des Einzelnen auf den Fortbestand einer gesetzlichen Regelung die Bedeutung des gesetzgeberischen Anliegens für das Wohl der Allgemeinheit überwiegt (BVerfG aaO 227). Das ist hier nicht der Fall, weil - wie die Revisionserwiderung richtig erkennt - das Interesse des Versicherers an dem Bestand alter Gerichtsstandsvereinbarungen gegenüber dem durch den Gesetzgeber verfolgten Ziel der Stärkung des prozessualen Rechtsschutzes des Verbrauchers (Gesetzentwurf der Bundesregierung aaO S. 117) nicht vorrangig ist (ähnlich: OLG Frankfurt NJOZ 2009, 2246, 2247; OLG Koblenz VersR 2010, 1356).

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2017:080317UIVZR435.15.0

Fundstelle(n):
NJW 2017 S. 1967 Nr. 27
WM 2017 S. 655 Nr. 14
CAAAG-41583