BAG Beschluss v. - 9 AZB 46/16

Aufhebung der Prozesskostenhilfebewilligung - Mitteilungspflichten - Anschriftenänderung

Gesetze: § 124 Abs 1 Nr 4 ZPO, § 120a Abs 2 S 1 ZPO

Instanzenzug: Az: 3 Ca 806/14 Beschlussvorgehend Sächsisches Landesarbeitsgericht Az: 4 Ta 67/16 (9) Beschlussnachgehend Sächsisches Landesarbeitsgericht Az: 4 Ta 65/17 (1) Beschluss

Gründe

1I. Die Klägerin war bei der Beklagten vom bis zum mit einer wöchentlichen Arbeitszeit von 40 Stunden als examinierte Pflegefachkraft beschäftigt. Mit ihrer im März 2014 beim Arbeitsgericht eingegangenen Klage hat sie die Zahlung einer Vergütungsdifferenz iHv. 1.210,00 Euro brutto für den Monat November 2013 sowie die Erteilung einer Entgeltabrechnung für denselben Monat und eines qualifizierten Arbeitszeugnisses verlangt. Zugleich hat sie beantragt, ihr Prozesskostenhilfe unter Beiordnung ihrer Prozessbevollmächtigten zu bewilligen.

2In dem von der Klägerin unter dem unterschriebenen Vordruck „Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse bei Prozess- oder Verfahrenskostenhilfe“ ist auf der letzten Seite ein vorgedruckter Text enthalten, der wie folgt lautet:

3Nachdem die Klägerin den Rechtsstreit mit Schriftsatz vom in der Hauptsache für erledigt erklärt und die Beklagte der Erledigungserklärung nicht binnen zwei Wochen seit deren Zustellung widersprochen hatte, hat das gemäß § 91a Abs. 1 Satz 1 iVm. Satz 2 ZPO der Beklagten die Kosten des Rechtsstreits auferlegt. Mit weiterem Beschluss vom selben Tag hat es der Klägerin ratenfreie Prozesskostenhilfe unter Beiordnung ihrer Prozessbevollmächtigten für den ersten Rechtszug bewilligt.

4Im Überprüfungsverfahren hat das Arbeitsgericht die Klägerin mit einem an sie persönlich gerichteten Schreiben vom aufgefordert, ihre aktuellen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse darzulegen. Dieses Schreiben gelangte mit dem Vermerk „Empfänger unbekannt“ wieder an das Arbeitsgericht zurück.

5Nachdem eine anschließende Anfrage beim Kommunalen Kernmelderegister Sachsen ergeben hatte, dass die Klägerin bereits am umgezogen war, wurden die Klägerin und ihre Prozessbevollmächtigten vom Arbeitsgericht jeweils mit Schreiben vom zu einer beabsichtigten Aufhebung der Prozesskostenhilfebewilligung nach § 124 Abs. 1 Nr. 4 ZPO wegen unterlassener Mitteilung der Anschriftenänderung angehört. Die Klägerin ließ mit Schriftsatz ihrer Prozessbevollmächtigten vom erklären, dass sie versehentlich die Mitteilung der Anschriftenänderung versäumt habe, da ihr nach über einem Jahr die Belehrung zur Mitteilungsobliegenheit nicht mehr präsent gewesen sei. Sie bitte dieses Versehen zu entschuldigen und von einer Aufhebung der Prozesskostenhilfebewilligung abzusehen.

6Mit Beschluss vom , der den Prozessbevollmächtigten der Klägerin am zugestellt wurde, hob das Arbeitsgericht die Prozesskostenhilfebewilligung gemäß § 124 Abs. 1 Nr. 4 ZPO auf. Hiergegen legte die Klägerin mit anwaltlichem Schriftsatz vom , beim Arbeitsgericht am selben Tag eingegangen, sofortige Beschwerde ein. Zur Begründung hat sie ausgeführt, sie habe zwar objektiv gegen ihre Verpflichtung verstoßen, die Änderung der Anschrift unverzüglich mitzuteilen. Dies sei jedoch - anders als vom Gesetz gefordert - weder absichtlich noch aus grober Nachlässigkeit geschehen. Ihr sei allenfalls einfache Fahrlässigkeit vorzuwerfen. Zudem müsse Berücksichtigung finden, dass sie ihre Kontaktdaten - auch ihre aktuelle Telefonnummer - bei ihren Prozessbevollmächtigten hinterlassen habe, sodass eine ungehinderte Kontaktaufnahme möglich gewesen und in weiterer Folge auch die aktuelle Anschrift mitgeteilt worden sei.

7Das Arbeitsgericht hat der sofortigen Beschwerde der Klägerin mit Beschluss vom nicht abgeholfen und sie dem Landesarbeitsgericht zur Entscheidung vorgelegt. Das Landesarbeitsgericht hat die sofortige Beschwerde mit Beschluss vom zurückgewiesen und die Rechtsbeschwerde zugelassen. Zur Begründung hat es ausgeführt, die Voraussetzungen des § 124 Abs. 1 Nr. 4 ZPO lägen vor, da die Klägerin dem Gericht die Änderung ihrer Anschrift nicht unverzüglich mitgeteilt habe. Eine grobe Nachlässigkeit oder Absicht sei nicht erforderlich. Das Merkmal „unverzüglich“ enthalte bereits ein Verschuldensmoment. Es liege auch kein atypischer Fall vor, da die Klägerin ihrer Mitteilungspflicht bewusst nicht nachgekommen sei. Sie habe die Mitteilung vergessen oder ignoriert, weshalb nicht von einem geringen Verschulden ausgegangen werden könne. Dies gelte auch, soweit die Klägerin über ihre Prozessbevollmächtigten erreichbar gewesen sei, da dies den vom Gesetzgeber erkannten Regelfall darstelle. Die unterbliebene Mitteilung der neuen Anschrift über einen Zeitraum von mehr als einem Jahr halte sich auch nicht im Rahmen einer zuzubilligenden Toleranzgrenze.

8Hiergegen wendet sich die Klägerin mit ihrer Rechtsbeschwerde, mit der sie geltend macht, die subjektiven Merkmale der Absicht bzw. der groben Nachlässigkeit in § 124 Abs. 1 Nr. 4 ZPO bezögen sich sowohl auf die unrichtige Mitteilung als auch auf die unterbliebene Mitteilung der Anschriftenänderung. Im Übrigen sei sie über ihre Prozessbevollmächtigten auch im Überprüfungsverfahren stets erreichbar gewesen. Solange dies der Fall sei, gebe es keinen Anlass für die Sanktion nach § 124 Abs. 1 Nr. 4 ZPO.

9II. Die Rechtsbeschwerde der Klägerin ist zulässig und begründet. Mit der vom Landesarbeitsgericht gegebenen Begründung durfte die sofortige Beschwerde der Klägerin gegen den nicht zurückgewiesen werden. Die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts stellt sich auch nicht aus anderen Gründen als richtig dar (§ 577 Abs. 3 ZPO). Auf der Grundlage der bislang vom Landesarbeitsgericht getroffenen Feststellungen ist der Senat allerdings an einer eigenen Sachentscheidung gehindert (§ 577 Abs. 5 ZPO). Dies führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und zur Zurückverweisung der Sache an das Landesarbeitsgericht als Beschwerdegericht zur erneuten Entscheidung (§ 577 Abs. 4 Satz 1 ZPO).

101. Das Landesarbeitsgericht hat zu Unrecht angenommen, dass eine Aufhebung der Prozesskostenhilfebewilligung nach § 124 Abs. 1 Nr. 4 ZPO bereits dann in Betracht kommt, wenn die Partei die Änderung ihrer Anschrift nicht unverzüglich mitgeteilt hat, ohne dass der Partei der Vorwurf der groben Nachlässigkeit oder der Absicht zu machen wäre.

11a) Gemäß § 124 Abs. 1 Nr. 4 ZPO in der seit dem geltenden Fassung soll das Gericht die Bewilligung der Prozesskostenhilfe aufheben, wenn die Partei entgegen § 120a Abs. 2 Satz 1 bis Satz 3 ZPO dem Gericht wesentliche Verbesserungen ihrer Einkommens- und Vermögensverhältnisse oder Änderungen ihrer Anschrift absichtlich oder aus grober Nachlässigkeit unrichtig oder nicht unverzüglich mitgeteilt hat.

12b) § 124 Abs. 1 Nr. 4 ZPO ist dahin auszulegen, dass es für die Aufhebung der Prozesskostenhilfebewilligung nicht ausreicht, dass die Partei dem Gericht eine Änderung der Anschrift nicht unverzüglich mitgeteilt hat, sondern dass auch in diesem Falle ein qualifiziertes Verschulden der Partei in Form von Absicht oder grober Nachlässigkeit erforderlich ist. Die Partei muss demnach eine Anschriftenänderung absichtlich oder aus grober Nachlässigkeit nicht unverzüglich mitgeteilt haben (vgl.  - Rn. 11 ff. mit ausf. Begründung und mwN).

132. Entgegen der Annahme des Landesarbeitsgerichts handelt eine Partei, die - wie die Klägerin - Prozesskostenhilfe in Anspruch nimmt, und damit auf Kosten der Allgemeinheit ihren Prozess geführt hat, und die - wie die Klägerin - darüber hinaus auf ihre Mitteilungspflichten nach § 120a Abs. 2 Satz 1 ZPO hingewiesen wurde, nicht schon dann grob nachlässig, wenn sie ihre daraus erwachsenen Verpflichtungen schlicht vergisst oder ihnen schlicht nicht nachkommt. Die schlichte Verletzung der in § 120a Abs. 2 Satz 1 ZPO bestimmten Mitteilungspflichten indiziert noch keine grobe Nachlässigkeit.

14a) Die Verschuldensanforderung der groben Nachlässigkeit in § 124 Abs. 1 Nr. 4 ZPO erfordert mehr als leichte Fahrlässigkeit, nämlich eine besondere Sorglosigkeit. Der Maßstab der groben Nachlässigkeit entspricht dem der groben Fahrlässigkeit. Danach handelt grob nachlässig nur derjenige, der die im Verkehr erforderliche Sorgfalt nach den gesamten Umständen in ungewöhnlich hohem Maß verletzt und unbeachtet lässt, was im gegebenen Fall jedem einleuchten muss. Im Gegensatz zur einfachen Fahrlässigkeit muss es sich demnach bei einem grob nachlässigen Verhalten um ein auch in subjektiver Hinsicht unentschuldbares Verhalten handeln, das ein gewöhnliches Maß erheblich übersteigt ( - Rn. 24 mwN).

15b) Die Entscheidung, ob im Einzelfall von einfacher Fahrlässigkeit oder grober Nachlässigkeit auszugehen ist, erfordert eine Abwägung aller objektiven und subjektiven Umstände. Geht es - wie hier - um die Frage, ob eine Partei ihre Verpflichtung, dem Gericht eine Anschriftenänderung von sich aus unverzüglich mitzuteilen, grob nachlässig oder lediglich leicht fahrlässig verletzt hat, kann vor dem Hintergrund, dass diese Pflicht dazu dient, die jederzeitige Erreichbarkeit der Partei durch das Gericht sicherzustellen, um dieses letztlich in die Lage zu versetzen, ohne weiter gehende aufwendige Ermittlungen ein Verfahren zur Änderung oder Aufhebung der Prozesskostenhilfebewilligung zu betreiben, im Rahmen der Abwägung auch von Bedeutung sein, wenn die Partei anderweitige Maßnahmen getroffen hat, um ihre jederzeitige Erreichbarkeit durch das Gericht sicherzustellen. Hierzu hat die Partei, die diesen Umstand berücksichtigt wissen möchte, substanziiert vorzutragen. Ein solcher Vortrag kann auch noch in der Beschwerdeinstanz erfolgen ( - Rn. 25 mwN).

163. Die Sache ist nicht zur Entscheidung reif (§ 577 Abs. 5 Satz 1 ZPO). Auf der Grundlage der bislang vom Landesarbeitsgericht getroffenen Feststellungen vermag der Senat nicht zu beurteilen, ob das Unterbleiben einer unverzüglichen Mitteilung der Anschriftenänderung auf grober Fahrlässigkeit oder Vorsatz beruhte.

17a) Entgegen der Annahme der Klägerin scheidet eine Anwendung von § 124 Abs. 1 Nr. 4 ZPO nicht bereits deshalb aus, weil sie durch ihre Prozessbevollmächtigten im Prozesskostenhilfebewilligungsverfahren vertreten wurde.

18Zwar haben auch nach Beendigung der Instanz bzw. des Hauptsacheverfahrens Zustellungen im Prozesskostenhilfeüberprüfungsverfahren jedenfalls dann gemäß § 172 ZPO an den Prozessbevollmächtigten zu erfolgen, wenn dieser die Partei im Prozesskostenhilfebewilligungsverfahren vertreten hat ( - Rn. 15 f.; vgl. auch  - Rn. 10 ff.). Dies führt aber nicht dazu, dass die Partei von ihren in § 120a Abs. 2 Satz 1 ZPO bestimmten Mitteilungspflichten befreit wäre. Nach § 120a Abs. 2 Satz 1 ZPO hat „die Partei“ „dem Gericht“ eine Änderung der Anschrift mitzuteilen. Über die Folgen eines Verstoßes gegen diese Verpflichtung ist „die Partei“ bei der Antragstellung im Antragsformular zu belehren (§ 120a Abs. 2 Satz 4 ZPO). Der Antragsteller muss - persönlich - im Antragsformular seine Kenntnis von den Mitteilungspflichten bestätigen. Zudem ist jede Änderung der Anschrift mitzuteilen, ohne dass es einer gesonderten Fristsetzung durch das Gericht oder sogar der Zustellung eines Aufforderungsschreibens bedürfte (vgl.  - Rn. 28 mwN).

19b) Da das Landesarbeitsgericht bislang keine Feststellungen getroffen hat, die die Annahme grober Nachlässigkeit der Klägerin begründen könnten, ist der Senat an einer eigenen Sachentscheidung gehindert. Die Sache ist daher gemäß § 577 Abs. 4 Satz 1 ZPO zur erneuten Entscheidung an das Landesarbeitsgericht zurückzuverweisen.

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BAG:2017:260117.B.9AZB46.16.0

Fundstelle(n):
AAAAG-40632