BVerwG Urteil v. - 1 C 1/16

Vorlage zur Vorabentscheidung an den EuGH; Visumerfordernis beim Ehegattennachzug türkischer Arbeitnehmer

Leitsatz

Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der Europäischen Union zur Klärung der Frage, ob das nach nationalem Recht bestehende Visumerfordernis beim Ehegattennachzug zu einem türkischen Arbeitnehmer mit der assoziationsrechtlichen Stillhalteklausel des Art. 7 ARB 2/76 (juris: EWGAssRBes 2/76) vereinbar ist.

Gesetze: Art 267 AEUV, § 30 Abs 1 S 1 AufenthG, § 30 Abs 1 S 3 Nr 6 AufenthG, § 30 Abs 1 S 3 Nr 2 AufenthG, § 5 Abs 2 S 1 Nr 1 AufenthG, § 6 Abs 1 Nr 1 AufenthG, § 6 Abs 3 AufenthG, § 5 Abs 2 S 2 AufenthG, Art 30 Abs 3 VtrROrgKonv Wien, Art 59 Abs 1a VtrROrgKonv Wien, Art 7 EWGAssRBes 2/76, Art 13 EWGAssRBes 1/80

Instanzenzug: Az: 11 K 3155/15 Urteilnachgehend Az: C-123/17 Urteilnachgehend Az: 1 C 40/18 Urteil

Gründe

I

1Die Klägerin, eine im Jahr 1964 geborene türkische Staatsangehörige, begehrt die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum Ehegattennachzug.

2Der Ehemann der Klägerin ist ebenfalls türkischer Staatsangehöriger. Er reiste 1995 nach Deutschland ein. Nach einem erfolglosen Asylverfahren heiratete er eine deutsche Staatsangehörige. Seit jedenfalls 2005 ist er im Besitz einer Niederlassungserlaubnis und seit April 2009 bei einer Bäckerei mit einem monatlichen Nettogehalt von 1 500 € beschäftigt. Nach Scheidung von seiner deutschen Ehefrau heiratete er im August 2004 die Klägerin. Das Ehepaar hat drei erwachsene Kinder, die in der Türkei bzw. in Deutschland und Österreich leben.

3Bereits im Jahr 2007 hatte die Klägerin bei der deutschen Botschaft in Ankara ein Visum zum Ehegattennachzug zu ihrem deutschen Ehemann beantragt. Diesen Antrag sowie zwei weitere Visumanträge im Jahr 2011 hatte die deutsche Botschaft wegen unzureichender Deutschkenntnisse der Klägerin abgelehnt.

4Im März 2013 reiste die Klägerin mit einem von der niederländischen Botschaft in Ankara ausgestellten Schengen-Visum in die Niederlande ein, um dort ihre Schwester zu besuchen. Sie reiste im April 2013 weiter zu ihrem Ehemann nach Deutschland.

5Im Mai 2013 beantragte die Klägerin die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum Ehegattennachzug. Sie leide an einer chronischen Anämie, schlecht eingestelltem Diabetes mellitus (Typ 2) und sei außerdem Analphabetin. Aufgrund dessen sei sie auf die Hilfe ihres Ehemannes angewiesen.

6Die Beklagte lehnte den Antrag mit Bescheid vom März 2014 ab, weil die Klägerin nicht gemäß § 30 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG nachgewiesen habe, dass sie sich zumindest auf einfache Art in deutscher Sprache verständigen könne, und weil sie ohne das erforderliche nationale Visum in das Bundesgebiet eingereist sei.

7Das Verwaltungsgericht hat der hiergegen gerichteten Klage stattgegeben. Die Klägerin habe einen Anspruch auf Erteilung der von ihr begehrten Aufenthaltserlaubnis gemäß § 30 Abs. 1 AufenthG. Ihrem Anspruch stehe nicht entgegen, dass sie sich unstreitig nicht, wie es § 30 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG erfordere, in deutscher Sprache verständigen könne. Denn diese Bestimmung stehe nicht in Einklang mit den Stillhalteklauseln des Assoziationsrechts (Art. 7 ARB 2/76 bzw. Art. 13 ARB 1/80). Auch der Verstoß gegen das Visumerfordernis (§ 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 i.V.m. § 6 Abs. 3 AufenthG) könne der Klägerin nicht entgegengehalten werden. Denn die Notwendigkeit für türkische Staatsangehörige, ein Visum zum Ehegattennachzug einzuholen, verstoße gegen die Stillhalteklausel des Art. 7 ARB 2/76. Die Einführung der Visumpflicht für den Ehegattennachzug durch die am in Kraft getretene Elfte Verordnung zur Änderung der Verordnung zur Durchführung des Ausländergesetzes vom (BGBl. I S. 782) stelle eine neue Beschränkung im Sinne der Stillhalteklauseln dar, weil das Visumerfordernis auf Grund des Prüfungsumfanges, der damit verbundenen Kosten und der Verfahrensdauer sowie der Folgen einer möglichen Ablehnung eine nicht unerhebliche Erschwernis für den begünstigten türkischen Arbeitnehmer mit sich bringe. Zwar habe der Gerichtshof der Europäischen Union in seiner jüngsten Rechtsprechung Einschränkungen zu Lasten der Arbeitnehmer und Selbständigen zugelassen, wenn sie durch einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses gerechtfertigt seien. Diese Voraussetzung sei hier jedoch nicht erfüllt.

8Mit der vom Verwaltungsgericht zugelassenen (Sprung-)Revision macht die Beklagte insbesondere geltend, der Klägerin könne wegen der fehlenden Sprachkenntnisse, aber auch deshalb keine Aufenthaltserlaubnis zum Ehegattennachzug erteilt werden, weil sie nicht mit dem nach § 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG erforderlichen Visum eingereist sei. Das Visumerfordernis verstoße nicht gegen eine Stillhalteklausel. Art. 7 ARB 2/76 finde nach dem Inkrafttreten des Art. 13 ARB 1/80 keine Anwendung mehr. Auch werde ein Familienangehöriger, der selbst nicht den Zugang zum Arbeitsmarkt, sondern den Familiennachzug erstrebe, vom Anwendungsbereich des Art. 7 ARB 2/76 nicht erfasst. Ob eine "neue Beschränkung" im Sinne des ARB vorliege, sei daher allein aufgrund der Regelung des Art. 13 ARB 1/80 zu prüfen, die ab anwendbar sei. Zu diesem Zeitpunkt habe aber bereits die uneingeschränkte Visumpflicht für türkische Staatsangehörige gegolten. Unabhängig hiervon sei die Visumpflicht auch durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt, denn die Steuerung der Migration sei ein hochrangiges Gemeinschaftsziel.

9Die Klägerin verteidigt das angefochtene Urteil.

10Der Vertreter des Bundesinteresses beim Bundesverwaltungsgericht beteiligt sich am Verfahren und schließt sich der Auffassung der Beklagten an.

II

11Der Rechtsstreit ist auszusetzen. Gemäß Art. 267 AEUV ist eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union (im Folgenden: Gerichtshof) zu den im Beschlusstenor formulierten Fragen einzuholen. Diese Fragen betreffen die Auslegung der assoziationsrechtlichen Stillhalteklauseln des Art. 7 des Beschlusses Nr. 2/76 über die Durchführung des Art. 12 des Abkommens von Ankara vom (im Folgenden: Beschluss Nr. 2/76) und Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates vom über die Entwicklung der Assoziation (im Folgenden: Beschluss Nr. 1/80). Da es um die Auslegung von Unionsrecht geht, ist der Gerichtshof zuständig.

121. Für die rechtliche Beurteilung der auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gerichteten Verpflichtungsklage ist das Aufenthaltsgesetz (AufenthG) in der Fassung der Bekanntmachung vom (BGBl. I S. 162), zuletzt geändert mit Wirkung durch das Gesetz zur Regelung von Ansprüchen ausländischer Personen in der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch und in der Sozialhilfe nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch vom (BGBl. I S. 3155), maßgeblich ( 1 C 21.14 - BVerwGE 152, 76 Rn. 12 m.w.N.).

13Den hiernach maßgeblichen rechtlichen Rahmen des Rechtsstreits bilden die folgenden Vorschriften des nationalen Rechts:

(1) Das Gesetz dient der Steuerung und Begrenzung des Zuzugs von Ausländern in die Bundesrepublik Deutschland

...

(1) Ausländer bedürfen für die Einreise und den Aufenthalt im Bundesgebiet eines Aufenthaltstitels, sofern nicht durch Recht der Europäischen Union oder durch Rechtsverordnung etwas anderes bestimmt ist oder auf Grund des Abkommens vom zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei (BGBl. 1964 II S. 509) (Assoziationsabkommen EWG-Türkei) ein Aufenthaltsrecht besteht.

Die Aufenthaltstitel werden erteilt als

1. Visum in Sinne des § 6 Absatz 1 Nummer 1 und Absatz 3,

2. Aufenthaltserlaubnis (§ 7)

...

...

(2) 1Des Weiteren setzt die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis ... voraus,

dass der Ausländer

1. mit dem erforderlichen Visum eingereist ist und

2. die für die Erteilung maßgeblichen Angaben bereits im Visumantrag gemacht hat.

2Hiervon kann abgesehen werden, wenn die Voraussetzungen eines Anspruchs auf Erteilung erfüllt sind oder es auf Grund besonderer Umstände des Einzelfalls nicht zumutbar ist, das Visumverfahren nachzuholen.

(1) Einem Ausländer können nach Maßgabe der Verordnung (EG) Nr. 810/2009 folgende Visa erteilt werden:

1. ein Visum für die Durchreise durch das Hoheitsgebiet der Schengen-Staaten oder für geplante Aufenthalte in diesem Gebiet von bis zu 90 Tagen je Zeitraum von 180 Tagen (Schengen-Visum)

2. ...

(2) ...

(3) Für längerfristige Aufenthalte ist ein Visum für das Bundesgebiet (nationales Visum) erforderlich, das vor der Einreise erteilt wird.

(1)1Dem Ehegatten eines Ausländers ist eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen, wenn

...

2. der Ehegatte sich zumindest auf einfache Art in deutscher Sprache verständigen kann

...

3Satz 1 Nr. 2 ist für die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis unbeachtlich, wenn

...

2. der Ehegatte wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung nicht in der Lage ist, einfache Kenntnisse der deutschen Sprache nachzuweisen,

...

6. es dem Ehegatten auf Grund besonderer Umstände des Einzelfalles nicht möglich oder nicht zumutbar ist, vor der Einreise Bemühungen zum Erwerb einfacher Kenntnisse der deutschen Sprache zu unternehmen.

142. Die Vorlagefragen sind entscheidungserheblich und bedürfen einer Klärung durch den Gerichtshof.

15a) Keinen Klärungsbedarf sieht der vorlegende Senat im Hinblick auf die Vereinbarkeit des Spracherfordernisses beim Nachzug zum Ehegatten mit Unionsrecht, wie es in § 30 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG geregelt ist. Dieses ist zwar eine neue Beschränkung im Sinne des Assoziationsrechts EWG-Türkei, es ist aber durch einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses gerechtfertigt, wie dies der Gerichtshof der Europäischen Union in seinen Urteilen in der Sache Dogan (Urteil vom - C-138/13 [ECLI:EU:C:2014:287]) und Genc (Urteil vom - C-561/14 [ECLI:EU:C:2016:247]) als möglich angesehen hat. Denn es dient der Integration der Nachzugswilligen. Dem unionsrechtlichen Gebot der Verhältnismäßigkeit wird durch die während des Klageverfahrens in Kraft getretene Härtefallklausel des § 30 Abs. 1 Satz 3 Nr. 6 AufenthG Rechnung getragen.

16aa) Nach den für das vorlegende Gericht bindenden Tatsachenfeststellungen des Verwaltungsgerichts (§ 137 Abs. 2 VwGO) verfügt die Klägerin über keinerlei Deutschkenntnisse, was der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum Ehegattennachzug entgegensteht (§ 30 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG). Sie ist vom Nachweis der erforderlichen Sprachkenntnisse auch nicht nach § 30 Abs. 1 Satz 3 Nr. 2 AufenthG befreit, da sie am Spracherwerb nicht wegen Krankheit oder Behinderung gehindert ist. Damit wird der Nachzug der Klägerin zu ihrem Ehemann aber nicht ohne Prüfung von individuellen Härtegründen ausgeschlossen. Vielmehr ist mit dem Gesetz zur Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung von (BGBl. I S. 1386) die Regelung des § 30 Abs. 1 Satz 3 Nr. 6 AufenthG geschaffen worden. Nach dieser Bestimmung ist die Voraussetzung des Spracherwerbs unbeachtlich, wenn es dem Ehegatten aufgrund besonderer Umstände des Einzelfalles nicht möglich oder nicht zumutbar ist, vor der Einreise Bemühungen zum Erwerb einfacher Kenntnisse der deutschen Sprache zu unternehmen. Diese Gesetzesänderung, die das Verwaltungsgericht nicht berücksichtigt hat, diente der Umsetzung des Urteils des Gerichtshofs in der Sache Dogan vom (C-138/13), in dem er die Unvereinbarkeit des Erfordernisses des Nachweises einfacher Kenntnisse der deutschen Sprache beim Ehegattennachzug mit dem Assoziationsrecht zwischen der Europäischen Union und der Türkei festgestellt hat (für den Anwendungsbereich des Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls vom zum Assoziationsabkommen). Durch die Einführung einer allgemeinen Härtefallklausel sollte den vom Gerichtshof im Hinblick auf die Verhältnismäßigkeit der Sprachanforderungen geltend gemachten Bedenken Rechnung getragen und sichergestellt werden, dass alle Besonderheiten des Einzelfalles berücksichtigt werden können und bei Vorliegen besonderer Umstände ein Absehen vom Sprachnachweis möglich ist (vgl. Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses, BT-Drs. 18/5420 S. 26).

17bb) Die Neuregelung trägt den Bedenken des Gerichtshofs in der Rechtssache Dogan bezüglich der Verhältnismäßigkeit der Regelung zum Spracherfordernis ausreichend Rechnung, ohne dass der Senat insoweit Zweifel hegt. Die allgemeine Härtefallklausel des § 30 Abs. 1 Satz 3 Nr. 6 AufenthG gewährleistet nunmehr, dass der Nachzugsantrag bei Fehlen des Nachweises einfacher Kenntnisse der deutschen Sprache nicht ohne eine alle Umstände des Einzelfalles berücksichtigende Entscheidung abgelehnt werden kann, und verhindert somit, dass fehlende Sprachkenntnisse "automatisch" zur Antragsablehnung führen. Ein Härtefall soll nach der Vorstellung des Gesetzgebers (entsprechend dem 10 C 12.12 - BVerwGE 144, 141) anzunehmen sein, wenn es dem ausländischen Ehegatten entweder von vornherein nicht möglich oder nicht zumutbar ist, vor der Einreise nach Deutschland Bemühungen zum Erwerb einfacher deutscher Sprachkenntnisse zu unternehmen, oder es ihm trotz ernsthafter Bemühungen von einem Jahr Dauer nicht gelungen ist, das erforderliche Sprachniveau zu erreichen. Anhaltspunkte für eine Unzumutbarkeit des Bemühens um den Erwerb einfacher Sprachkenntnisse können in der Person des Ehegatten oder in äußeren Umständen liegende Gründe sein, z.B. Alter, Gesundheitszustand des Betroffenen, seine kognitiven Fähigkeiten, die Erreichbarkeit von Sprachkursen oder die zumutbare tatsächliche Verfügbarkeit eines Sprachlernangebots (vgl. Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses BT-Drs. 18/5420 S. 26).

18cc) Das vorlegende Gericht sieht das nach der nunmehr maßgeblichen aktuellen Rechtslage geltende Spracherfordernis auch durch einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses im Sinne der Rechtsprechung des Gerichtshofs (Urteile vom - C-225/12 [ECLI:EU:C:2013:725], Demir - Rn. 41 und vom - C-138/13 - Rn. 37) gerechtfertigt. Der Gerichtshof hat in seiner jüngsten Rechtsprechung (Urteil vom - C 561/14 - Rn. 55 f.) eindeutig zu erkennen gegeben, dass das Ziel der Gewährleistung einer erfolgreichen Integration einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses darstellen kann. Er hat in diesem Zusammenhang auf die Bedeutung hingewiesen, die Integrationsmaßnahmen im Rahmen des Unionsrechts beigemessen wird, wie sich aus Art. 79 Abs. 4 AEUV und aus mehreren EU-Richtlinien (u.a. der Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom betreffend das Recht auf Familienzusammenführung <ABl. L 251 S. 12>) ergibt. Im Urteil vom (C-153/14 [ECLI:EU:C:2015:453], K. und A. - Rn. 53, betreffend die Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom ) hat der Gerichtshof weiter ausgeführt, dass gerade der Erwerb von Sprachkenntnissen die Verständigung zwischen Drittstaatsangehörigen und den Staatsangehörigen des betreffenden Mitgliedstaats deutlich erleichtert und darüber hinaus die Interaktion sowie die Entwicklung sozialer Beziehungen zwischen ihnen begünstigt. Auch erleichtert der Erwerb von Sprachkenntnissen den Zugang zu Arbeitsmarkt und Berufsausbildung.

19Dabei geht es dem Gesetzgeber gerade um einen Beitrag zur Verbesserung der Ausgangslage der Nachziehenden. Schulungen, die erst nach der Einreise einsetzten, wären daher nicht gleich wirksam (vgl. Generalanwältin Kokott, Schlussanträge vom - C-153/14 [ECLI:EU:C:2015:186], K. und A. - Rn. 35).

20dd) Das Verwaltungsgericht hat bisher nicht geprüft, ob im Fall der Klägerin vom Nachweis einfacher Sprachkenntnisse nach der Härtefallregelung des § 30 Abs. 1 Satz 3 Nr. 6 AufenthG abgesehen werden kann. Mangels ausreichender Tatsachenfeststellungen kann der Senat diese Entscheidung nicht selbst treffen. Sie wird gegebenenfalls nach der Klärung der grundsätzlichen Vereinbarkeit der Visumpflicht mit dem Unionsrecht durch den Gerichtshof und Zurückverweisung des Verfahrens durch das vorlegende Gericht von der Tatsacheninstanz nachzuholen sein.

21b) Das vorlegende Gericht sieht indes Klärungsbedarf, ob das nach nationalem Recht bestehende Visumerfordernis beim Ehegattennachzug zu einem türkischen Arbeitnehmer mit der assoziationsrechtlichen Stillhalteklausel des Art. 7 ARB 2/76 vereinbar ist. Die vorgelegten Fragen zur Auslegung von Art. 7 ARB 2/76 und Art. 13 ARB 1/80 bedürfen einer Klärung durch den Gerichtshof.

22aa) Zutreffend ist das Verwaltungsgericht zunächst davon ausgegangen, dass die Klägerin ohne das erforderliche Visum nach Deutschland eingereist ist und dass dies der Erteilung der begehrten Aufenthaltserlaubnis zum Ehegattennachzug nach nationalem Recht grundsätzlich entgegensteht (§ 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG).

23Eine Aufenthaltserlaubnis kann im Grundsatz nur erteilt werden, wenn der Ausländer mit dem erforderlichen Visum eingereist ist und die für die Erteilung maßgeblichen Angaben bereits im Visumantrag gemacht hat (§ 5 Abs. 2 Satz 1 AufenthG). Hiervon kann abgesehen werden, wenn die Voraussetzungen eines Anspruchs auf Erteilung erfüllt sind oder es auf Grund besonderer Umstände des Einzelfalls nicht zumutbar ist, das Visumverfahren nachzuholen (§ 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG). Welches Visum im Sinne des § 5 Abs. 2 Satz 1 AufenthG als das erforderliche Visum anzusehen ist, bestimmt sich nach dem Aufenthaltszweck, der mit der im Bundesgebiet beantragten Aufenthaltserlaubnis verfolgt wird (vgl. 1 C 17.09 - BVerwGE 138, 122 Rn. 19 und vom - 1 C 23.09 - BVerwGE 138, 353 Rn. 20). Für längerfristige Aufenthalte, zum Beispiel zum Familiennachzug, ist - vorbehaltlich der u.a. nach § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG möglichen Ausnahmen - ein Visum für das Bundesgebiet (nationales Visum) erforderlich, das vor der Einreise erteilt wird. Seine Erteilung richtet sich nach denselben Vorschriften, die für die Erteilung der entsprechenden Aufenthaltserlaubnis gelten (§ 6 Abs. 3 AufenthG).

24Nach den das vorlegende Gericht bindenden Feststellungen des Verwaltungsgerichts beabsichtigte die Klägerin von Anfang an einen Daueraufenthalt, um die Ehe mit ihrem türkischen Ehemann zu führen. Sie ist aber nicht mit dem danach erforderlichen nationalen Visum (§ 6 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG), sondern nur mit einem niederländischen Schengen-Visum für einen Kurzaufenthalt im Sinne des § 6 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG nach Deutschland eingereist. Ob von dem Erfordernis eines nationalen Visums zum Ehegattennachzug im Fall der Klägerin nach § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG abgesehen werden kann, ist tatrichterlich bisher nicht geklärt. Diese Prüfung wird das Tatsachengericht gegebenenfalls nach der Entscheidung des Gerichtshofs und Zurückverweisung der Sache durch das vorlegende Gericht nachzuholen haben, sofern der Gerichtshof zu dem Ergebnis kommt, dass die Visumpflicht grundsätzlich mit dem Unionsrecht vereinbar ist. Dabei wird es entscheidend darauf ankommen, ob es der Klägerin auf Grund ihres Gesundheitszustands, des geltend gemachten Betreuungsbedarfs sowie unter Berücksichtigung der voraussichtlichen Dauer des Visumsverfahrens und der Auswirkungen der vorübergehenden Trennung auf ihre Ehe unzumutbar ist, das Visumverfahren nachzuholen.

25bb) Wie der Gerichtshof in der Rechtssache Dogan (Urteil vom - C-138/13 - Rn. 36) anerkannt hat, kann eine Verschärfung der Voraussetzungen für eine erstmalige Aufnahme der Ehegatten türkischer Staatsangehöriger eine "neue Beschränkung" der Ausübung wirtschaftlicher Freiheiten - hier: der Arbeitnehmerfreizügigkeit - durch diese türkischen Staatsangehörigen sein und damit in den Anwendungsbereich der assoziationsrechtlichen Stillhalteklauseln fallen. Das dürfte auch für die Einführung einer Visumpflicht gelten (vgl. etwa [ECLI:EU:C:2009:101], Soysal - Rn. 55).

26Das vorlegende Gericht hat gleichwohl Zweifel, ob die Einführung der allgemeinen Visumpflicht für türkische Staatsangehörige, soweit sie den Familiennachzug betrifft, vorliegend von einem assoziationsrechtlichen Verschlechterungsverbot erfasst wird (Vorlagefrage 1).

27Die Visumpflicht für türkische Staatsangehörige wurde durch Art. 1 der Elften Verordnung zur Änderung der Verordnung zur Durchführung des Ausländergesetztes (DVAuslG) vom (BGBl. I S. 782) mit Wirkung vom eingeführt. Zuvor mussten türkische Staatsangehörige die Aufenthaltserlaubnis nur dann in der Form des Sichtvermerks vor der Einreise einholen, wenn sie im Bundesgebiet eine Erwerbstätigkeit ausüben wollten (§ 5 Abs. 1 Nr. 1 der Verordnung zur Durchführung des Ausländergesetzes <DVAuslG> vom <BGBl. I S. 1341>). Die Einführung der Visumpflicht fiel somit in den zeitlichen Anwendungsbereich des Beschlusses Nr. 2/76 und lag vor dem Beginn der Anwendbarkeit des Art. 13 ARB 1/80 (, vgl. Art. 16 ARB 1/80). Folglich stellte die Visumpflicht, wenn nur Art. 13 ARB 1/80 anwendbar wäre, keine verbotene Verschlechterung der Rechtsstellung des türkischen Arbeitnehmers dar.

28Das Verwaltungsgericht hat ausgeführt, dass zwar grundsätzlich der Beschluss Nr. 2/76 nicht mehr anzuwenden sei, weil der Beschluss Nr. 1/80 für die türkischen Arbeitnehmer und ihre Familienangehörigen günstigere Regelungen enthalte. Die Übertragbarkeit dieses vom Gerichtshof in der Rechtssache Bozkurt (Urteil vom - C-434/93 [ECLI:EU:C:1995:168] - Rn. 14) für das Verhältnis von Art. 2 ARB 2/76 und Art. 6 ARB 1/80 angenommenen Vorrangs des Beschlusses Nr. 1/80 auf die Stillhalteklausel des Art. 7 ARB 2/76 bedarf der Klärung. Denn die Folge einer Nichtanwendung wäre, dass sich der Status der Arbeitnehmer verschlechtern könnte, weil alle zwischen dem Inkrafttreten des Beschlusses Nr. 2/76 und der Anwendbarkeit des Art. 13 ARB 1/80 zum Nachteil des Arbeitnehmers eingetretenen Veränderungen nunmehr zu beachten wären (vgl. in diesem Sinne auch VGH Mannheim, Beschluss vom - 11 S 1009/14 - InfAuslR 2014, 361). Für eine fortbestehende Anwendbarkeit des Art. 7 ARB 2/76 könnte ferner sprechen, dass mit dem Beschluss Nr. 1/80 eine weitere Verbesserung der Rechtsstellung der türkischen Staatsangehörigen beabsichtigt war, so dass eine Ersetzung des Beschlusses Nr. 2/76 durch den Beschluss Nr. 1/80 nur bei für den türkischen Staatsangehörigen günstigeren Regelungen in Betracht käme. Ferner könnte die Rücknahme von durch den Beschluss Nr. 2/76 gewährten Vergünstigungen außerhalb der Kompetenz des Assoziationsrates liegen (vgl. in diesem Sinne Gutmann, in: GK-AufenthG, Kommentar, Stand: Januar 2017, Art. 13 ARB 1/80 Rn. 3). Die Anwendbarkeit des Art. 7 ARB 2/76 könnte sich weiter daraus ergeben, dass sich nach dem heutigen Stand der Rechtsprechung des Gerichtshofs zum ARB 1/80 Erschwernisse im Bereich der Familienzusammenführung als Verschlechterung der Rechtsstellung des türkischen Arbeitnehmers erweisen können (vgl. - Rn. 34 f.) mit der Folge, dass Art. 13 ARB 1/80, der die Familienangehörigen erstmals erwähnt, zwar erstmals auch eigene Rechte der Familienangehörigen begründet, aber Art. 7 ARB 2/76 für diejenigen Fälle weiterhin Anwendung findet, in denen es um die originäre Rechtsstellung des ordnungsgemäß beschäftigten türkischen Arbeitnehmers geht. Die deutsche Bundesregierung tendierte in einer Antwort vom auf eine parlamentarische Anfrage ebenfalls zur einer parallelen Anwendbarkeit beider Stillhalteklauseln (BT-Drs. 17/4623 S. 5).

29Dem Urteil des Gerichtshofs in der Rechtssache Bozkurt (Urteil vom - C-434/93 - Rn. 14) könnte möglicherweise aber auch die weitergehende Aussage zu entnehmen sein, dass der Beschluss Nr. 1/80 (insbesondere die Vorschriften des Kapitels II) zu einer Erweiterung der Rechtsstellung des türkischen Arbeitnehmers geführt hat und daher die (gegenüber den Regelungen des Beschlusses Nr. 2/76 insgesamt günstigeren) Regelungen des Beschlusses Nr. 1/80 ab dessen Inkrafttreten bzw. Anwendbarkeit an die Stelle der (insgesamt ungünstigeren) Bestimmungen des Beschlusses Nr. 2/76 getreten sind, die Stillhalteklausel des Art. 7 ARB 2/76 also vollständig durch Art. 13 ARB 1/80 ersetzt wurde. Für eine vollständige Ersetzung des Art. 7 ARB 2/76 könnte zudem die Tatsache anzuführen sein, dass in Art. 13 ARB 1/80 erstmals die Familienangehörigen Erwähnung finden und der Fragenkomplex des Familiennachzugs noch nicht Gegenstand des Beschlusses Nr. 2/76 war. Mit der Einbeziehung der Familienangehörigen in Art. 13 ARB 1/80 sollte Schritt in Richtung weitergehende Integration unternommen werden.

30Bei der Beantwortung der Frage, ob Art. 7 ARB 2/76 fortgilt, könnten auch Art. 59 Abs. 1a und Art. 30 Abs. 3 des Wiener Überkommens über das Recht der Verträge vom (Wiener Vertragsrechtskonvention - WVRK) zu berücksichtigen sein. Zwar findet die Wiener Vertragsrechtskonvention in ihrer Eigenschaft als Völkervertragsrecht nur auf Verträge zwischen Staaten Anwendung und nicht, wie im Falle des Assoziationsabkommens, auf Übereinkommen zwischen Staaten und anderen Völkerrechtssubjekten. Eine Anwendbarkeit der genannten Regelungen könnte sich jedoch gemäß Art. 3 Buchst. b WVRK daraus ergeben, dass diese Ausprägungen des allgemeinen Völkergewohnheitsrechts sind (vgl. [ECLI:EU:C:1999:107], Eddline El Yassini - Rn. 47). Die Beklagte schließt vorliegend aus Art. 59 Abs. 1 Buchst. a WVRK, dass Art. 7 ARB 2/76 nach dem Inkrafttreten des Art. 13 ARB 1/80 keine Anwendung mehr finde. Nach jener Vorschrift gilt ein Vertrag als beendet, wenn alle Vertragsparteien später einen sich auf denselben Gegenstand beziehenden Vertrag schließen und aus dem späteren Vertrag hervorgeht oder anderweitig feststeht, dass die Vertragsparteien beabsichtigen, den Gegenstand durch den späteren Vertrag zu regeln.

31Ungeachtet dessen neigt der Senat dazu, die Frage in konsequenter Übertragung der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu bejahen. Es wäre wenig einleuchtend, dass dieselbe Formulierung ("... dürfen für Arbeitnehmer ... keine neuen Beschränkungen der Bedingungen für den Zugang zum Arbeitsmarkt einführen") in beiden Bestimmungen unterschiedlich zu interpretieren sein sollte.

32cc) Klärungsbedürftig ist in diesem Zusammenhang auch die Frage (Vorlagefrage 2), ob die auf der Grundlage des Art. 13 ARB 1/80 ergangene Rechtsprechung des Gerichtshofs in vollem Umfang auf die Anwendung des Art. 7 ARB 2/76 übertragen werden kann mit der Folge, dass diese Stillhalteklausel einem nach ihrem Inkrafttreten eingeführten nationalen Visumerfordernis für den Ehegattennachzug zu einem türkischen Arbeitnehmer entgegensteht. Dies könnte deshalb zweifelhaft sein, weil die Einbeziehung von Regelungen über die Familienzusammenführung in den Anwendungsbereich der Stillhalteklausel und deren Anerkennung als (mittelbare) neue Beschränkungen des türkischen Arbeitnehmers (vgl. - Rn. 44) erst auf der Grundlage des Beschlusses Nr. 1/80 erfolgt sind und auch sonst die Rechtsprechung des Gerichtshofs zu Reichweite und Wirkungen assoziationsrechtlicher Regelungen sich erst nach dem ARB 1/80 entwickelt hat.

33dd) Sollte die Anwendbarkeit der Stillhalteklausel des Art. 7 ARB 2/76 zu bejahen sein, bedarf der Klärung, ob eine nationale Regelung, mit der der Ehegattennachzug zu einem türkischen Arbeitnehmer von der Erteilung eines nationalen Visums abhängig gemacht wird, durch einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses, insbesondere durch das Ziel einer effektiven Einwanderungskontrolle und der Steuerung der Migrationsströme, gerechtfertigt ist (Vorlagefrage 3).

34Dass die Assoziation nach Art. 36 des Zusatzprotokolls zum Abkommen vom zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei für die Übergangsphase der Assoziation (BGBl. 1972 II S. 385) auf eine schrittweise Herstellung der Arbeitnehmerfreizügigkeit angelegt ist, dürfte die Anerkennung der Einwanderungskontrolle als zwingenden Grund des Allgemeininteresses für sich allein nicht hindern. Der Gerichtshof hat in der Rechtssache Demir (Urteil vom - C-225/12 - Rn. 41) bereits entschieden, dass das Ziel, die rechtswidrige Einreise und den rechtswidrigen Aufenthalt zu verhindern, einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses darstellen kann. Auch dürfte im Allgemeinen davon auszugehen sein, dass der Gerichtshof bei der Anerkennung zwingender Gründe des Allgemeininteresses keine allzu strengen Maßstäbe anlegt und den Mitgliedstaaten hierbei einen gewissen Handlungsspielraum lässt (Generalanwalt Mengozzi, Schlussanträge vom - C-652/15 [ECLI:EU:C:2016:960], Tekdemir - Rn. 16). Die wirksame Steuerung der Migrationsströme ist ein unionsrechtlich legitimes Ziel (vgl. Art. 79 Abs. 1 AEUV). Wie § 1 Abs. 1 Satz 1 AufenthG zum Ausdruck bringt, liegt das Ziel der wirksamen Einwanderungssteuerung auch dem nationalen Recht zugrunde.

35Der deutsche Gesetzgeber hat die Visumpflicht für türkische Staatsangehörige für erforderlich gehalten, weil zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Türkei ein wirtschaftliches und soziales Gefälle bestehe und dem hieraus resultierenden Einwanderungsdruck wirksam nur mit Hilfe einer Sichtvermerkspflicht begegnet werden könne (BT-Drs. 11/3748 S. 1; BT-Drs. 10/2773 S. 5). Das für die Einreise zum Ehegattennachzug erforderliche Visum soll gewährleisten, dass die aufenthaltsrechtlichen Voraussetzungen für den Nachzug bereits vor der Einreise überprüft werden. Dies betrifft insbesondere die Sicherung des Lebensunterhalts, den Nachweis einfacher deutscher Sprachkenntnisse, die Absicht, eine eheliche Lebensgemeinschaft führen zu wollen, sowie den ordnungsgemäßen Aufenthalt des anderen Ehegatten (Arbeitnehmers) in Deutschland. Nur durch eine präventive Überprüfung dieser Voraussetzungen vor der Einreise lassen sich Belastungen für den Staat vermeiden, die mit der Notwendigkeit verbunden sind, türkische Staatsangehörige, die die Voraussetzungen für eine Aufenthaltserlaubnis nicht erfüllen, aus dem Mitgliedstaat zu entfernen. Ein für kurzfristige Aufenthalte erteiltes Schengen-Visum, mit dem die Klägerin hier eingereist ist, erfüllt diesen Zweck nicht; denn bei seiner Erteilung wird nicht geprüft, dass die Voraussetzungen für einen längerfristigen Aufenthalt zum Zwecke des Familiennachzugs vorliegen. Ein Wegfall des nationalen Visumerfordernisses für den Familiennachzug bei gleichzeitigem Bestehenbleiben der unionsrechtlichen Visumpflicht für Kurzaufenthalte zu Besuchs- oder touristischen Zwecken würde im Übrigen zu praktischen Schwierigkeiten führen: Es müsste dann ad hoc bei Grenzübertritt vor der Zulassung einer visumfreien Einreise geprüft werden, ob ein Familiennachzug glaubhaft beabsichtigt - und dies nicht nur behauptet - wird.

36Die Visumpflicht beim Ehegattennachzug erscheint nach alledem zur Erreichung des legitimen Ziels der Migrationskontrolle erforderlich; auch dürften die mit ihr verbundenen Belastungen für den türkischen Arbeitnehmer in einem angemessenen Verhältnis zu dem verfolgten Ziel einer wirksamen Einwanderungskontrolle stehen. Im Hinblick auf die Verhältnismäßigkeit ist zu berücksichtigen, dass das Visumverfahren nur eine Verzögerung, nicht aber eine dauernde Verhinderung des ehelichen Zusammenlebens bewirkt ( 1 C 23.09 - BVerwGE 138, 353 Rn. 31). Die Wahrung der Verhältnismäßigkeit auch im Einzelfall ermöglicht das nationale Recht in § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG durch eine Härtefallklausel, durch die besonderen Umständen des Einzelfalls, die die Nachholung des Visumverfahrens unzumutbar machen, Rechnung getragen werden kann. Die Einreise ohne das erforderliche Visum führt danach nicht "automatisch" zur Ablehnung des Antrags auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis. Vielmehr ist vor einer derartigen Ablehnung in jedem Einzelfall zu prüfen, ob auf eine Nachholung des Visumverfahrens auf Grund besonderer Umstände zu verzichten ist. Bei dieser Entscheidung sind auch die Grundrechte der Betroffenen - namentlich das Recht auf Familienleben nach Art. 8 EMRK bzw. Art. 7 GR-Charta (GRC) - zu berücksichtigen. Allerdings reicht nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts allein der Umstand, dass die Eheleute eine vorübergehende Trennung für die übliche Dauer des Visumverfahrens hinnehmen müssen, für eine Unzumutbarkeit auch unter Berücksichtigung des Schutzes der Ehe durch Art. 6 GG, Art. 8 EMRK und Art. 7 GRC nicht aus (vgl. 1 C 23.09 - BVerwGE 138, 353 Rn. 34). Hat der nachziehende Ehegatte ohne dies rechtfertigende Gründe das nationale Visumverfahren umgehen wollen, indem er unter unzutreffender Angabe des Aufenthaltszwecks mit einem Schengen-Visum eingereist ist, ist es regelmäßig nicht zu beanstanden, wenn die Behörde ihr Ermessen nach § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG zu Lasten des Betroffenen ausübt ( 1 C 23.09 - BVerwGE 138, 353 Rn. 34 sowie Urteil vom - 1 C 15.14 - Buchholz 402.242 § 5 AufenthG Nr. 16 Rn. 20). Demgegenüber kann die Nachholung des Visumverfahrens unzumutbar sein, wenn ein Ehegatte aufgrund gesundheitlicher oder sonstiger Einschränkungen auf die Lebenshilfe bzw. den persönlichen Beistand des anderen angewiesen ist. Auch sonst lässt die Regelung Raum für die Berücksichtigung anderer Besonderheiten des Einzelfalles.

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BVerwG:2017:260117B1C1.16.0

Fundstelle(n):
OAAAG-39762