BGH Beschluss v. - 1 StR 316/16

Beweiserhebung und Beweiswürdigung im Strafverfahren: Abgrenzung der Inaugenscheinnahme von dem Vorhalt oder der Verlesung einer Urkunde

Gesetze: § 261 StPO

Instanzenzug: LG Kempten Az: 1 KLs 311 Js 11639/14

Gründe

1Das Landgericht hat den Angeklagten – unter Freispruch im Übrigen – wegen Betruges in drei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und drei Monaten sowie zur Zahlung von 15.000 Euro an den Adhäsionskläger verurteilt. Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seiner auf die Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützten Revision. Das Rechtsmittel hat mit einer Verfahrensrüge den aus der Beschlussformel ersichtlichen Teilerfolg (§ 349 Abs. 4 StPO); im Übrigen ist es gemäß § 349 Abs. 2 StPO unbegründet.

21. Der Verfahrensrüge, mit der die Verletzung des § 261 StPO geltend gemacht wird, liegt folgendes Geschehen zugrunde: Das Landgericht hat die Bestätigung der türkischen A.     die dem Geschädigten vorgelegt wurde, als Fälschung angesehen. Den Inhalt der Urkunde hat es – so die dienstliche Erklärung der beteiligten Berufsrichter – durch Vorhalt im Rahmen der Vernehmung des Geschädigten, wie auch durch förmliche Verlesung eingeführt.

3Im Rahmen der Beweiswürdigung gewinnt das Landgericht aufgrund einer „Inaugenscheinnahme“ der Urkunde die Überzeugung, dass es sich um eine Fälschung handele. Gestützt werde dies zudem durch den Vergleich mit einer einem anderen Zeugen vorgelegten „Bankbestätigung“, die sich im weiteren Verlauf ebenso als Fälschung herausgestellt habe.

42. Die zulässig erhobene Rüge ist begründet, weil ein Augenschein der Urkunde nicht stattgefunden hat. Damit hat das Landgericht § 261 StPO verletzt.

5a) Für die richterliche Überzeugung des Landgerichts waren das äußere Erscheinungsbild und die Beschaffenheit der vorgenannten Urkunden maßgeblich. Insoweit handelte es sich bei den Urkunden aber um Gegenstände des Augenscheins (vgl. BGH, Beschlüsse vom – 1 StR 107/99, NStZ 1999, 424; vom – 2 StR 652/10,NJW 2011, 3733 und vom – 3 StR 267/13, NStZ 2014, 606 [607]; MünchKommStPO/Miebach, 1. Aufl., § 261 StPO, Rn. 47), die prozess-ordnungsgemäß durch Inaugenscheinnahme in die Hauptverhandlung hätten eingeführt werden müssen. Eine solche ist nicht erfolgt. Die Verlesung der Urkunde oder ihr Vorhalt im Rahmen der Zeugeneinvernahmen betreffen allein ihren Inhalt, nicht aber ihr äußeres Erscheinungsbild. Dies gilt im besonderen Maße für den äußerlichen Vergleich von verschiedenen Personen vorgelegten Urkunden.

6b) Auf diesem Verfahrensfehler beruht das Urteil zu Ziff. II. 2. der Gründe (Betrug zum Nachteil des Geschädigten L.      ). Das Landgericht hat die Überführung des Angeklagten jedenfalls auch auf die aus dem äußeren Erscheinungsbild gezogenen Schlussfolgerungen gestützt.

73. Infolgedessen waren insoweit der Schuldspruch nebst den zugehörigen Feststellungen (§ 353 Abs. 2 StPO) aufzuheben. Die teilweise Aufhebung des Schuldspruchs zieht die Aufhebung der Gesamtstrafe nach sich.

84. Darüber hinaus erweist sich die unterbliebene nachträgliche Gesamtstrafenbildung des Landgerichts als rechtsfehlerhaft. Die weiteren Einzelstrafen sind von dem Verfahrensfehler nicht berührt und können deshalb bestehen bleiben.

9Hierzu hat der Generalbundesanwalt in seiner Antragsschrift ausgeführt:

„Das Urteil hat hingegen keinen Bestand, soweit es das Landgericht abgelehnt hat (UA S. 42), unter Auflösung der Gesamtfreiheitsstrafe und Einbeziehung der Einzelstrafen aus dem Urteil des Amtsgerichts Kempten vom (UA S. 5) nachträglich eine Gesamtstrafe zu bilden (§ 55 Abs. 1 Satz 1 StGB). Es ist davon ausgegangen, das Urteil des Amtsgerichts Gießen vom entfalte Zäsurwirkung. Das trifft nicht zu. Dieses Urteil hat gesamtstrafenrechtlich keine eigenständige Bedeutung, da die diesem Urteil zugrundeliegende Straftat schon durch die Entscheidung des Amtsgerichts Landshut vom hätte geahndet werden können (UA S. 4). Deshalb ist das Urteil vom als auf die Entscheidung vom zurückprojiziert zu behandeln, so dass es keine Zäsur bilden kann (vgl. Senat, Beschluss vom – 1 StR 79/03 m.w.N.). Folgerichtig hat auch das Amtsgericht Gießen unter Einbeziehung der Geldstrafe aus der Entscheidung des Amtsgerichts Landshut eine Gesamtfreiheitsstrafe von neun Monaten ausgesprochen (UA S. 4).

Da die im vorliegenden Verfahren abgeurteilten Taten des Angeklagten vor seiner Verurteilung durch das Amtsgericht Kempten vom begangen worden sind, lagen mit Eintritt der Rechtskraft dieser Verurteilung am die Voraussetzungen des § 55 StGB vor, so dass die Strafkammer über die nachträgliche Bildung einer neuen Gesamtstrafe unter Auflösung der Gesamtfreiheitsstrafe und Einbeziehung der Einzelstrafen aus dem Urteil des Amtsgerichts Kempten vom hätte befinden müssen.“

10Dem schließt sich der Senat an.

11Der neue Tatrichter wird deshalb unter Auflösung der Gesamtfreiheitsstrafe und Einbeziehung der Einzelstrafen aus dem Urteil des Amtsgerichts Kempten vom gemäß § 55 StGB nachträglich eine Gesamtstrafe zu bilden haben. Dies gilt selbst für den Fall, dass die früher verhängte Strafe zwischenzeitlich erledigt sein sollte, weil insoweit die Vollstreckungssituation zum Zeitpunkt der ersten tatrichterlichen Verhandlung maßgeblich ist (st. Rspr.; vgl. dazu BGH, Beschlüsse vom – 3 StR 188/11, NStZ-RR 2011, 306 und vom – 3 StR 374/11, NStZ-RR 2012, 106 jeweils mwN).

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:



ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2016:220916B1STR316.16.0

Fundstelle(n):
RAAAG-37632