BGH Urteil v. - X ZR 122/14

Vergabeverfahren: Versendung von zwei Hauptangeboten auf elektronischem Weg im Abstand von zwei Stunden - Tischlerarbeiten

Leitsatz

Tischlerarbeiten

Sendet ein Bieter auf elektronischem Wege ein Hauptangebot und mit gewissem zeitlichem Abstand (hier: etwa zwei Stunden) kommentarlos eine weitere als Hauptangebot erkennbare Offerte, ist dies regelmäßig, wenn nicht besondere Umstände auf einen abweichenden Willen des Absenders hindeuten, dahin zu verstehen, dass das spätere Angebot an die Stelle des früher eingereichten treten soll, nicht aber, dass beide als Hauptangebot gelten sollen.

Gesetze: § 145 BGB, § 7a VOBA2, § 13 Abs 1 Nr 2 S 2 VOBA2, § 13 Abs 2 VOBA2

Instanzenzug: Oberlandesgericht des Landes Sachsen-Anhalt Az: 2 U 152/13 Urteilvorgehend LG Magdeburg Az: 7 O 1504/12 Urteil

Tatbestand

1Die Klägerin beteiligte sich an einem von einem Eigenbetrieb des beklagten Landes nach Maßgabe des Vierten Teils des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen durchgeführten Vergabeverfahren betreffend die Sanierung und den Neubau von Flächen eines Universitätsinstituts mit einem Angebot für das Gewerk Tischlerarbeiten. Die Vergabestelle hatte den Brutto-Auftragswert auf 138.248,73 € geschätzt. Die Angebotsfrist lief bis zum .

2Die Klägerin sendete am um 9:11 Uhr auf elektronischem Wege ein Angebot (im Folgenden: Angebot 1) über 268.201,96 € und um 11:02 Uhr ein weiteres Gebot (Angebot 2) über 268.580,38 €.

3Die Einzelpreise beider Angebote unterschieden sich lediglich in zwei Positionen betreffend die Überarbeitung historischer, einflügliger Innentüren, und zwar waren in den Positionen ("… mit drei Kassetten") und ("… mit sechs Kassetten") die Einheitspreise umgekehrt zugeordnet, woraus vor dem Hintergrund unterschiedlicher Einheitsmengen für beide Positionen (3 Stück bzw. 6 Stück) die Preisdifferenz in Höhe von 378,42 € resultierte.

4Im Öffnungstermin lagen Angebote von drei Bietern vor. Der Beklagte nahm von der Klägerin lediglich Angebot 2 in die Niederschrift über den Öffnungstermin auf. Dieses war das preisgünstigste, die anderen beiden Angebote waren um bis zu rund 3 % teurer.

5Nachdem sie zunächst fehlende Erklärungen von einem Mitbewerber und der Klägerin angefordert und mit dieser auch ein Aufklärungsgespräch geführt hatte, hob die Vergabestelle das Vergabeverfahren auf und berief sich dafür auf die deutliche Überschreitung ihrer Kostenschätzung und darauf, dass die Angebote zwar preislich dicht zusammenlägen, in den Kostenansätzen für einzelne Leistungspositionen jedoch zum Teil nicht nachvollziehbar voneinander abwichen.

6Die Klägerin stellte einen Nachprüfungsantrag, den die zuständige Vergabekammer als unzulässig verwarf und der bestandskräftig geworden ist, nachdem die Klägerin die dagegen eingelegte sofortige Beschwerde nach Hinweisen des Beschwerdegerichts zurückgenommen hatte.

7Die ausgeschriebenen Leistungen wurden im Oktober 2012 unterteilt in vier Teillose erneut ausgeschrieben und auch vergeben.

8Mit ihrer Klage hat die Klägerin in erster Linie Schadensersatz in Höhe ihres positiven, auf 27.111,47 € bezifferten Interesses verlangt und dafür geltend gemacht, es habe kein zur Aufhebung des Vergabeverfahrens berechtigender Grund vorgelegen; bei ordnungsgemäßer Durchführung des Verfahrens hätte der Zuschlag auf ihr Angebot 2 erteilt werden müssen.

9Das Landgericht hat den Beklagten antragsgemäß verurteilt. Das Berufungsgericht hat die Klage auf die Berufung bis auf für erstattungsfähig erachtete Angebotserstellungskosten von 61,20 € abgewiesen (OLG Naumburg, VergabeR 2015, 489). Mit ihrer vom Senat zugelassenen Revision, deren Zurückweisung der Beklagte beantragt, verfolgt die Klägerin ihren Antrag auf vollständige Zurückweisung der Berufung des Beklagten weiter.

Gründe

10I. Das Berufungsgericht hat angenommen, dass der Beklagte die Ausschreibung zwar rechtswidrig aufgehoben und insoweit eine Pflicht aus dem Schuldverhältnis verletzt hat (§ 280 Abs. 1 i. V. mit § 311 Abs. 2 Nr. 1, § 241 Abs. 2 BGB), dass der Klägerin der Zuschlag aber auch bei ordnungsgemäßem Verlauf des Vergabeverfahrens nicht hätte erteilt werden dürfen, weil ihre Angebote als vergaberechtlich unzulässiges Doppelangebot hätten ausgeschlossen werden müssen.

11II. Gegen diese Beurteilung wendet sich die Revision mit Erfolg.

121. In der Rechtsprechung der Vergabesenate ist anerkannt, dass die Abgabe mehr als eines Hauptangebots nicht ausgeschlossen ist. Als unproblematisch wird es angesehen, wenn sich mehrere Angebote eines Bieters nicht nur im Preis, sondern darüber hinaus in der sachlich-technischen Ausführung unterscheiden, ohne dass die Abweichungen die Einordnung als Nebenangebot gestatteten (vgl. , VergabeR 2010, 1012, 1013 f.; Beschluss vom - Verg 52/10, VergabeR 2011, 598, 600 f.; , VergabeR 2014, 436, 439 f.).

132. Dem ist jedenfalls zuzustimmen, soweit ein Bieter mehrere Hauptangebote mit Inhalten anbietet, die sich in dem von § 13 EU Abs. 2 i. V. mit § 7a EU VOB/A 2016 gesteckten Rahmen bewegen. Wäre ein solches Angebot allein abgegeben worden, wäre es nach § 16d EU Abs. 3 VOB/A 2016 wie ein Hauptangebot zu werten (vgl. auch , VergabeR 2011, 709 - Ortbetonschacht). Werden mehrere solche Hauptangebote abgegeben, besteht grundsätzlich keine Gefahr einer Wettbewerbsverzerrung. Da ihre Gleichwertigkeit mit dem geforderten Schutzniveau in Bezug auf Sicherheit, Gesundheit und Gebrauchstauglichkeit nachgewiesen werden muss (§ 13 EU Abs. 2 VOB/A 2016), ist rechtlich sichergestellt, dass keine wirtschaftlich nachteilige Beschaffung getätigt wird.

143. Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts unterscheiden sich Angebot 1 und Angebot 2, abgesehen vom Preis, nur in der beabsichtigten Art der Ausführung und damit zusammenhängend in den Preisermittlungsgrundlagen. Gemäß Angebot 1 wäre der Auftrag vollständig mit den eigenen betrieblichen Mitteln der Klägerin ausgeführt worden; nach Angebot 2 war ein Nachunternehmer für anspruchsvollere Teilleistungen vorgesehen.

15Es ist fraglich, ob bei dieser Ausgestaltung die Annahme eines insgesamt zum Angebotsausschluss führenden Mehrfach-Hauptangebots gerechtfertigt ist. Die beiden Angebote der Klägerin unterscheiden sich im Wesentlichen zwar nur im Preis. Ob der Bieter die Leistung allein oder unter Einsatz von Nachunternehmern ausführen möchte, ändert nichts daran, dass eine mit dem Leistungsverzeichnis identische Leistung erbracht werden soll. Zum Angebotsausschluss kann das zwingend aber nur dann führen, wenn unabdingbare Voraussetzung für die Wertungsfähigkeit mehrerer Hauptangebote eines Bieters ist, dass sie sich (auch) technisch-inhaltlich unterscheiden. Das kann indes zweifelhaft sein. Die vom Berufungsgericht im Streitfall für den Ausschluss herangezogenen Argumente überzeugen jedenfalls nicht.

16a) Das Berufungsgericht meint, der Bieter verschaffe sich durch diese Angebotsgestaltung potenziell einen ungerechtfertigten wettbewerblichen Vorteil für den Fall, dass der Auftraggeber die Eignung des vorgesehenen Nachunternehmers verneinen sollte, weil er sich dann auf die Ausführung in Eigenarbeit zurückziehen könne.

17Ob dies bei der gebotenen wertenden Betrachtung tragfähig ist, erscheint fraglich. Reicht ein Bieter, was, wie ausgeführt, vergaberechtlich zu Recht als unproblematisch angesehen wird, neben der von ihm eigentlich bevorzugten Ausführung mit einer vom Leistungsverzeichnis abweichenden, aber statthaften Spezifikation weitere Hauptangebote ein, etwa eines, das den im Leistungsverzeichnis vorgegebenen Anforderungen explizit entspricht und andere, die nochmals abweichende Spezifikationen aufweisen, betreibt er diesen Aufwand ersichtlich ebenfalls, um dem Risiko zu begegnen, dass der Auftraggeber die Wertungsfähigkeit seiner eigentlich bevorzugten Ausführung verneinen könnte. Das Berufungsgericht zeigt somit keinen spezifisch vergaberechtlichen Unrechtsgehalt oder unredlichen Vorteil des Bieters auf, der auch eine Ausführung mit Nachunternehmereinsatz anbietet.

18b) Das Berufungsgericht hat den Angebotsausschluss ferner damit begründet, die Klägerin hätte sich mit der gewählten Angebotsgestaltung ungerechtfertigte wettbewerbliche Vorteile verschaffen können, indem sie nach Ablauf der Angebotsfrist eines ihrer beiden - jeweils unvollständigen - Angebote lückenhaft hätte belassen können, damit es ausgeschlossen wird, und nur das andere vervollständigte, um sich nur damit weiter um den Zuschlag zu bewerben. Die Gefahr einer derartigen Manipulation durch einen Bieter habe sich im Anwendungsbereich der Vergabe- und Vertragsordnung für Bauleistungen objektiv dadurch erhöht, dass der Auftraggeber bei unvollständigen Angeboten zur Nachforderung der fehlenden Erklärungen und Nachweise verpflichtet sei und es der Bieter durch die Erfüllung der Nachforderung bzw. durch deren Nichterfüllung in der Hand habe, ob er an jedes seiner Angebote gebunden bleibe oder nicht.

19Diese Erwägung begegnet rechtlichen Bedenken. Die vom Berufungsgericht als Ausschlussgrund herangezogene abstrakte Gefahr einer Manipulation des Vergabewettbewerbs dadurch, dass der Bieter nur eines seiner Angebote durch Nachreichung fehlender Unterlagen zuschlagsreif machen könnte, ist kein spezifisches Problem der Einreichung mehrerer Hauptangebote, sondern kann sich prinzipiell genauso bei Einreichung einer einzigen Offerte ergeben. Gerade für solche Konstellationen war dieses Problem auch Gegenstand gerichtlicher Entscheidungen und Erörterungen (vgl. etwa , VergabeR 2002, 252 und dazu Gröning, NZBau 2003, 86 ff.; Heiermann/Riedl/Rusam, Handkomm. zur VOB, 11. Aufl. 2008 A § 25 aF Rn. 127).

20Ungeachtet dieses vermeintlichen Manipulationspotenzials hat die Vergabe- und Vertragsordnung für Bauleistungen, wie das Berufungsgericht im Ansatz nicht verkennt, in ihrer Ausgabe 2009 erstmals die Verpflichtung der Auftraggeber begründet, fehlende Erklärungen nachzufordern. Dies ist aufgrund von Erfahrungswerten aus der Praxis im Interesse eines umfassenden Wettbewerbs geschehen, um den Ausschluss von Angeboten aus vielfach nur formalen Gründen zu verhindern und die Anzahl der am Wettbewerb teilnehmenden Angebote nicht unnötig zu reduzieren (vgl. die Eingangshinweise des Vergabe- und Vertragsausschusses für Bauleistungen, BAnz 155a vom und Einführungserlass des BMVBS unter anderem zur Vergabe- und Vertragsordnung für Bauleistungen 2009 vom - B 15 - 8163.6/1 S. 7). Diese Regelungen sind über die Einbeziehung der Vergabe- und Vertragsordnung für Bauleistungen in der jeweils aktuellen Fassung in der Vergabeverordnung (vgl. § 2 VgV vom ) geltendes Recht. Dass sie gegen höherrangiges Recht verstießen, zeigt das Berufungsgericht nicht auf. Schon deshalb bestehen Bedenken gegen seine eher rechtspolitisch geprägte Befürwortung von Angebotsausschlüssen wegen der abstrakten Gefahr, Bieter könnten von den rechtlich zulässigen Möglichkeiten der Nachreichung von Erklärungen einen selektiven und damit unredlichen Gebrauch machen.

214. Die Tragfähigkeit der vom Berufungsgericht für den Angebotsausschluss gegebenen Begründung bedarf indes keiner abschließenden Beurteilung. Seine Entscheidung kann keinen Bestand haben, weil es rechtsfehlerhaft angenommen hat, die Klägerin habe (hintereinander) zwei Hauptangebote abgegeben.

22a) Für die Auslegung empfangsbedürftiger Willenserklärungen ist nach allgemeinen Grundsätzen darauf abzustellen, wie der Erklärungsempfänger sie nach Treu und Glauben unter Berücksichtigung der Verkehrssitte verstehen musste. Das gilt auch für die hier interessierende Frage, ob zwei im vergaberechtlichen Sinne als Hauptangebote zu verstehende Offerten abgegeben wurden.

23Zwar ist die Auslegung individualvertraglicher Erklärungen im Grundsatz dem Tatrichter vorbehalten. Das Ergebnis der tatrichterlichen Würdigung ist aber - ohne dass es einer entsprechenden Verfahrensrüge bedürfte (vgl. , BGHZ 131, 297, 301 f.) - für das Revisionsgericht nicht bindend, wenn dabei gesetzliche oder allgemein anerkannte Auslegungsregeln, Denkgesetze oder Erfahrungssätze verletzt wurden (st. Rspr. z.B. , WM 2006, 871, 872). Zu den allgemein anerkannten Auslegungsgrundsätzen, deren Einhaltung das Revisionsgericht nachzuprüfen hat, gehört insbesondere, dass der Tatrichter von ihm festgestellte wesentliche Tatsachen bei der Auslegung gebührend berücksichtigt (, NJW 2006, 3777).

24b) Auch unter Berücksichtigung dieses eingeschränkten Prüfungsmaßstabes sind die Ausführungen des Berufungsgerichts nicht frei von Rechtsfehlern. Es hat zwar den Einwand der Klägerin, sie habe Angebot 2 statt des Angebots 1 und nicht selbständig neben diesem eingereicht, nicht übergangen, es hat dabei aber für die rechtliche Beurteilung wesentliche Umstände unberücksichtigt gelassen.

25aa) Ob ein Bieter mehrere Hauptangebote abgeben will, lässt sich zweifelsfrei bejahen, wenn er zur Einreichung den konventionellen Weg gewählt und alle Angebotsunterlagen gegenständlich in einem verschlossenen Umschlag eingereicht hat (vgl. § 13 EU Abs. 1 Nr. 2 Satz 2 VOB/A 2016). Erfüllen darin mehrere Offerten die an das Hauptangebot gestellten Voraussetzungen, wird der Auftraggeber als Adressat dies als Ausdruck des Bieterwillens verstehen, mehrere Hauptangebote unterbreiten zu wollen. Das gilt umso mehr, als eine versehentliche Zusammenstellung mehrerer Hauptangebote in einer Briefsendung kaum anzunehmen ist.

26Als vergleichbar eindeutig wird zu beurteilen sein, wenn der Bieter von der eröffneten Möglichkeit der elektronischen Angebotseinreichung Gebrauch macht und mehrere Hauptangebote einheitlich in einer elektronischen Sendung übermittelt.

27bb) Im Streitfall wurden beide Angebote jedoch getrennt in einem Abstand von etwa zwei Stunden gesendet. Hier entfällt die Einheitlichkeit des Sendevorgangs als verbindender und auf den Willen zur Unterbreitung mehrerer Hauptangebote hindeutender Umstand. Die Übermittlung eines weiteren elektronischen Angebots unter solchen Umständen innerhalb der Angebotsfrist ist aus Sicht des öffentlichen Auftraggebers als Empfänger nach Treu und Glauben unter Berücksichtigung der Verkehrssitte ohne Weiteres regelmäßig dahin zu verstehen, dass das spätere das frühere ersetzen soll. Er konnte das erste eingegangene Angebot nur als vom Bieter abschließend gewollte Offerte verstehen. Wird wenig später kommentarlos erneut ein Angebot gesendet, legt ohne auf einen abweichenden Willen des Absenders hindeutende Umstände schon die zeitliche Abfolge die Annahme nahe, dass dieses das Erstere ersetzen soll. Eine solche Ersetzung ist rechtlich möglich. Angebote können bis zum Ablauf der in den Vergabeunterlagen dafür festgelegten Frist abgegeben werden. Daraus folgt, dass sie erst mit dem Ablauf dieser Frist bindend werden (§ 145 BGB) und dementsprechend bis zu diesem Zeitpunkt auch ausgetauscht werden können. Dass beide gleichzeitig gelten sollen, wird der Auftraggeber als Empfänger im Zweifel schon deshalb nicht unterstellen, weil die Einreichung paralleler Hauptangebote nur in engen Grenzen statthaft ist und im Regelfall die Annahme angezeigt ist, dass ein Bieter nur ein Angebot abgeben will, um nicht Gefahr zu laufen, gar kein wertungsfähiges Gebot eingereicht zu haben. Solange nicht besondere Umstände Anlass zu der Annahme geben, dass etwas anderes gewollt sein könnte, ist deshalb grundsätzlich das später gesendete Angebot für sich als das maßgebliche und gewollte zu betrachten. Das gilt prinzipiell auch dann, wenn die Abweichung lediglich in der Wahl einer anderen technischen Spezifikation besteht (oben II 2). Möchte der Bieter in einem solchen Fall nur ein weiteres wertungsfähiges Hauptangebot nachreichen und nicht ein bereits abgegebenes ersetzen, kann und muss er dies in geeigneter Form zum Ausdruck bringen.

28Entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts ist der Umstand, dass das spätere Angebot kommentarlos übermittelt wurde, kein Indiz dafür, dass beide Angebote parallel gelten sollten. Ein solches Verhalten ist im Zweifel so zu interpretieren, dass ein wertungsfähiges Angebot erhalten bleibt. Die Vergabestelle selbst hat im Übrigen keine entsprechenden Zweifel am Gewollten gehegt, sondern Angebot 2 als dasjenige angesehen, das allein abgegeben werden sollte. Anders ist es nicht zu verstehen, dass sie allein dieses Angebot in das Protokoll über die Angebotsöffnung aufgenommen hat. Die Klägerin hat dem nicht widersprochen und nach den vom Berufungsgericht getroffenen Feststellungen war auch nur Angebot 2 Gegenstand des nach § 15 VOB/A 2009 geführten Aufklärungsgesprächs. Die Parteien haben insoweit also übereinstimmend nur Angebot 2 als Gegenstand des Vergabeverfahrens angesehen.

29III. Das angefochtene Urteil kann deshalb mit der vom Berufungsgericht gegebenen Begründung keinen Bestand haben. Es stellt sich auch nicht aus anderen Gründen im Ergebnis als richtig dar und ist deshalb aufzuheben (§ 562 Abs. 1 ZPO). Das Berufungsgericht hat entgegen der Ansicht der Revisionserwiderung die weiteren geltend gemachten Ausschlussgründe zu Recht verneint.

301. Mit ihrem als Gegenrüge zu behandelnden Einwand, die Klägerin verhalte sich treuwidrig (§ 242 BGB), wenn sie die Erstattung des positiven Interesses verlange, obwohl sie sich nicht in der zweiten Ausschreibung um den Auftrag beworben habe, kann die Revision nicht gehört werden. Sie zeigt schon keinen hierzu in den Vorinstanzen gehaltenen und vom Landgericht übergangenen oder vom Berufungsgericht unerwähnt gelassenen Tatsachenvortrag auf. Auf der Grundlage der vom Berufungsgericht allein getroffenen Feststellungen, dass der Beklagte den Gegenstand des aufgehobenen Vergabeverfahrens in modifizierter Form, aufgeteilt in vier Teillose, erneut ausgeschrieben und die Klägerin sich darum nicht beworben hat, lässt sich ein rechtshemmender Einwand gegen die geltend gemachte Schadensersatzforderung nicht begründen.

312. Entgegen der Ansicht der Revisionserwiderung hat das Berufungsgericht die Voraussetzungen für eine Aufhebung des Vergabeverfahrens wegen eines anderen schwerwiegenden Grundes (§ 17 Abs. 1 Nr. 3 VOB/A 2009, § 17 EU Abs. 1 Nr. 3 VOB/A 2016) rechtsfehlerfrei verneint.

32Die Beklagte hat dazu vorgetragen, eine fachkundige Kostenschätzung habe den fraglichen Betrag (138.248,73 €) ergeben und dies in das Wissen eines Architekten des einbezogenen Planungsbüros gestellt. Das Berufungsgericht ist diesem von ihm zutreffend als gegenbeweislich eingeordneten Beweisantritt mit der Begründung nicht nachgegangen, der Beklagte habe seiner sekundären Darlegungslast nicht genügt. Das ist aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden.

33Macht der Kläger für seinen auf Ersatz des Erfüllungsinteresses gerichtete Schadensersatzanspruch geltend, der Auftraggeber hätte das Vergabeverfahren nicht aufheben dürfen, weil der dafür angeführte Grund (§ 17 EU Abs. 1 VOB/A 2016) nicht vorgelegen habe, muss er darlegen und erforderlichenfalls beweisen, dass die tatsächlichen Voraussetzungen für den vom Auftraggeber herangezogenen Aufhebungsgrund nicht gegeben waren. Prozessual obliegt dem Kläger insoweit der Beweis negativer Tatsachen. Nach ständiger Rechtsprechung trifft den Prozessgegner der für eine negative Tatsache beweisbelasteten Partei eine sekundäre Darlegungslast, deren Umfang sich nach den Umständen des Einzelfalls richtet, der der Gegner aber jedenfalls so konkret nachkommen muss, dass der beweisbelasteten Partei eine Widerlegung möglich ist (vgl. , BGHZ 185, 1 Rn. 20 mwN; Zöller/Greger, ZPO, Vor § 284 Rn. 24 mwN).

34Wie der Bundesgerichtshof bereits entschieden hat, kann es zwar einen schwerwiegenden und deshalb zur Aufhebung des Vergabeverfahrens berechtigenden Grund darstellen, wenn die vor der Ausschreibung vorgenommene Kostenschätzung der Vergabestelle aufgrund der bei ihrer Aufstellung vorliegenden und erkennbaren Daten vertretbar erscheint und die im Vergabeverfahren abgegebenen Gebote deutlich darüber liegen (, VergabeR 2013, 208 Rn. 18 - Friedhofserweiterung: Urteil vom - X ZR 99/96, BGHZ 139, 280). Für die Schätzung muss die Vergabestelle oder der von ihr gegebenenfalls beauftragte Fachmann aber Methoden wählen, die ein wirklichkeitsnahes Schätzungsergebnis ernsthaft erwarten lassen (BGH, VergabeR 2013, 208 Rn. 18 - Friedhofserweiterung).

35Das Berufungsgericht hat den Einwand des Beklagten, die Klägerin behaupte ohne jegliche tatsächliche Anhaltspunkte eine unzulängliche Kostenschätzung, zu Recht schon mit Blick darauf nicht gelten lassen, dass diese Schätzung auf einer nicht mehr aktuellen Haushaltsunterlage beruhte. Es hat zutreffend angenommen, dass dem Beklagten - worauf schon das Landgericht hingewiesen hatte - oblegen hätte, die Vertretbarkeit der Kostenschätzung mit substanziiertem Sachvortrag zu unterlegen. Die Frage der Vernehmung des benannten Zeugen hierzu stellte sich danach nicht.

363. Das Berufungsgericht hat zu Recht eine Bindungswirkung nach § 179 Abs. 1 GWB an die Entscheidung der Vergabekammer verneint. Diese hatte im Rahmen ihrer Ausführungen zu der angenommenen Unzulässigkeit des Nachprüfungsantrags die Ansicht geäußert, das Angebot der Klägerin wäre nach § 16 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. g VOB/A 2009 wegen vorsätzlich unzutreffender Erklärungen in Bezug auf ihre Eignung auszuschließen gewesen.

37Nach § 179 Abs. 1 GWB ist das ordentliche Gericht, wenn ein Verfahren vor der Vergabekammer stattgefunden hat, an deren bestandskräftige Entscheidung bzw. an die Beschwerdeentscheidung gebunden, wenn wegen eines Verstoßes gegen Vergabevorschriften Schadensersatz begehrt wird. Mit dieser Bindungswirkung soll im Interesse der Verfahrensökonomie eine nochmalige Prüfung derselben Sach- und Rechtsfragen im Rahmen des Schadensersatzprozesses vermieden werden (vgl. BT-Drucks. 13/9340 S. 22 zu RegE § 133 GWB). Von der Bindungswirkung ist aber nur das erfasst, was den im Nachprüfungsverfahren in der Sache nach § 168 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 2 oder § 178 GWB ergangenen Ausspruch in tatsächlicher Hinsicht und in der rechtlichen Beurteilung trägt. Das betrifft in erster Linie einen von den Nachprüfungsinstanzen bejahten Verstoß der Vergabestelle gegen Bestimmungen über das Vergabeverfahren, deren Einhaltung nach § 97 Abs. 6 verlangt werden kann. Bindungswirkung kann auch - umgekehrt - der Verneinung eines geltend gemachten Vergaberechtsverstoßes zukommen (vgl. Byok/Jaeger, Komm. zum Vergaberecht, 3. Aufl., § 124 Rn. 2). Desgleichen kann von der Bindungswirkung erfasst sein, wenn sich der Auftraggeber im Nachprüfungsverfahren im Rahmen der sachlichen Prüfung des Nachprüfungsantrags nach den Grundsätzen der Berufung auf rechtmäßiges Alternativverhalten auf Voraussetzungen für den Ausschluss des Angebots des Antragstellers beruft und deren Erfüllung bestands- oder rechtskräftig bejaht wird. Schon mit Blick auf die einschneidende Rechtsfolge der Bindungswirkung nach § 179 Abs. 1 GWB, derzufolge die Verletzung einer Bestimmung über das Vergabeverfahren oder auch die Ausschlussreife eines Angebots im Schadensersatzprozess nicht mehr infrage gestellt werden kann, kann dies aber nur im Rahmen einer in der Sache zur Begründetheit des Nachprüfungsantrags ergehenden Entscheidung geschehen.

38Im Streitfall betrifft die bestandskräftige Entscheidung der Vergabekammer demgegenüber lediglich die Frage des Rechtsschutzbedürfnisses für den angebrachten Nachprüfungsantrag und damit nur den Zugang zum Nachprüfungsverfahren.

394. Zu Recht hat das Berufungsgericht auch in der Sache einen Verstoß gegen § 16 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. g VOB/A 2009 verneint. Die Einreichung lückenhafter Angebotsunterlagen mag in Anbetracht der von vornherein geplanten Einschaltung eines Nachunternehmers nachlässig gewesen sein, stellt sich aber schon angesichts des eingereichten Formblatts 221, das nach den Feststellungen des Berufungsgerichts kalkulatorische, auf Nachunternehmereinsatz hindeutende Angaben enthielt, nicht als vorsätzlich falsche Angabe über die eigene Eignung dar.

405. Auch die Voraussetzungen des in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat angeführten § 13 Abs. 1 Nr. 5 VOB/A 2009 sind nicht erfüllt. Danach sind Änderungen an den Vergabeunterlagen unzulässig; Änderungen des Bieters an seinen Eintragungen müssen zweifelsfrei sein. Der erstere Tatbestand schließt zwar gegenständliche Manipulationen der Vergabeunterlagen ebenso ein wie die Abgabe eines davon abweichenden Angebots. Beides liegt hier aber nicht vor. Die Klägerin hat auch keine Eintragungen im Angebot geändert, sondern die Unterlagen nachträglich vervollständigt.

41IV. Da weitere Feststellungen nicht erforderlich sind und die Sache zur Endentscheidung reif ist (§ 563 Abs. 3 ZPO), hat der Senat in der Sache selbst zu entscheiden. Das landgerichtliche Urteil ist insgesamt wiederherzustellen.

42V. Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 Abs. 1 und § 97 Abs. 1 ZPO.

Das Urteil des Senats vom wird wegen offenbarer Unrichtigkeit gemäß § 319 Abs. 1 ZPO dahingehend berichtigt, dass es unter Rn. 2 statt: "Die Klägerin sendete am …" richtig heißen muss: "Die Klägerin sendete am …".

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2016:291116UXZR122.14.0

Fundstelle(n):
YAAAG-36033