Nichtzulassungsbeschwerde - sozialgerichtliches Verfahren - Verfahrensmangel - rechtliches Gehör - Fristeinhaltung
Gesetze: § 160a Abs 2 S 3 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 62 SGG, Art 103 Abs 1 GG
Instanzenzug: SG Gießen Az: S 17 R 224/13vorgehend Hessisches Landessozialgericht Az: L 1 KR 138/16 Urteil
Gründe
1I. Die Beteiligten streiten, ob der Kläger als Selbstständiger der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung unterliegt.
2Der Kläger ist seit 1993 als Versicherungsvermittler für die D. Beratungs- und Vermittlungs AG in K. tätig. Nach Betriebsprüfung am stellte die Beklagte gegenüber dem Kläger den Eintritt der Versicherungspflicht als selbstständig tätiger Handelsvertreter (§ 2 S 1 Nr 9 SGB VI) und die Verpflichtung zur Zahlung des Regelbeitrags ab fest (Bescheid vom ). Mit weiterem Beitragsbescheid vom setzte sie Säumniszuschläge für die Zeit vom bis fest. Mit Bescheid vom hob die Beklagte "die Forderungsbescheide vom " sowie die darauffolgenden Mahnungen auf.
3Mit Bescheid vom stellte die Beklagte das Vorliegen von Versicherungspflicht ab gemäß § 2 S 1 Nr 9 SGB VI fest, der Regelbeitrag sei ab zu zahlen. Weiter werde ein rückständiger Beitrag in Höhe von 28 785,30 Euro ( bis ) und ein laufender Beitrag von 514,50 Euro ab gefordert. Den Antrag vom Januar 2013, ihn von der Versicherungspflicht zu befreien, lehnte die Beklagte ab (Bescheid vom ). Die Versicherungspflicht sei bereits am eingetreten, der Antrag hätte gemäß § 231 Abs 5 SGB VI bis zum gestellt werden müssen. Mit Widerspruchsbescheid vom hat die Beklagte die Widersprüche gegen die Bescheide vom und zurückgewiesen. Ein früherer Befreiungsantrag liege nicht vor, der Kläger sei versicherungspflichtig.
4Mit weiterem Bescheid vom setzte die Beklagte Säumniszuschläge für die Zeit vom bis fest. Mit Bescheid vom nahm die Beklagte den Bescheid vom hinsichtlich der geforderten Säumniszuschläge zurück. Das Verfahren werde bis zum rechtskräftigen Abschluss des Klageverfahrens ausgesetzt.
5Mit Urteil vom hat das SG Gießen den Bescheid vom in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom insoweit aufgehoben, als eine Beitragspflicht des Klägers von Januar bis Mai 2008 festgestellt worden sei und im Übrigen die Klage abgewiesen. Auf die Berufung des Klägers hat das Hessische LSG das SG-Urteil insoweit aufgehoben, als damit der Bescheid vom in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom aufgehoben werde. Im Übrigen hat es die Berufung zurückgewiesen (Urteil vom ).
6Mit der Nichtzulassungsbeschwerde rügt der Kläger Verfahrensmängel. Das LSG habe gegen den Grundsatz des rechtlichen Gehörs verstoßen. Es habe ihm - dem Kläger - eine Frist zur Stellungnahme zum Schriftsatz der Beklagten vom bis zum gesetzt. Gleichwohl habe das LSG ohne mündliche Verhandlung durch Urteil vom - und damit vor Fristablauf - über die Berufung entschieden. Auf diesem Verfahrensmangel könne die Entscheidung beruhen. Er - der Kläger - hätte darauf hinweisen können, dass die Beteiligten in der Sitzung am ihr Einverständnis mit dem Ruhen des Verfahrens erklärt hätten, bis die Beklagte über seinen Antrag entschieden habe, "ob die ausstehenden Beitragszahlungen über Ratenzahlungen zu zahlen sind bzw. gestundet oder sogar niedergeschlagen werden" können. Zwar habe die Beklagte im Schreiben vom behauptet, ihr "diesbezügliches Schreiben vom ("Information zur Ratenzahlung von selbständig Tätigen" mit Antragsvordruck)" sei unbeantwortet geblieben, was sich aber weder auf die Überprüfung der Möglichkeit der Stundung noch der Niederschlagung der streitgegenständlichen Forderung bezogen habe. Unabhängig davon sei in der Sitzung vom keine Rede davon gewesen, dass der Kläger noch einen gesonderten Antrag stellen müsse. Damit sei für ihn noch keine Entscheidungsreife eingetreten, vielmehr hätte die Beklagte eine entsprechende Prüfung durchführen müssen.
7Des Weiteren habe das LSG gegen die Berücksichtigungs- und Erwägungspflicht als Teil des Grundsatzes des rechtlichen Gehörs verstoßen. Insbesondere habe das LSG zur Rüge, der Widerspruchsbescheid sei infolge fehlender Unterzeichnung (§ 85 Abs 3 S 1 SGG) nichtig, nicht Stellung genommen. Die unrichtige Anwendung des § 153 Abs 2 SGG führe dazu, dass die Entscheidungsgründe iS von § 136 Abs 1 Nr 6 SGG fehlten, was einen absoluten Revisionsgrund nach § 202 S 1 SGG iVm § 547 Nr 6 ZPO begründe. Das Gericht habe auch sein Recht auf Akteneinsicht verletzt, weil es den Antrag auf Einsicht in die vollständigen Behördenakten hinsichtlich der Betriebsprüfung bei der S. Finanzberatungs GmbH F. übergangen habe, selbst wenn das LSG seiner Tätigkeit bei dieser Firma keine Bedeutung beigemessen habe. Schließlich weise das Urteil des LSG nicht die gesetzliche Form auf. Die ihm übersandte Urteilsabschrift enthalte weder den Namen noch die Unterzeichnung durch den Urkundsbeamten der Geschäftsstelle.
8II. Auf die Beschwerde des Klägers war das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
9Der Kläger hat formgerecht (vgl § 160a Abs 2 S 3 SGG) und auch in der Sache zutreffend die Verletzung des Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art 103 Abs 1 GG, § 62 SGG) gerügt (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG).
10Das LSG hat § 62 SGG verletzt, wonach den Beteiligten vor jeder Entscheidung rechtliches Gehör zu gewähren ist. Der Verstoß des Berufungsgerichts gegen diese Verfahrensvorschrift liegt darin begründet, dass es dem Kläger mit Schreiben vom eine Frist zur Stellungnahme (bis zum ) zum Schreiben der Beklagten vom eingeräumt und diese selbst nicht beachtet hat. In diesem Fall setzt sich das Gericht in Widerspruch zu seinem eigenen Verhalten und verletzt das aus Art 2 Abs 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip abzuleitende allgemeine verfassungsrechtliche Prozessgrundrecht auf ein faires Verfahren (vgl BVerfG <Kammer> Beschluss vom - 1 BvR 622/98 - Juris RdNr 11 im Rahmen prozessualer Hinweispflichten; BVerfG <Kammer> Beschluss vom - 2 BvR 2600/95 - Juris RdNr 21 mwN). Aus diesem ergibt sich des Weiteren, dass das Gericht verpflichtet ist, die selbst gesetzte Frist einzuhalten (vgl BVerfG <Kammer> Beschluss vom - 1 BvR 604/90 - Juris RdNr 16, 22 mwN).
11Die Entscheidung des LSG kann auf der Verletzung von § 62 SGG beruhen. Hierzu hat der Kläger in der Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde vorgetragen, er hätte darauf hingewiesen, dass die Beteiligten in der Sitzung am ihr Einverständnis mit dem Ruhen des Verfahrens erklärt hätten, bis die Beklagte über seinen Antrag entschieden habe, "ob die ausstehenden Beitragszahlungen über Ratenzahlungen zu zahlen sind bzw. gestundet oder sogar niedergeschlagen werden" können. Zwar habe die Beklagte im Schreiben vom behauptet, ihr "diesbezügliches Schreiben vom ("Information zur Ratenzahlung von selbständig Tätigen" mit Antragsvordruck)" sei unbeantwortet geblieben, was sich aber weder auf die Überprüfung der Möglichkeit der Stundung noch der Niederschlagung der streitgegenständlichen Forderung bezogen habe. Unabhängig davon sei in der Sitzung vom keine Rede davon gewesen, dass der Kläger noch einen gesonderten Antrag stellen müsse. Damit sei für ihn noch keine Entscheidungsreife eingetreten, vielmehr hätte die Beklagte eine entsprechende Prüfung durchführen müssen. Dieser Vortrag ist ausreichend im Rahmen des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, wonach die Revision nur dann zuzulassen ist, wenn die angefochtene Entscheidung auf dem Verfahrensmangel beruhen kann. Denn es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das LSG ein weiteres Ruhen des Verfahrens bis zu einer Entscheidung der Beklagten angeordnet hätte.
12Da die Beschwerde bereits aus den oben dargelegten Gründen erfolgreich ist, bedarf es keiner Entscheidung des Senats zu den übrigen Verfahrensrügen.
13Gemäß § 160a Abs 5 SGG kann das BSG in dem Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverweisen, wenn die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG vorliegen. Zur Vermeidung weiterer Verfahrensverzögerungen macht der Senat von dieser ihm eingeräumten Möglichkeit Gebrauch.
14Das LSG wird auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.
Diese Entscheidung steht in Bezug zu
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BSG:2016:151216BB5RE716B0
Fundstelle(n):
NAAAF-89771