„Der Kampf gegen die kalte Progression“
Zur Bekanntgabe des Zweiten Steuerprogressionsberichts
Der kalten Progression, dem aufgepumpten Monster (Süddeutsche Zeitung vom ), seit Jahrzehnten ein steuerpolitischer Dauerbrenner, soll nun endlich der Garaus gemacht werden. Die Gelegenheit ist günstig, denn die Steuereinnahmen sind stärker als alle Schätzungen gestiegen und angesichts bescheidener Inflationswerte wird es auch nicht viel kosten. Was aber versteht man unter der kalten Progression? Der Begriff ist unscharf und wird von vielen nicht verstanden. Man kann sich ihm auch nicht antonymisch nähern, denn es gibt keine warme oder gar heiße Progression, sondern eben nur einen progressiven Tarif, der jahresbezogen Anwendung findet. Und weil dem so ist, wird vor allem von Politikern medial wirksam oft die irreführende Behauptung aufgestellt, nach einer Lohnerhöhung bleibe dem Bürger „weniger Netto vom Brutto“ übrig. Vor diesem Hintergrund dient es der Versachlichung der Diskussion, dass der Erste Steuerprogressionsbericht der Bundesregierung (BT-Drucks. 18/3894) das Phänomen der kalten Progression definiert. Etwas sperrig und sprachlich ungenau (die kalte Progression ist keine Steuermehreinnahme) heißt es dort: „Als kalte Progression werden Steuermehreinnahmen bezeichnet, die entstehen, soweit Einkommenserhöhungen die Inflation ausgleichen und es in Folge des progressiven Einkommensteuertarifs bei somit unverändertem Realeinkommen zu einem Anstieg der Durchschnittsbelastung kommt.“
Gemeint ist die Steuermehrbelastung, die im zeitlichen Verlauf entsteht, wenn die Eckwerte eines progressiven Steuertarifs nicht an die Preissteigerungsrate angepasst werden. Das Schlagwort „Fiskalische Dividende“ oder die Bezeichnung als „heimliche Steuererhöhung“ beschreiben diese Langzeitwirkung progressiver Steuertarife sicherlich treffender. Während die meisten OECD-Staaten schon seit langem gesetzliche Regelungen oder Maßnahmen zum Abbau der kalten Progression – im Englischem als „bracket creep“ oder „fiscal drag“ bezeichnet – ganz unterschiedlicher Art kennen und in der Schweiz sogar eine Regelung mit Verfassungsrang gilt (Art. 128 Abs. 3 BV), wurde der Kampf gegen die dem Fiskus willkommenen heimlichen Steuererhöhungen in Deutschland jahrzehntelang als Thema der Steuerreform diskutiert und die Lösung einer automatischen Tarifanpassung der breiten Bevölkerung als „Tarif auf Rädern“ nahegebracht. Die Einsicht, dass die heimlichen Steuererhöhungen dem Grundsatz einer Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit und dem Grundgedanken progressiver Besteuerung widersprechen könnten, hat denn auch immer wieder einmal zu Erhöhungen des Grundfreibetrags und der privaten Abzugsbeträge geführt, ohne dass diesen Maßnahmen ein gesetzgeberisches Konzept zugrunde gelegen hätte. Dies soll sich nun ändern. Im Auftrag des Deutschen Bundestags hat die Bundesregierung inzwischen den Zweiten Steuerprogressionsbericht vorgelegt, der nach dem Vorbild der bekannten Existenzminimumberichte die Wirkungen der kalten Progression in den Jahren 2016 und 2017 untersucht und alle zwei Jahre erscheint. Werden die Ergebnisse dieser Berichte vom Gesetzgeber umgesetzt, dann ist der Einkommensteuertarif auch in Deutschland auf die Räder gestellt.
Hans-Joachim Kanzler
Fundstelle(n):
NWB 2016 Seite 3641
NWB EAAAF-87363