EuGH Urteil v. - C-412/15 BStBl 2017 II S. 505

Steuerbefreiungen für bestimmte, dem Gemeinwohl dienende Tätigkeiten – Art. 132 Abs. 1 Buchst. d – Lieferung von menschlichen Organen, menschlichem Blut und Frauenmilch – Tragweite – Aufbereitetes und für industrielle Zwecke verwendetes menschliches Blutplasma

Leitsatz

Art. 132 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem ist dahin gehend auszulegen, dass die Lieferung von menschlichem Blut, die die Mitgliedstaaten nach dieser Bestimmung von der Steuer befreien müssen, nicht die Lieferung von aus menschlichem Blut gewonnenem Blutplasma umfasst, wenn dieses Blutplasma nicht unmittelbar für therapeutische Zwecke, sondern ausschließlich zur Herstellung von Arzneimitteln bestimmt ist.

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Gründe

Zu den Vorlagefragen

22Mit seinen Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 132 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2006/112 dahin gehend auszulegen ist, dass die Lieferung von menschlichem Blut, die die Mitgliedstaaten nach dieser Bestimmung von der Steuer befreien müssen, auch die Lieferung von aus menschlichem Blut gewonnenem Blutplasma umfasst, wenn dieses Blutplasma nicht unmittelbar für therapeutische Zwecke, sondern ausschließlich zur Herstellung von Arzneimitteln bestimmt ist.

23Gemäß Art. 132 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2006/112 befreien die Mitgliedstaaten die Lieferung von menschlichen Organen, menschlichem Blut und Frauenmilch von der Steuer.

24Vorab ist darauf hinzuweisen, dass die in diesem Art. 132 enthaltenen Begriffe nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs autonome unionsrechtliche Begriffe sind, die eine von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat unterschiedliche Anwendung des Mehrwertsteuersystems verhindern sollen (Urteil vom , VDP Dental Laboratory u. a., C-144/13, C-154/13 und C-160/13, EU:C:2015:116, Rn. 44).

25Der in Art. 132 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2006/112 enthaltene Begriff "menschliches Blut" wird in der Richtlinie 2006/112 jedoch nicht definiert.

26Unter diesen Umständen sind die Bedeutung und die Tragweite dieses Begriffs entsprechend dem üblichen Sinn im gewöhnlichen Sprachgebrauch und unter Berücksichtigung des Zusammenhangs, in dem er verwendet wird, sowie der mit der Regelung, zu der er gehört, verfolgten Ziele zu bestimmen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , Ketelä, C-592/11, EU:C:2012:673, Rn. 51 und die dort angeführte Rechtsprechung).

27Hinsichtlich des üblichen Sinns dieses Begriffs ist festzustellen, dass der Begriff "menschliches Blut" einen Bestandteil des menschlichen Körpers bezeichnet, der aus mehreren nicht autonomen, einander ergänzenden Bestandteilen besteht, deren synergistisches Zusammenwirken es ermöglicht, sämtliche Organe und Gewebe zu durchbluten.

28Einer dieser einander ergänzenden Bestandteile ist das Blutplasma, d. h. die Flüssigkeit, die dazu dient, andere Bestandteile des menschlichen Bluts durch den menschlichen Körper zu transportieren.

29Zum allgemeinen Kontext ist zunächst darauf hinzuweisen, dass es gemäß Art. 3 Abs. 2 Buchst. c der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verboten ist, den menschlichen Körper und Teile davon als solche zur Erzielung von Gewinnen zu nutzen.

30Was als Nächstes den Zweck der Gesamtheit der Bestimmungen des Art. 132 der Richtlinie 2006/112 angeht, so soll dieser Artikel bestimmte dem Gemeinwohl dienende Tätigkeiten von der Mehrwertsteuer befreien, um den Zugang zu bestimmten Dienstleistungen und die Lieferung bestimmter Gegenstände unter Vermeidung der höheren Kosten zu erleichtern, die entstünden, wenn diese Dienstleistungen und die Lieferung dieser Gegenstände der Mehrwertsteuer unterworfen wären (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , VDP Dental Laboratory u. a., C-144/13, C-154/13 und C-160/13, EU:C:2015:116, Rn. 43 und 45 und die dort angeführte Rechtsprechung).

31Zu Art. 132 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2006/112 ist schließlich darauf hinzuweisen, dass diese Bestimmung, ebenso wie die Buchst. b, c und e dieses Absatzes, Umsätze betrifft, die unmittelbar mit Gesundheitsleistungen zusammenhängen oder einen therapeutischen Zweck haben.

32Die in Art. 132 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2006/112 vorgesehene Befreiung der Lieferung von menschlichem Blut von der Steuer ist daher so zu verstehen, dass sie gewährleisten soll, dass der Zugang zur Lieferung von Produkten, die zu Gesundheitsleistungen beitragen oder einen therapeutischen Zweck haben, nicht durch die höheren Kosten versperrt wird, die entstünden, wenn die Lieferung dieser Produkte der Mehrwertsteuer unterworfen wäre (vgl. entsprechend Urteil vom , VDP Dental Laboratory u. a., C-144/13, C-154/13 und C-160/13, EU:C:2015:116, Rn. 46 und die dort angeführte Rechtsprechung).

33Angesichts des Vorstehenden muss die Lieferung von menschlichem Blut, einschließlich der Lieferung von Blutplasma, das eines seiner Bestandteile ist, unter die in Art. 132 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2006/112 vorgesehene Steuerbefreiung fallen, wenn diese Lieferung unmittelbar zu dem Gemeinwohl dienenden Tätigkeiten beiträgt, d. h., wenn das gelieferte Blutplasma unmittelbar für Gesundheitsleistungen oder zu therapeutischen Zwecken eingesetzt wird.

34Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass die zur Umschreibung der in Art. 132 der Richtlinie 2006/112 vorgesehenen Steuerbefreiungen verwendeten Begriffe eng auszulegen sind, da diese Steuerbefreiungen Ausnahmen von dem allgemeinen Grundsatz darstellen, dass jede Dienstleistung, die ein Steuerpflichtiger gegen Entgelt erbringt, der Mehrwertsteuer unterliegt (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteile vom , Nordea Pankki Suomi, C-350/10, EU:C:2011:532, Rn. 23, sowie vom , Hedqvist, C-264/14, EU:C:2015:718, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung).

35Daraus folgt, dass sogenanntes "Industrieplasma", d. h. Plasma, dessen Lieferung nicht unmittelbar zu dem Gemeinwohl dienenden Tätigkeiten beiträgt, da es dazu bestimmt ist, in einem industriellen Herstellungsprozess, u. a. zum Zweck der Herstellung von Arzneimitteln, eingesetzt zu werden, dagegen nicht unter die in Art. 132 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2006/112 vorgesehene Steuerbefreiung fallen kann.

36Folglich fällt nur Blutplasma, das tatsächlich zur unmittelbaren therapeutischen Verwendung bestimmt ist, unter die in Art. 132 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2006/112 vorgesehene Steuerbefreiung.

37Da die Gewährung dieser Steuerbefreiung davon abhängt, dass das Blutplasma für eine bestimmte Art von dem Gemeinwohl dienenden Tätigkeiten verwendet wird, kann der Umstand, dass zur industriellen Verwendung bestimmtes Plasma theoretisch unmittelbar für therapeutische Zwecke verwendet werden kann - selbst wenn er erwiesen sein sollte -, nicht bedeuten, dass für dieses Plasma die Befreiungsregelung anzuwenden ist, die lediglich für Blutplasma, das tatsächlich unmittelbar für therapeutische Zwecke verwendet wird, die Kosten begrenzen soll.

38Aus den dem Gerichtshof vorgelegten Akten geht hervor, dass Blutplasma wie das im Ausgangsverfahren in Rede stehende nicht für die Zwecke von Gesundheitsleistungen oder therapeutische Zwecke bestimmt ist, sondern ausschließlich für pharmazeutische Zwecke.

39Ein solches Blutplasma kann daher nicht unter die in Art. 132 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2006/112 vorgesehene Steuerbefreiung fallen.

40Nach alledem ist auf die vorgelegten Fragen zu antworten, dass Art. 132 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2006/112 dahin gehend auszulegen ist, dass die Lieferung von menschlichem Blut, die die Mitgliedstaaten nach dieser Bestimmung von der Steuer befreien müssen, nicht die Lieferung von aus menschlichem Blut gewonnenem Blutplasma umfasst, wenn dieses Blutplasma nicht unmittelbar für therapeutische Zwecke, sondern ausschließlich zur Herstellung von Arzneimitteln bestimmt ist.

Kosten

41Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt:

Art. 132 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem ist dahin gehend auszulegen, dass die Lieferung von menschlichem Blut, die die Mitgliedstaaten nach dieser Bestimmung von der Steuer befreien müssen, nicht die Lieferung von aus menschlichem Blut gewonnenem Blutplasma umfasst, wenn dieses Blutplasma nicht unmittelbar für therapeutische Zwecke, sondern ausschließlich zur Herstellung von Arzneimitteln bestimmt ist.

ECLI Nummer:
ECLI:EU:C:2016:738

Fundstelle(n):
BStBl 2017 II Seite 505
RAAAF-83598