Instanzenzug: BPatG
Tatbestand
1Die Beklagte ist eingetragene Inhaberin des am angemeldeten, auch mit Wirkung für die Bundesrepublik Deutschland erteilten europäischen Patents 775 417 (Streitpatent). Das Streitpatent umfasst in der korrigierten Fassung (EP 0 775 417 B9) sechs Patentansprüche, von denen Patentanspruch 1 wie folgt lautet:
"An electronic television programming guide system for use in connection with a television receiver for displaying a plurality of television programs from a plurality of program sources on a plurality of user-selectable television channels comprising:
user control means for issuing control commands, including channel-control commands;
data processing means for receiving said control commands and for generating video control commands;
a video display generator adapted to receive video control commands from said data processing means; and selection means for allowing said user to select any one of said plurality of television channels,
said data processing means being responsive to said selection means and adapted to tune said television receiver to the television channel selected by the user, characterised in that said data processing means is adapted to allow said user to define a plurality of preferred tuning sequences of said television receiver; said data processing means being further adapted to receive said commands defining each said sequence of tuning and to generate a channel-tuning sequence list for each said defined sequence of tuning;
memory means for storing each said channel-tuning sequence list; said data processing means being further adapted to use one of said channel-tuning sequence lists to control the sequence of tuning of said plurality of television channels on said television receiver such that said television channels are tuned in accordance with said one defined sequence of tuning and in response to channel-control commands from said user control means."
2Die Klägerin hat geltend gemacht, das Streitpatent sei gegenüber den ursprünglich eingereichten Unterlagen unzulässig erweitert und enthalte zudem eine Schutzbereichserweiterung. Darüber hinaus sei der Gegenstand des Streitpatents nicht patentfähig.
3Das Patentgericht hat das Streitpatent für nichtig erklärt. Hiergegen richtet sich die Berufung der Beklagten, mit der sie das Streitpatent in der erteilten Fassung und hilfsweise in der Fassung von vier bereits in der ersten Instanz gestellten sowie drei neuen Hilfsanträgen verteidigt. Die Klägerin tritt dem Rechtsmittel entgegen.
Entscheidungsgründe
4I. Das Streitpatent betrifft einen elektronischen Programmführer für einen Fernsehempfänger.
51. Nach der Beschreibung des Streitpatents war im Stand der Technik unter anderem ein elektronischer Zeichengenerator zum Anzeigen von Textinformationen zum Zeitplan eines Fernsehprogramms auf dem vollen Bildschirm eines Fernsehempfängers bekannt. Andere Systeme verwendeten einen Datenprozessor, um anhand von vom Anwender eingegebenen Kriterien bestimmte Programmzeitplaninformationen abzuspeichern, anhand dieser Daten einen Fernsehempfänger automatisch abzustimmen oder ein Aufzeichnungsgerät zum Zeitpunkt der ausgewählten Fernsehübertragung zu aktivieren.
6Das Streitpatent kritisiert, dass solche elektronischen Programmsysteme schwierig zu implementieren und umständlich zu benutzen seien. Insbesondere böten sie keinen Modus, der die Betrachtungsgewohnheiten des Anwenders berücksichtige.
7Dem Gegenstand des Streitpatents liegt die Aufgabe zugrunde, einen verbesserten und nutzerfreundlicheren elektronischen Programmführer für Fernsehempfänger zu schaffen.
82. Zur Lösung schlägt das Streitpatent in Patentanspruch 1 ein System mit folgenden Merkmalen vor (die Gliederungsnummern stammen aus dem patentgerichtlichen Urteil, wo die Merkmale in einer anderen Reihenfolge aufgelistet sind):
Elektronisches Fernsehprogramm-Leitsystem zur Verwendung in Verbindung mit einem Fernsehempfänger für die Anzeige mehrerer Fernsehprogramme aus mehreren Programmquellen in mehreren vom Anwender wählbaren Fernsehkanälen, mit
einer Anwendersteuereinrichtung zum Ausgeben von Steuerbefehlen einschließlich Kanalsteuerbefehlen,
Auswahlmitteln, die dem Anwender ermöglichen, irgendeinen der mehreren Fernsehkanäle zu wählen,
einer Datenverarbeitungseinrichtung zum Empfangen der Steuerbefehle und zum Erzeugen von Videosteuerbefehlen, die
einer Speichereinrichtung zum Speichern jeder Kanalabstimmsequenz-Liste und 4. einem Videoanzeigegenerator, der Videosteuerbefehle von der Datenverarbeitungseinrichtung empfängt.
9Die nachfolgende Figur 1 des Streitpatents zeigt in Form eines Blockschaltbildes die Komponenten für ein Ausführungsbeispiel.
10II. Das Patentgericht hat seine Entscheidung im Wesentlichen wie folgt begründet:
11Patentanspruch 1 sei dahin auszulegen, dass die Auswahlmittel gemäß Merkmal 5 ein Subsystem der Anwendersteuereinrichtung gemäß Merkmal 2 seien. Der Videoanzeigegenerator gemäß Merkmal 4 sei in den funktionellen Ablauf der Abstimmung des Fernsehempfängers oder der Generierung einer Kanalabstimmsequenz-Liste erkennbar nicht einbezogen. Demnach ergebe sich als Gegenstand von Patentanspruch 1 ein elektronisches Fernsehprogramm-Leitsystem, das ausschließlich darauf beruhe, dass der Nutzer mit beispielsweise einer Fernbedienung als Anwendersteuereinrichtung ausgewählte Kanäle mittels einer Datenverarbeitungsanlage eingeben könne, die wiederum den Fernsehempfänger auf einen gewählten Kanal abstimme oder mehrere eingegebene Kanäle zu einer oder mehreren Kanalabstimmungssequenzlisten zusammenfasse. Hierbei seien die Subkomponenten Fernsehempfänger, Anwendersteuereinrichtung, Auswahlmittel, Datenverarbeitungseinrichtung und Speichereinrichtung zu einem kausalen Wirkungskreislauf zusammengeschaltet. Der Videoanzeigegenerator habe hingegen, bis auf sein bloßes Vorhandensein, für den mit dem Patentanspruch vorgegebenen, in sich geschlossenen Funktionsablauf keine Bedeutung.
12Der so definierte Gegenstand von Patentanspruch 1 gehe über den Inhalt der ursprünglich eingereichten Unterlagen hinaus. Dort sei vorgesehen, dass der Videoanzeigegenerator Steuerbefehle von der Datenverarbeitungseinrichtung für die Erzeugung und Darstellung eines Lokalisierungsmenüs auf dem besagten Fernsehempfänger empfange. Weiterhin ziehe sich eine Benutzerführung unter Einbeziehung eines am Fernsehempfänger angezeigten grafischen Interfaces in Form eines Lokalisierungsmenüs wie ein roter Faden durch den Beschreibungsteil. Dies schließe bei fachkundiger Lesart die Offenbarung eines Systems ohne Rückgriff auf ein solches Interface aus. Vielmehr mutiere der Fernsehbildschirm von seiner ureigensten Funktion, passiv Bildinhalte wiederzugeben, zu einem funktional aktiven Bestandteil des Auswahlvorgangs. Diese ursprünglich definierten Eigenschaften der Subsysteme fänden sich in der erteilten Fassung so nicht wieder.
13In der Fassung gemäß Hilfsantrag I könne das Streitpatent ebenfalls keinen Bestand haben. Nach dieser Fassung solle der Videoanzeigegenerator Generierungs- und Anzeigefunktionen verifizieren. Dies führe zu einer vollkommen neuen technischen Funktionsweise, wodurch sich ein Aliud ergebe.
14III. Dies hält der Nachprüfung im Berufungsverfahren nicht stand.
151. Zum Gegenstand von Patentanspruch 1 gehört auch in der geltenden Fassung eine visuelle Rückkopplung des Auswahlvorgangs auf dem Fernsehbildschirm. Im Wortlaut von Patentanspruch 1 ist eine solche Rückkopplung zwar nicht ausdrücklich vorgesehen. Sie ergibt sich aber aus dem Zusammenhang zwischen den Merkmalen 4, 5, 7, 8 und 9 und den hierauf bezogenen Ausführungen in der Beschreibung.
16a) Die in den Merkmalen 7 bis 9 vorgesehene Möglichkeit, dass der Benutzer mehrere Listen mit von ihm bevorzugten Abstimmsequenzen bestimmen kann, die von der Datenverarbeitungseinrichtung empfangen, umgesetzt und abgespeichert werden, umfasst nach der Beschreibung des Streitpatents eine visuelle Rückkopplung auf dem Fernsehbildschirm. Ohne eine solche Rückkopplung müsste der Benutzer die Listen quasi blind erstellen. Selbst wenn dies möglich wäre, entspräche dies weder dem in der Beschreibung des Streitpatents aufgezeigten Weg noch dem darin hervorgehobenen Ziel einer möglichst großen Benutzerfreundlichkeit. Wie das Patentgericht zutreffend erkannt hat, zieht sich eine visuelle Rückkopplung "wie ein roter Faden" durch die gesamte Beschreibung. Dies gilt indessen nicht nur für die ursprünglich eingereichten Unterlagen, sondern auch für die Beschreibung des Streitpatents, die insofern keine relevanten Unterschiede aufweist.
17b) Von den in Patentanspruch 1 vorgesehenen Bestandteilen des Systems kommt als Mittel für eine visuelle Rückkopplung allein der in Merkmal 4 definierte Videoanzeigegenerator in Betracht. Dieser wird auch in dem in der Beschreibung detailliert geschilderten Ausführungsbeispiel genutzt, um eine Benutzerführung über den Fernsehbildschirm zu realisieren. Andere Möglichkeiten einer visuellen Rückkopplung sind demgegenüber in der Beschreibung nicht erwähnt und im Patentanspruch nicht angelegt.
18c) Vor diesem Hintergrund kann Patentanspruch 1 entgegen der Auffassung des Patentgerichts nicht dahin ausgelegt werden, dass der Videoanzeigegenerator in den funktionalen Ablauf der Abstimmung des Fernsehempfängers auf einen Kanal oder der Generierung von Abstimmsequenzlisten nicht einbezogen ist. Zwar ist die Funktion des Videoanzeigegenerators im Patentanspruch nur rudimentär beschrieben. Gerade daraus ist jedoch zu entnehmen, dass ihm diejenigen in der Beschreibung aufgezeigten Funktionen zukommen müssen, die zur Verwirklichung der übrigen Merkmale des Patentanspruchs erforderlich sind. Eine hinreichende Grundlage im Patentanspruch bildet angesichts der aufgezeigten Ausgangslage schon der Umstand, dass der Videoanzeigegenerator gemäß Merkmal 4 Steuerbefehle von der Datenverarbeitungseinrichtung empfängt. Um die in den Merkmalen 5 bis 9 vorgesehenen Funktionen zu realisieren, dürfen sich diese Steuerbefehle nicht auf die bloße Ansteuerung einzelner Kanäle beschränken. Vielmehr muss der Videoanzeigegenerator auch solche Steuersignale entgegennehmen und umsetzen, die eine visuelle Rückkopplung jedenfalls für die Erstellung von benutzerdefinierten Listen am Bildschirm ermöglichen.
192. Dieser Gegenstand von Patentanspruch 1 geht nicht über den Inhalt der ursprünglichen Anmeldung hinaus.
20a) Für die Frage, ob der Gegenstand eines Patentanspruchs bereits zum Inhalt der ursprünglich eingereichten Unterlagen gehört, ist maßgeblich, ob der Fachmann die im Anspruch bezeichnete technische Lehre den Ursprungsunterlagen unmittelbar und eindeutig als mögliche Ausführungsform der Erfindung entnehmen kann. Hierfür sind der Text der Beschreibung einschließlich der Erläuterung einer erfindungsgemäßen Ausführungsform sowie die Zeichnungen einer Anmeldung ebenso zu berücksichtigen wie die in der Anmeldung formulierten Patentansprüche ( Xa ZR 52/08, GRUR 2010, 599 Rn. 22 - Formteil; Urteil vom - X ZR 88/09, GRUR 2012, 475 Rn. 32 - Elektronenstrahltherapiesystem). Dabei sind zur Vermeidung einer unbilligen Beschränkung des Anmelders bei der Ausschöpfung des Offenbarungsgehalts auch Verallgemeinerungen ursprungsoffenbarter Ausführungsbeispiele zulässig. Ein "breit" formulierter Anspruch ist unbedenklich, wenn sich ein in der Anmeldung beschriebenes Ausführungsbeispiel der Erfindung für den Fachmann als Ausgestaltung der im Anspruch umschriebenen allgemeineren technischen Lehre darstellt und diese Lehre in der beanspruchten Allgemeinheit für ihn bereits der Anmeldung - sei es in Gestalt eines in der Anmeldung formulierten Anspruchs, sei es nach dem Gesamtzusammenhang der Unterlagen - als zu der angemeldeten Erfindung gehörend entnehmbar ist. Dies gilt vornehmlich dann, wenn von mehreren Merkmalen eines Ausführungsbeispiels, die zusammengenommen, aber auch für sich betrachtet dem erfindungsgemäßen Erfolg förderlich sind, nur eines oder nur einzelne in den Anspruch aufgenommen worden sind (, BGHZ 194, 107 Rn. 52 - Polymerschaum).
21b) Bei Anlegung dieser Maßstäbe geht der Gegenstand des Streitpatents nicht über den Inhalt der ursprünglich eingereichten Unterlagen hinaus.
22aa) Zu Recht ist das Patentgericht davon ausgegangen, dass ein System, das ohne Rückgriff auf ein grafisches Interface arbeitet, in den ursprünglich eingereichten Unterlagen nicht offenbart ist. Wie bereits dargelegt wurde, wird ein solches System indes auch vom Streitpatent nicht beansprucht.
23bb) Der Gegenstand des Streitpatents ist auch nicht deshalb unzulässig erweitert, weil Patentanspruch 1 abweichend von dem in der Anmeldung formulierten Anspruch ein Lokalisierungsmenü nicht zwingend vorsieht.
24Dabei kann dahingestellt bleiben, ob das in den ursprünglichen Unterlagen in Anspruch vorgesehene Lokalisierungsmenü (location menu) mit dem in der Anmeldung beschriebenen Lokalisierungsbildschirm (locator screen, K7 S. 48) gleichzusetzen ist. Selbst wenn dies zu bejahen wäre, ergäbe sich daraus nicht, dass dieses Merkmal zwingend im Patentanspruch vorgesehen werden müsste. In der Beschreibung der Anmeldung wird der Lokalisierungsbildschirm (locator screen) als optional dargestellt (K7 S. 20 Z. 31 bis 34). Damit sind auch solche Ausführungsformen als zur Erfindung gehörend offenbart, die dieses Merkmal nicht aufweisen. Dass der in der Anmeldung formulierte Anspruch 1 weitergehende Festlegungen enthält, führt nicht zu einer anderen Beurteilung, weil als Vergleichsmaßstab der gesamte Inhalt der ursprünglich eingereichten Unterlagen heranzuziehen ist.
25cc) Entgegen der Auffassung der Klägerin geht der Gegenstand des Streitpatents nicht deshalb über den Inhalt der ursprünglich eingereichten Unterlagen hinaus, weil Patentanspruch 1 abweichend von dem in der Anmeldung formulierten Anspruch 3 keine "tuning-selection messages" vorsieht.
26Dabei kann offen bleiben, welcher Bedeutungsgehalt diesem in der Beschreibung der Anmeldung nicht erläuterten Begriff beizumessen ist. In Anspruch 3 der Anmeldung sind "tuning-selection messages" jedenfalls nur als optionales Merkmal des seinerseits optionalen Lokalisierungsmenüs definiert. Damit sind auch solche Ausführungsformen als zur Erfindung gehörend offenbart, die dieses Merkmal nicht aufweisen.
273. Die Erwägungen, mit denen das Patentgericht den selbständigen Klagegrund einer Erweiterung des Schutzbereichs abgelehnt hat, sind seitens der Klägerin nicht angegriffen. Sie lassen auch keinen Rechtsfehler erkennen.
28IV. Die Sache ist nicht zur Entscheidung reif (§ 119 Abs. 5 Satz 2 PatG).
29Das Patentgericht hat sich mit der Frage der Patentfähigkeit nicht abschließend befasst. Eine erstmalige Prüfung dieser Frage im Berufungsverfahren erscheint nicht sachdienlich (§ 119 Abs. 5 Satz 1 PatG).
30Ein Grundgedanke des reformierten Patentnichtigkeitsverfahrens ist es, dass die Patentfähigkeit zunächst durch das mit technisch sachkundigen Richtern besetzte Patentgericht bewertet wird. Eine Endentscheidung durch den Bundesgerichtshof ist daher regelmäßig nicht sachgerecht, wenn die Erstbewertung des Standes der Technik durch das Patentgericht unter dem Gesichtspunkt der Patentfähigkeit unterblieben ist (, GRUR 2015, 1095 Rn. 39 - Bitratenreduktion).
Fundstelle(n):
WAAAF-82811