BGH Beschluss v. - VI ZB 19/16

Wiedereinsetzung in den vorigen Stand: Richterliche Hinweispflicht auf unklare oder ergänzungsbedürftige Angaben

Leitsatz

Erkennbar unklare oder ergänzungsbedürftige Angaben in einem Wiedereinsetzungsantrag, deren Aufklärung nach § 139 ZPO geboten gewesen wäre, können nach Fristablauf mit der Rechtsbeschwerde ergänzt werden (Anschluss , Rn. 9).

Gesetze: § 139 Abs 1 ZPO, § 236 Abs 2 ZPO, Art 103 Abs 1 GG

Instanzenzug: LG Darmstadt Az: 6 S 197/15vorgehend AG Seligenstadt Az: 1 C 294/15 (2)

Gründe

I.

1Der Kläger hat gegen das ihm am zugestellte Urteil des Amtsgerichts rechtzeitig Berufung eingelegt. Durch Schriftsatz vom hat der Kläger die Berufung begründet. Der Schriftsatz ist im Wege der Faxübermittlung am bei dem Landgericht eingegangen; der mit der Post übersandte Originalschriftsatz hat das Landgericht am erreicht. Auf den ihm am zugegangenen Hinweis des Kammervorsitzenden über den verspäteten Eingang der Berufungsbegründung hat der Kläger mit am bei dem Landgericht eingegangenem Schriftsatz Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist beantragt. Zur Begründung hat er - unter Vorlage einer eidesstattlichen Versicherung der bei seinem Prozessbevollmächtigten angestellten Rechtsanwaltsfachangestellten W. - ausgeführt: Sein Prozessbevollmächtigter habe die Berufungsbegründung im Anschluss an ein letztes Mandantengespräch mit ihm am um 11 Uhr fertiggestellt und nach Ausfertigung unterschrieben. Am selben Tag habe Frau W. den Schriftsatz zur Post gegeben und abgeschickt. Weil die im Fristenkalender falsch auf den eingetragene Frist trotz Erledigung nicht gestrichen worden sei, habe eine weitere Angestellte an diesem Tag zur Sicherheit beim Landgericht angerufen, ob der Schriftsatz eingegangen sei. Da dies nicht der Fall gewesen sei, habe man die Berufungsbegründung nochmals abgeschickt.

2Das Landgericht hat den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist zurückgewiesen und die Berufung des Klägers als unzulässig verworfen. Mit seiner Rechtsbeschwerde begehrt der Kläger die Aufhebung dieses Beschlusses und die Gewährung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand.

II.

3Die Rechtsbeschwerde ist zulässig und begründet.

41. Die nach § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ZPO in Verbindung mit § 522 Abs. 1 Satz 4, § 238 Abs. 2 Satz 1 ZPO statthafte Rechtsbeschwerde ist zulässig. Eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts ist gemäß § 574 Abs. 2 Nr. 2 Fall 2 ZPO zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erforderlich. Denn die angefochtene Entscheidung verletzt den Kläger in seinen Verfahrensgrundrechten auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes (Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip) und auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG). Das Berufungsgericht hat gegen § 139 Abs. 1 ZPO verstoßen, indem es die Begründung des Wiedereinsetzungsgesuchs für unzureichend erachtet hat, ohne den Kläger hierauf hinzuweisen.

5a) Eine Partei darf grundsätzlich darauf vertrauen, dass im Bundesgebiet werktags aufgegebene Postsendungen am folgenden Werktag ausgeliefert werden. Ohne konkrete Anhaltspunkte muss ein Rechtsmittelführer deshalb nicht mit Postlaufzeiten rechnen, die die ernsthafte Gefahr der Fristversäumung begründen (, NJW 2009, 2379 Rn. 8 mwN). Wurde der Schriftsatz vom an diesem Tag vor der Postleerung in den Briefkasten eingeworfen, durfte der Kläger auf einen fristgemäßen Eingang bei dem Landgericht am vertrauen.

6b) Die Partei muss im Rahmen ihres Antrags auf Wiedereinsetzung in die versäumte Frist gemäß § 236 Abs. 2 ZPO die die Wiedereinsetzung begründenden Tatsachen vortragen und glaubhaft machen.

7aa) Hierzu gehört eine aus sich heraus verständliche, geschlossene Schilderung der tatsächlichen Abläufe, aus denen sich ergibt, auf welchen konkreten Umständen die Fristversäumnis beruht. Alle Tatsachen, die für die Wiedereinsetzung von Bedeutung sein können, müssen grundsätzlich innerhalb der Antragsfrist vorgetragen werden (§ 234 Abs. 1, § 236 Abs. 2 Satz 1 ZPO). Erkennbar unklare oder ergänzungsbedürftige Angaben, deren Aufklärung nach § 139 ZPO geboten ist, dürfen jedoch nach Fristablauf erläutert oder vervollständigt werden (st. Rspr., Senatsbeschluss vom - VI ZB 28/01, juris Rn. 4 mwN; , NJW 2002, 2107, 2108 mwN; Beschlüsse vom - XII ZB 232/06, NJW 2007, 3212 Rn. 8; vom - XI ZB 34/09, FamRZ 2010, 636 Rn. 9; vom - IX ZB 73/10, NJW 2011, 458 Rn. 17; vom - XII ZB 200/13, NJW 2014, 77 Rn. 9).

8bb) Nach diesen Grundsätzen hätte das Berufungsgericht dem Kläger Gelegenheit zur Ergänzung seines Vorbringens zu den Umständen der Postaufgabe geben müssen (§ 139 Abs. 1 ZPO).

9Der Prozessbevollmächtigte des Klägers hat ausgeführt, die Berufungsbegründung sei von seiner Angestellten W. zur Post gegeben und abgeschickt worden. Die Rechtsanwaltsfachangestellte W. hat an Eides statt versichert, den ausgefertigten und unterschriebenen Schriftsatz am zur Post gegeben zu haben, bevor sie pünktlich um 13 Uhr habe gehen müssen. Angesichts dieser Darstellung und dem zeitlichen Puffer bis zum Ablauf der Berufungsbegründungsfrist am durfte das Landgericht nicht ohne ausdrücklichen Hinweis von ungenügenden Angaben zu den Umständen der Postaufgabe ausgehen (vgl. BGH, Beschlüsse vom - XI ZB 34/09, FamRZ 2010, 636 Rn. 11; vom - IX ZB 73/10, NJW 2011, 458 Rn. 18 ff.). Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts ist insbesondere keine Sachlage gegeben, nach der ein Hinweis nach § 139 Abs. 1 ZPO deshalb entbehrlich wäre, weil es an einem konkreten Vortrag insgesamt gefehlt hätte (vgl. hierzu BGH, Beschlüsse vom - II ZB 3/11, NJW-RR 2012, 747 Rn. 12; vom - II ZB 13/12, MDR 2014, 422 Rn. 12).

10c) Erkennbar unklare oder ergänzungsbedürftige Angaben, deren Aufklärung - wie hier - nach § 139 ZPO geboten gewesen wäre, können nach Ablauf der Antragsfrist mit der Rechtsbeschwerde ergänzt werden (BGH, Beschlüsse vom - XII ZB 32/07, NJW 2007, 2778 Rn. 14; vom - XII ZB 200/13, NJW 2014, 77 Rn. 9). Die Rechtsanwaltsfachangestellte W. hat nunmehr an Eides statt versichert, dass sie die vom Prozessbevollmächtigten des Klägers unterschriebene Berufungsbegründung am Vormittag des ordnungsgemäß einkuvertiert und frankiert und sodann zunächst in den Postausgangskorb gelegt habe. Mit Feierabend gegen 13 Uhr habe sie dann die gesamte Post einschließlich der Berufungsbegründung dem Postausgangskorb entnommen und in den Briefkasten vor dem Rathaus Seligenstadt, der nur ca. 20 Meter von der Kanzlei entfernt sei, eingeworfen. Auf der Grundlage dieser ergänzenden Behauptungen hätte das Berufungsgericht die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht ablehnen dürfen, weil der Kläger danach mit einem rechtzeitigen Eingang seiner Berufungsbegründung bei dem Landgericht rechnen durfte. Auf die doppelt fehlerhafte Führung des Fristenkalenders kommt es in diesem Zusammenhang nicht an.

112. Die Rechtsbeschwerde ist somit auch begründet.

III.

12Das Berufungsgericht wird zu prüfen haben, ob es das im Rechtsbeschwerdeverfahren ergänzte Parteivorbringen für glaubhaft, den vorgetragenen Geschehensablauf also für überwiegend wahrscheinlich (, NJW 1998, 1870; Beschluss vom - VIII ZB 7/96, NJW 1996, 1682 Rn. 15; Beschluss vom - IX ZB 4/83, VersR 1983, 491) hält. Die Sache ist daher gemäß § 577 Abs. 4 Satz 1 ZPO zur erneuten Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.

Galke                       Offenloch                     Oehler

               Müller                           Klein

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2016:160816BVIZB19.16.0

Fundstelle(n):
NJW 2016 S. 10 Nr. 40
NJW 2016 S. 3312 Nr. 45
SAAAF-82176