BFH Beschluss v. - V B 37/16 BStBl 2017 II S. 28

Aufhebung der Vollziehung bei verfassungsrechtlichen Zweifeln an der Gültigkeit einer dem angefochtenen Verwaltungsakt zugrunde liegenden Norm

Leitsatz

1. Ernstliche Zweifel i.S. des § 69 Abs. 2 und 3 FGO können auch verfassungsrechtliche Zweifel an der Gültigkeit einer dem angefochtenen Verwaltungsakt zugrunde liegenden Norm sein.

2. In diesem Fall kommt wegen des Geltungsanspruchs jedes formell verfassungsgemäß zustande gekommenen Gesetzes eine Aufhebung der Vollziehung nur in Betracht, wenn ein besonderes berechtigtes Interesse des Antragstellers an der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes vorliegt.

Gesetze: EStG § 32 Abs. 6; FGO § 69 Abs. 2 und 3; FGO § 128 Abs. 3 Satz 1;

Instanzenzug:

Tatbestand

1 I. Das Verfahren betrifft die Verfassungsmäßigkeit der Kinderfreibeträge für das Jahr 2014.

2 Die Antragstellerin und Beschwerdegegnerin (Antragstellerin) ist verwitwet und alleinerziehende Mutter. Ihre beiden Töchter wurden in den Jahren 1993 und 1998 geboren und befanden sich im Streitjahr (2014) in Ausbildung. Die Familienkasse zahlte für die Töchter Kindergeld in Höhe von jeweils 2.208 €.

3 Im Einkommensteuerbescheid 2014 zog der Antragsgegner und Beschwerdeführer (das Finanzamt —FA—) für die Töchter Freibeträge in der gemäß § 32 Abs. 6 des Einkommensteuergesetzes (EStG) für das Streitjahr 2014 geltenden Höhe von jeweils 7.008 € ab (4.368 € für das sächliche Existenzminimum und 2.640 € für den Betreuungs- und Erziehungs- oder Ausbildungsbedarf). Zusätzlich zog das FA für die 1993 geborene Tochter gemäß § 33a Abs. 2 EStG einen Freibetrag zur Abgeltung des Sonderbedarfs wegen auswärtiger Unterbringung in Höhe von 924 € ab. Der Abzug der steuerlichen Freibeträge nach § 32 Abs. 6 EStG war für die Antragstellerin günstiger als das Kindergeld. Im Gegenzug erhöhte das FA nach §§ 31, 2 Abs. 6 Satz 3 EStG die sich unter Abzug dieser Freibeträge ermittelte Einkommensteuer um das Kindergeld.

4 Mit ihrem Einspruch hiergegen machte die Antragstellerin unter Hinweis auf den Neunten Existenzminimumbericht (Bericht über die Höhe des steuerfrei zu stellenden Existenzminimums von Erwachsenen und Kindern für das Jahr 2014 in der vom Bundeskabinett am beschlossenen Fassung, BTDrucks 17/11425) geltend, die Kinderfreibeträge 2014 seien aus mehreren Gründen verfassungswidrig zu niedrig. Das Einspruchsverfahren ist noch anhängig.

5 Die Antragstellerin beantragte, insoweit die Vollziehung des Bescheides für 2014 über Einkommensteuer und Solidaritätszuschlag auszusetzen. Das FA lehnte den Antrag auf Aussetzung der Vollziehung (AdV) ab.

6 Der beim Finanzgericht (FG) gestellte —und nach Zahlung der Einkommensteuer auf Aufhebung der Vollziehung gerichtete— Antrag hatte zum Teil Erfolg. Das FG ging in seinem in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2016, 656 veröffentlichten Beschluss davon aus, dass die den Kinderfreibetrag regelnde Vorschrift in § 32 Abs. 6 EStG im Streitjahr 2014 aus mehreren Gründen verfassungswidrig sei.

7 So sei die im Neunten Existenzminimumbericht (BTDrucks 17/11425) von der Bundesregierung beschlossene Anhebung des Kinderfreibetrages 2014 auf 4.440 € erst für 2015 erfolgt. Der in § 32 Abs. 6 EStG vorgesehene Freibetrag von 4.368 € sei um 72 € zu niedrig und insoweit verfassungswidrig.

8 Darüber hinaus bestünden an der Höhe des Kinderfreibetrages für 2014 verfassungsrechtliche Zweifel, soweit diese für das sächliche Existenzminimum auf dem errechneten Durchschnittssatz basiere und unter dem im Existenzminimumbericht selbst festgesetzten sozialhilferechtlichen Existenzminimum liege.

9 Die folgerichtige Ermittlung des gewichteten durchschnittlichen monatlichen Regelbedarfs eines Kindes ergäbe einen Regelsatz von 3.540 €, der um 444 € über dem im Neunten Existenzminimumbericht angesetzten durchschnittlichen Regelsatz (3.096 €) liege. Der Freibetrag für die jüngere Tochter sei deshalb um weitere 444 € zu erhöhen.

10 Zudem habe der Gesetzgeber zur steuerlichen Freistellung des Existenzminimums für einen als Kind i.S. des § 32 Abs. 4 EStG zu berücksichtigenden Erwachsenen keine Ermittlungen zur Höhe des Existenzminimums angestellt, sondern wende den sich für eine Vergleichsgruppe mit anders geartetem Bedarf —minderjährige Kinder— ergebenden Durchschnittsbetrag an. Das sei nicht vom Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers gedeckt. Folgerichtig sei ein dem Grundfreibetrag des § 32a Abs. 1 EStG (im Streitjahr 8.354 €) entsprechender Freibetrag zu berücksichtigen. Da dieser um 1.346 € über dem für die ältere Tochter berücksichtigten Freibetrag von 7.008 € liege, sei der Kinderfreibetrag für die ältere Tochter um 1.346 € zu erhöhen.

11 Diese verfassungsrechtlichen Zweifel müssten auch im AdV-Verfahren berücksichtigt werden.

12 Hiergegen wendet sich das FA mit der vom FG zugelassenen Beschwerde.

13 Das FA beantragt,

den AdV- insoweit aufzuheben, als das FG dem Antrag auf AdV über die Berücksichtigung eines um 72 € je Kind erhöhten Kinderfreibetrages hinaus entsprochen hat.

14 Die Antragstellerin beantragt,

die Beschwerde zurückzuweisen.

Gründe

15 II. Die Beschwerde ist zulässig und begründet.

16 1. Die Beschwerde gegen die Entscheidung des FG über die AdV nach § 69 Abs. 3 der Finanzgerichtsordnung (FGO) ist statthaft, da sie vom FG zugelassen wurde (§ 128 Abs. 3 Satz 1 FGO).

17 2. Sie ist auch begründet. Unter Aufhebung des angefochtenen Beschlusses in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang wird der darüber hinausgehende Antrag auf AdV abgelehnt.

18 a) Nach § 69 Abs. 3 i.V.m. Abs. 2 Satz 2 FGO soll die Vollziehung eines angefochtenen Verwaltungsaktes ausgesetzt werden, wenn ernstliche Zweifel an dessen Rechtmäßigkeit bestehen oder wenn die Vollziehung für den Betroffenen eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte. Ist der Verwaltungsakt —wie vorliegend— im Zeitpunkt der Entscheidung schon vollzogen, kann das Gericht ganz oder teilweise die Aussetzung der Vollziehung, auch gegen Sicherheit, anordnen (§ 69 Abs. 3 Satz 3 FGO). Ernstliche Zweifel i.S. von § 69 Abs. 2 Satz 2 FGO liegen vor, wenn bei summarischer Prüfung des angefochtenen Bescheids neben für seine Rechtmäßigkeit sprechenden Umständen gewichtige Gründe zutage treten, die Unentschiedenheit oder Unsicherheit in der Beurteilung von Rechtsfragen oder Unklarheit in der Beurteilung entscheidungserheblicher Tatfragen bewirken (z.B. , BFH/NV 2015, 537, Rz 15).

19 aa) Ernstliche Zweifel i.S. des § 69 Abs. 2 und 3 FGO können auch verfassungsrechtliche Zweifel an der Gültigkeit einer dem angefochtenen Verwaltungsakt zugrunde liegenden Norm sein (BFH-Beschlüsse vom IX B 177/02, BFHE 204, 39, BStBl II 2004, 367, Rz 10; vom II B 85/01, BFH/NV 2002, 508, Rz 11; vom IX B 90/00, BFHE 195, 205, BStBl II 2001, 405, Rz 13).

20 bb) Wegen des Geltungsanspruchs jedes formell verfassungsgemäß zustande gekommenen Gesetzes kommt in Fällen, in denen die ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsaktes auf Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit einer dem Verwaltungsakt zugrunde liegenden Gesetzesvorschrift beruhen, eine Aufhebung der Vollziehung nur in Betracht, wenn ein besonderes berechtigtes Interesse des Antragstellers an der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes vorliegt (ständige Rechtsprechung, z.B. BFH-Beschlüsse vom II B 168/09, BFHE 228, 149, BStBl II 2010, 558, Rz 11; vom XI B 94/02, BFHE 199, 566, BStBl II 2003, 18, Rz 13; vom II B 85/01, BFH/NV 2002, 508, 2. Leitsatz; vom VII B 291/00, BFH/NV 2001, 1031, 3. Leitsatz und Rz 11; vom X B 318, 319/93, BFH/NV 1995, 143, Rz 15; vom VI B 154/93, BFHE 173, 554, BStBl II 1994, 567, Rz 16; vom X B 137/92, BFH/NV 1994, 324, 4. Orientierungssatz sowie Rz 18; vom X B 106/91, BFH/NV 1992, 721, Rz 15; vom III B 100/91, BFHE 168, 174, BStBl II 1992, 729, Rz 25; vom VIII B 114/91, BFH/NV 1993, 165, Rz 30; vom III B 137/91, BFH/NV 1992, 598, Rz 14; vom III B 144/89, BFHE 162, 542, BStBl II 1991, 104, Rz 13; vom III B 12/88, BFHE 154, 123, Rz 15; vom III B 101/86, BFHE 151, 428, BStBl II 1988, 134, Rz 32; offengelassen in BFH-Beschlüssen vom VI B 69/09, BFHE 226, 85, BStBl II 2009, 826, Rz 18; vom VI B 42/07, BFHE 218, 558, BStBl II 2007, 799, Rz 18; vom IX B 92/07, BFH/NV 2007, 2270, Rz 21; vom VIII B 219/06, BFH/NV 2007, 914, Rz 12; vom IX B 16/03, BFHE 202, 53, BStBl II 2003, 663, Rz 16; in BFHE 195, 205, BStBl II 2001, 405, Rz 22).

21 Das Erfordernis eines besonderen berechtigten Interesses des Antragstellers ist zwar im Schrifttum umstritten (z.B. Seer, in Steuer und Wirtschaft —StuW— 2001, 3, 17 f.; ders., in Tipke/Kruse, Abgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, § 69 Tz. 97; Gräber/Koch, Finanzgerichtsordnung, 8. Aufl., § 69 FGO Rz 190; Schallmoser, Deutsches Steuerrecht 2010, 297; Drüen, in Finanz-Rundschau 1999, 289; a.A. aber Klaus J. Wagner, Über effektiven vorläufigen Rechtsschutz im finanzgerichtlichen Verfahren, Festschrift für Kruse, 735, 751 ff.; Gosch in Beermann/Gosch, § 69 FGO Rz 129 ff., 180, 180.1, m.w.N.), vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG) aber ausdrücklich gebilligt (BVerfG-Beschlüsse vom 2 BvR 283/92, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung 1992, 726, 2. Orientierungssatz; vom 1 BvR 146/88, Information StW 1989, 335, 2. Orientierungssatz).

22 Der Senat hält an der ständigen Rechtsprechung des BFH fest. Die Ausführungen des FG, die sich weder mit der hierzu ergangenen Rechtsprechung des BVerfG noch mit der des BFH auseinandersetzen und sich darauf beschränken, auf seine eigenen Beschlüsse vom 7 V 89/14 (EFG 2016, 63) und vom 7 V 66/10 (EFG 2011, 827) zu verweisen, bieten keinen Anlass für eine Änderung der Rechtsprechung.

23 b) Die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes ist somit erforderlich, um eine erhebliche, über Randbereiche hinausgehende Verletzung von Grundrechten zu vermeiden, die durch eine Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr beseitigt werden kann (vgl. BVerfG-Beschlüsse vom 1 BvR 1790/00, Neue Juristische Wochenschrift 2002, 3691, Rz 13; vom 1 BvR 1087/91, BVerfGE 93, 1, 14, Rz 28; vom 2 BvR 745/88, BVerfGE 79, 69, 1. Leitsatz).

24 aa) Diese Voraussetzung hat der BFH in verschiedenen Fallgruppen als erfüllt angesehen, und zwar, wenn

25 - das zuständige Gericht von der Verfassungswidrigkeit einer streitentscheidenden Vorschrift überzeugt ist und diese deshalb gemäß Art. 100 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) dem BVerfG zur Prüfung vorgelegt hat (BFH-Beschlüsse vom III B 183/11, BFH/NV 2012, 1173, Rz 15; vom VI B 115/09, BFH/NV 2010, 935, Rz 20; in BFHE 204, 39, BStBl II 2004, 367, Rz 21),

26 - ein beim BFH anhängiges Verfahren, das für die Beantwortung von Rechtsfragen vorgreiflich ist, im Hinblick auf mehrere beim BVerfG anhängige Verfahren der konkreten Normenkontrolle ruht (, BFH/NV 2010, 1613, Rz 17),

27 - wenn dem Steuerpflichtigen durch den sofortigen Vollzug irreparable Nachteile drohen (BFH-Beschlüsse in BFH/NV 1994, 324, Rz 18; in BFH/NV 1995, 143, Rz 15),

28 - wenn das zu versteuernde Einkommen abzüglich der darauf zu entrichtenden Einkommensteuer unter dem sozialhilferechtlich garantierten Existenzminimum liegt (BFH-Beschlüsse vom III B 555/90, BFHE 164, 570, BStBl II 1991, 876, 1. Leitsatz; vom III B 83/91, BFH/NV 1992, 246, Rz 13),

29 - wenn das BVerfG eine ähnliche Vorschrift für nichtig erklärt hatte (, BFHE 194, 157, BStBl II 2001, 411, Rz 14),

30 - wenn der BFH die vom Kläger als verfassungswidrig angesehene Vorschrift bereits dem BVerfG gemäß Art. 100 Abs. 1 GG zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit vorgelegt hatte (BFH-Beschlüsse in BFHE 202, 53, BStBl II 2003, 663, Rz 9; in BFHE 204, 39, BStBl II 2004, 367, Rz 21; vom IX B 120/04, BFHE 208, 213, BStBl II 2005, 287, Rz 8; in BFH/NV 2007, 914, Rz 8).

31 bb) Unter Zugrundelegung dieser Voraussetzungen kommt vorliegend eine über den Antrag des FA hinausgehende Aufhebung der Vollziehung nicht in Betracht. Es liegt ersichtlich keine der unter II.2.b aa genannten Fallgruppen vor. Die Verfassungswidrigkeit des § 32 Abs. 6 EStG in seiner im Streitjahr geltenden Fassung einmal unterstellt, würde es sich im konkreten Einzelfall auch allenfalls um eine den Randbereich der Grundrechte berührende Verletzung handeln. Denn die Belastung durch einen um 1.862 € zu niedrigen Kinderfreibetrag fällt bei einer Steuerpflichtigen, deren Einkommensverhältnisse dergestalt sind, dass für sie die Inanspruchnahme des Freibetrages günstiger ist als das Kindergeld, nicht so schwerwiegend ins Gewicht, dass durch die Aufrechterhaltung des Vollzuges bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens irreparable Nachteile drohen. In einem Fall eher geringfügiger Belastung, die ohne Weiteres in einem Hauptsacheverfahren beseitigt werden kann, sind die Voraussetzungen für die Aufhebung der Vollziehung wegen Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit einer dem Verwaltungsakt zugrunde liegenden Gesetzesvorschrift nicht erfüllt (vgl. die ausdrücklich zum Kinderfreibetrag ergangenen BFH-Beschlüsse in BFHE 162, 542, BStBl II 1991, 104, 2. Leitsatz sowie Rz 13; in BFHE 154, 123, Rz 14, 16).

32 3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.

Fundstelle(n):
BStBl 2017 II Seite 28
AO-StB 2016 S. 341 Nr. 12
BB 2016 S. 2774 Nr. 46
BFH/NV 2016 S. 1487 Nr. 10
BFH/NV 2017 S. 122 Nr. 1
BFH/PR 2017 S. 61 Nr. 2
BStBl II 2017 S. 28 Nr. 1
DStR 2016 S. 2038 Nr. 35
DStR 2016 S. 8 Nr. 45
DStRE 2016 S. 1084 Nr. 17
DStRE 2017 S. 110 Nr. 2
HFR 2017 S. 734 Nr. 8
KÖSDI 2016 S. 20084 Nr. 12
NJW 2016 S. 10 Nr. 48
NJW 2017 S. 287 Nr. 4
NWB-Eilnachricht Nr. 48/2016 S. 3578
StB 2016 S. 322 Nr. 11
StuB-Bilanzreport Nr. 6/2017 S. 251
DAAAF-80561