Betreuungssache: Grundlage für Sachverständigengutachten bei Ablehnung von Befragung und körperlicher Untersuchung durch den Betroffenen; Verwertbarkeit eines in einem anderen Verfahren eingeholten Gutachtens
Leitsatz
1. Lehnt der Betroffene die Befragung und körperliche Untersuchung durch den Sachverständigen ab, kann der persönliche Eindruck des Sachverständigen vom Betroffenen im Zusammenhang mit den zur Verfügung stehenden Unterlagen und den Angaben behandelnder Personen eine ausreichende Grundlage für ein Gutachten über die Notwendigkeit einer Betreuung darstellen.
2. Das in einem anderen Verfahren eingeholte Gutachten kann nur dann verwertet werden, wenn es gemäß § 411a ZPO in das Verfahren eingeführt und dem Betroffenen Gelegenheit gegeben worden ist, zu den Ausführungen des zu verwertenden Gutachtens in dem vorliegenden Verfahren Stellung zu nehmen (im Anschluss an Senatsbeschluss vom , XII ZB 6/11, FamRZ 2012, 293).
Gesetze: § 26 FamFG, § 37 Abs 2 FamFG, § 280 Abs 2 FamFG, § 411a ZPO, § 1896 Abs 1 BGB
Instanzenzug: Az: 2 T 107/15vorgehend AG Wiesloch Az: XVII 63/15
Gründe
I.
1Für die 72jährige Betroffene bestand bis zum eine rechtliche Betreuung, die das Amtsgericht mit der Begründung aufhob, die Betroffene sei derzeit nicht betreubar. Auf Anregung behandelnder Ärzte hat das inzwischen zuständig gewordene Amtsgericht am erneut eine Betreuung mit den Aufgabenkreisen Vermögenssorge, Gesundheitsfürsorge, Aufenthaltsbestimmung sowie Entgegennahme, Öffnen und Anhalten der Post angeordnet und den Beteiligten als Berufsbetreuer bestimmt.
2Das Landgericht hat die Beschwerde der Betroffenen zurückgewiesen; hiergegen richtet sich ihre Rechtsbeschwerde.
II.
3Die Rechtsbeschwerde ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das Landgericht.
41. Das Landgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt: Die Betroffene leide unter einer psychischen Störung im Sinne des § 1896 Abs. 1 BGB, aufgrund derer sie nicht in der Lage sei, ihre Angelegenheiten in den genannten Aufgabenkreisen selbst zu besorgen. Dies ergebe sich aus den Ausführungen des Sachverständigen S. und seiner ergänzenden Stellungnahme. Zweifel an der Richtigkeit der Feststellungen des Sachverständigen seien nicht deshalb begründet, weil es ihm aufgrund der Weigerung der Betroffenen nicht möglich gewesen sei, mit dieser selbst ein Gespräch zu führen. Die Erstattung des Gutachtens hänge nicht davon ab, dass es zu einem verbalen Kontakt zwischen der Betroffenen und dem Sachverständigen gekommen sei. Der Sachverständige sei nicht gehindert, im Falle einer durch die Betroffene verweigerten Kommunikation aus ihrem Gesamtverhalten in Verbindung mit anderen Erkenntnissen Schlüsse auf ein bestimmtes Krankheitsbild zu ziehen.
5Die Betroffene habe auch keine Krankheitseinsicht und sei krankheitsbedingt zu einer freien Willensbildung nicht in der Lage. Dies ergebe sich insbesondere aus einem im vorangegangenen Betreuungsverfahren eingeholten Gutachten des Sachverständigen K. vom , während dem Sachverständigen S. eine abschließende Stellungnahme hierzu aufgrund der Weigerung der Betroffenen, mit dem Sachverständigen zu sprechen, nicht möglich gewesen sei. Auch nach den Ausführungen des Sachverständigen S. sei aber eine Einschränkung der freien Willensbildung angesichts der aktenkundigen Diagnose einer wahnhaften Störung mit handlungsleitend wirksamen Wahnbildungen und Wahrnehmungsstörungen dringend zu befürchten. Die Feststellungen der Gutachter würden bestätigt durch das Verhalten der Betroffenen im Rahmen der Anhörung durch das Amtsgericht und die Ausführungen in ihren Schreiben an das Amts- und Landgericht.
62. Die angefochtene Entscheidung hält den Verfahrensrügen der Rechtsbeschwerde nicht stand.
7a) Nicht durchgreifend ist allerdings die von der Rechtsbeschwerde erhobene Rüge, das Landgericht habe seiner Entscheidung nicht das Gutachten des Sachverständigen S. zugrunde legen dürfen, weil der Sachverständige die Betroffene nicht persönlich untersucht habe.
8aa) Gemäß § 280 Abs. 2 Satz 1 FamFG hat der Sachverständige den Betroffenen vor der Erstattung des Gutachtens persönlich zu untersuchen oder zu befragen. Ein ohne die erforderliche persönliche Untersuchung erstattetes Sachverständigengutachten ist grundsätzlich nicht verwertbar. Die Weigerung des Betroffenen, einen Kontakt mit dem Sachverständigen zuzulassen, ist kein hinreichender Grund, von einer persönlichen Untersuchung durch den Sachverständigen abzusehen. Wirkt der Betroffene an einer Begutachtung nicht mit, so kann das Gericht gemäß § 283 Abs. 1 und Abs. 3 FamFG seine Vorführung anordnen (Senatsbeschluss vom - XII ZB 179/14 - FamRZ 2014, 1917 Rn. 10 f. mwN). Die Verwertbarkeit des Gutachtens hängt zwar im Ergebnis nicht davon ab, dass ein verbaler Kontakt zwischen dem Betroffenen und dem Sachverständigen hergestellt werden kann (Senatsbeschluss vom - XII ZB 179/14 - FamRZ 2014, 1917 Rn. 13). Kann der Sachverständige seine Erkenntnisse jedoch nicht aus einer Befragung des Betroffenen schöpfen, setzt das Gesetz eine Untersuchung des Betroffenen zwingend voraus. Diese erfordert zumindest, dass sich der Sachverständige einen persönlichen Eindruck vom Betroffenen verschafft.
9bb) Im vorliegenden Fall hat zwar keine körperliche Untersuchung stattgefunden, weil die Betroffene dies ablehnte. Der Sachverständige hatte die Betroffene jedoch unter Begleitung der Stationsärztin in ihrem Zimmer aufgesucht. Nachdem er sich ihr vorgestellt hatte, erhob sich die Betroffene wortlos vom Bett und verließ das Zimmer. Damit hat sich der Sachverständige einen - wenngleich auf einen kurzen Augenblick beschränkten - persönlichen Eindruck von der Betroffenen verschafft. Wenn der Sachverständige diesen persönlichen Eindruck im Zusammenhang mit den zur Verfügung stehenden Unterlagen sowie den Angaben der Stationsärztin und des Sozialarbeiters als eine ausreichende Grundlage angesehen hat, um sich ein eigenständiges Bild von der Betroffenen zu machen, welches ihm eine gutachterliche Einschätzung ermöglichte, so ist das aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden (vgl. auch OLG München BtPrax 2005, 154; Keidel/Budde FamFG 18. Aufl. § 280 Rn. 19; Schulte-Bunert/Weinreich/Eilers FamFG 4. Aufl. § 280 Rn. 68; Prütting/Helms/Fröschle FamFG 3. Aufl. § 280 Rn. 22; MünchKommFamFG/Schmidt-Recla 3. Aufl. § 280 Rn. 17).
10b) Allerdings beruht die Entscheidung, wie die Rechtsbeschwerde zu Recht rügt, auf keinen tragfähigen Feststellungen zur fehlenden Fähigkeit der Betroffenen, einen freien Willen zu bilden.
11Im Ausgangspunkt zutreffend hat das Landgericht zwar erkannt, dass Feststellungen diesbezüglich nicht tragfähig auf das Gutachten des Sachverständigen S. gestützt werden können, nachdem dieser sich zu einer abschließenden Festlegung aufgrund der Weigerung der Betroffenen, mit ihm zu sprechen, nicht imstande sah.
12Das Landgericht hat deshalb die fehlende Krankheitseinsicht und Fähigkeit zur freien Willensbildung insbesondere auf die Ausführungen des im vorangegangenen Betreuungsverfahren erstatteten Gutachtens des Sachverständigen K. vom gestützt.
13Zu Recht rügt die Rechtsbeschwerde jedoch, dass dieses Gutachten der Betroffenen nicht zur Kenntnis gegeben und ihr hinsichtlich der aus dem früheren Gutachten verwerteten Feststellungen kein ausreichendes rechtliches Gehör gewährt worden ist.
14Gemäß § 280 Abs. 1 FamFG hat vor der Bestellung eines Betreuers eine förmliche Beweisaufnahme über die Notwendigkeit der Maßnahme durch Einholung eines Gutachtens stattzufinden. Die förmliche Beweisaufnahme muss sich auch auf die fehlende Fähigkeit zur freien Willensbildung beziehen, wenn ein Betreuer gegen den Willen des Betroffenen bestellt werden soll.
15Wegen der gesetzlich angeordneten Förmlichkeit der Beweisaufnahme (§§ 280 Abs. 1, 30 Abs. 2 FamFG) kann das in einem anderen Verfahren eingeholte Gutachten nur dann verwertet werden, wenn es gemäß § 411 a ZPO in das Verfahren eingeführt und dem Betroffenen Gelegenheit gegeben worden ist, zu den Ausführungen des zu verwertenden Gutachtens in dem vorliegenden Verfahren Stellung zu nehmen. Gemäß § 37 Abs. 2 FamFG darf das Gericht nämlich eine Entscheidung, die die Rechte eines Beteiligten beeinträchtigt, nur auf Tatsachen und Beweisergebnisse stützen, zu denen dieser Beteiligte sich äußern konnte. Beabsichtigt das Gericht von der Möglichkeit des § 411 a ZPO Gebrauch zu machen, muss es den Beteiligten vor der Anordnung der Verwertung rechtliches Gehör gewähren (Senatsbeschluss vom - XII ZB 6/11 - FamRZ 2012, 293 Rn. 24). Daran fehlt es im vorliegenden Fall.
163. Der angefochtene Beschluss kann deshalb keinen Bestand haben.
17Der Senat kann in der Sache nicht abschließend entscheiden, da nach ausreichender Gewährung rechtlichen Gehörs zunächst tragfähige Feststellungen über die Fähigkeit der Betroffenen zur freien Willensbildung zu treffen sind. Die Sache ist deshalb an das Landgericht zurückzuverweisen. Soweit die von der Rechtsbeschwerde aufgeworfene Frage der Bestellung eines Verfahrenspflegers für das weitere Verfahren auch davon abhängt, ob die Interessen der Betroffenen von einem Rechtsanwalt oder einem anderen geeigneten Verfahrensbevollmächtigten vertreten werden (§ 276 Abs. 4 FamFG), wird das Landgericht zu prüfen haben, ob eine solche Vertretung noch besteht.
18Von einer weiteren Begründung der Entscheidung wird abgesehen, weil sie nicht geeignet wäre, zur Klärung von Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung, zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung beizutragen (§ 74 Abs. 7 FamFG).
Dose Weber-Monecke Klinkhammer
Nedden-Boeger Guhling
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2016:270416BXIIZB611.15.0
Fundstelle(n):
NJW 2016 S. 8 Nr. 24
NJW-RR 2016 S. 833 Nr. 14
OAAAF-74394