Urlaubsentgelt - tarifliche Berechnungsvorschrift - Berücksichtigung durch Freizeit ausgeglichener Mehrarbeit
Gesetze: § 1 TVG, § 1 BUrlG, § 11 Abs 1 S 1 BUrlG, § 13 Abs 1 S 1 BUrlG, § 108 Abs 1 GewO, Art 7 Abs 1 EGRL 88/2003, Art 3 Abs 1 GG
Instanzenzug: Az: 23 Ca 2/13 Urteilvorgehend Landesarbeitsgericht Hamburg Az: 8 Sa 66/13 Urteil
Tatbestand
1Die Parteien streiten darüber, ob dem Kläger für die Jahre 2009, 2010 und 2011 weiteres tarifliches Urlaubsentgelt zusteht.
2Die Beklagte ist ein Versicherungsunternehmen. Der Kläger ist bei ihr seit dem beschäftigt. Das Arbeitsverhältnis richtet sich nach dem Manteltarifvertrag für das private Versicherungsgewerbe (MTV), der auszugsweise wie folgt lautet:
3Der Kläger leistete in den Jahren 2008, 2009 und 2010 jeweils mehr als 50 Stunden von der Beklagten angeordnete unregelmäßige Mehrarbeit, die teils durch bezahlte Freizeit und teils durch Entgelt ausgeglichen wurde.
4Mit seiner der Beklagten im Januar 2013 zugestellten Klage hat der Kläger zuletzt noch 798,00 Euro als weiteres Urlaubsentgelt für insgesamt 90 Urlaubstage (jeweils 30 Urlaubstage aus den Jahren 2009 bis 2011) geltend gemacht. Er hat die Auffassung vertreten, die von ihm geleistete Mehrarbeit habe die Beklagte bei der Berechnung des Urlaubsentgelts in den Jahren 2009, 2010 und 2011 berücksichtigen müssen. Die Berücksichtigung von Mehrarbeit beim Urlaubsentgelt erfordere nach der tariflichen Regelung in § 13 Ziff. 5 Abs. 2 MTV nicht die Auszahlung einer Mehrarbeitsvergütung, sondern lediglich deren Abrechnung. Der Begriff der „Vergütung“ erfasse auch die in Freizeit abgegoltene Mehrarbeit. Auch der Zweck der Tarifregelung, den Arbeitnehmer, der in einem bestimmten Zeitraum dem Arbeitgeber eine Disposition über seine Freizeit eingeräumt hat, zu belohnen, gebiete eine Einbeziehung der durch Freizeit abgegoltenen Mehrarbeitsstunden. Schließlich folge dies auch aus Art. 3 Abs. 1 GG.
5Der Kläger hat zuletzt beantragt,
6Die Beklagte hat zu ihrem Klageabweisungsantrag die Auffassung vertreten, dass § 13 Ziff. 5 Abs. 2 MTV nach einer Auslegung unter Berücksichtigung seines Zwecks, des Gesamtzusammenhangs und seiner Entstehungsgeschichte ausschließlich diejenigen Mehrarbeitsstunden erfasse, die finanziell abgegolten worden sind.
7Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat das Urteil des Arbeitsgerichts abgeändert und die Beklagte antragsgemäß zur Zahlung von 798,00 Euro verurteilt. Mit ihrer vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Beklagte die Wiederherstellung des arbeitsgerichtlichen Urteils.
Gründe
8Die zulässige Revision der Beklagten ist begründet. Das Landesarbeitsgericht hat der Berufung des Klägers zu Unrecht stattgegeben.
9I. Die Klage ist unbegründet. Der Kläger kann von der Beklagten für die Kalenderjahre 2009 bis 2011 kein erhöhtes Urlaubsentgelt nach § 13 Ziff. 5 Abs. 2 MTV aufgrund der in den jeweiligen Vorjahren unstreitig von ihm geleisteten und von der Beklagten angeordneten unregelmäßigen Mehrarbeit verlangen. Dabei kann der Senat zugunsten des Klägers unterstellen, dass es sich um eine ausnahmsweise zulässige abschließende „Gesamtklage“ (vgl. - Rn. 11 f.) handelt und dass der Kläger sämtlichen Urlaub in den Jahren 2009 bis 2011 auch genommen hat. § 13 Ziff. 5 Abs. 2 MTV setzt voraus, dass im Vorjahr mehr als 50 Mehrarbeitsstunden finanziell abgegolten worden sind. Entgegen der Auffassung des Klägers genügt ein Ausgleich durch Freizeit nicht. Dies ergibt die Auslegung des § 13 Ziff. 5 Abs. 2 MTV.
101. Die Auslegung des normativen Teils eines Tarifvertrags folgt den für die Auslegung von Gesetzen geltenden Regeln. Danach ist zunächst vom Tarifwortlaut auszugehen, wobei der maßgebliche Sinn der Erklärung zu erforschen ist, ohne am Buchstaben zu haften. Bei nicht eindeutigem Tarifwortlaut ist der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien mitzuberücksichtigen, soweit er in den tariflichen Normen seinen Niederschlag gefunden hat. Abzustellen ist ferner auf den tariflichen Gesamtzusammenhang, weil dieser Anhaltspunkte für den wirklichen Willen der Tarifvertragsparteien liefern und nur so der Sinn und Zweck der Tarifnorm zutreffend ermittelt werden kann. Lässt dies zweifelsfreie Auslegungsergebnisse nicht zu, können die Gerichte für Arbeitssachen ohne Bindung an die Reihenfolge weitere Kriterien, wie die Entstehungsgeschichte des Tarifvertrags, gegebenenfalls auch die praktische Tarifübung ergänzend heranziehen. Auch die Praktikabilität denkbarer Auslegungsergebnisse gilt es zu berücksichtigen. Im Zweifel gebührt derjenigen Tarifauslegung der Vorzug, die zu einer vernünftigen, sachgerechten, zweckorientierten und praktisch brauchbaren Regelung führt (st. Rspr., vgl. nur - Rn. 17 mwN).
112. Ausgehend von diesen Grundsätzen sind nach § 13 Ziff. 5 Abs. 2 MTV Mehrarbeitsstunden, die durch Freizeitausgleich abgegolten wurden, nicht in die Berechnung des Urlaubsentgelts einzubeziehen.
12a) Bereits der Wortlaut von § 13 Ziff. 5 Abs. 2 MTV spricht für diese Rechtsauffassung. Nach diesem ist Anspruchsvoraussetzung, dass vom Arbeitgeber angeordnete unregelmäßige Mehrarbeitsstunden „abgerechnet“ worden sind. Die Abrechnung bewirkt, dass für jeden Urlaubstag 1/220 der im vorangegangenen Kalenderjahr für diese Mehrarbeit „abgerechneten Mehrarbeitsvergütung“ zu zahlen ist. Letzteres spricht dafür, dass ausschließlich die finanzielle Abgeltung der Mehrarbeit und nicht etwa die Abgeltung durch Freizeitausgleich in die Berechnung des Urlaubsentgelts einzubeziehen ist.
13aa) Schon der Begriff „abgerechnet“ deutet auf einen Bezug zum gezahlten bzw. zu zahlenden Entgelt hin. Im juristischen Sprachgebrauch und insbesondere im Arbeitsrecht ist unter „abrechnen“ regelmäßig entweder die Erteilung einer Abrechnung iSd. § 108 GewO zu verstehen oder die der Erteilung vorgelagerte Berechnung selbst. Nach § 108 Abs. 1 GewO ist der Arbeitgeber verpflichtet, dem Arbeitnehmer bei Zahlung des Arbeitsentgelts eine Abrechnung in Textform zu erteilen, die mindestens Angaben über Abrechnungszeitraum und Zusammensetzung des Arbeitsentgelts enthalten muss. Hinsichtlich der Zusammensetzung sind insbesondere Angaben erforderlich über Art und Höhe der Zuschläge, Zulagen, sonstige Vergütungen, Art und Höhe der Abzüge, Abschlagszahlungen sowie Vorschüsse. Unter „sonstige Vergütungen“ iSd. § 108 Abs. 1 Satz 3 GewO fallen eine Reihe von weiteren Bestandteilen des Arbeitsentgelts, wie Gratifikationen, Provisionen, Tantiemen, Gewinnbeteiligungen (BeckOK GewO/Schulte Stand GewO § 108 Rn. 16 bis 18; AR/Kolbe 7. Aufl. § 108 GewO Rn. 5). Der Erwerb eines Anspruchs auf Freizeitausgleich ist keine „sonstige Vergütung“ für die geleistete Mehrarbeit. Hierüber ist keine Abrechnung zu erteilen. Das folgt schon daraus, dass nach § 108 Abs. 1 Satz 1 GewO die Abrechnung „bei Zahlung“ zu erteilen ist. Die Abrechnung bezweckt die Information über die erfolgte Zahlung. Der Arbeitnehmer soll erkennen können, warum er gerade den ausgezahlten Betrag erhält ( - Rn. 13, BAGE 119, 62). Erst die später zum Ausgleich für die Mehrarbeitsstunden gewährte Freistellung unterliegt der Vergütungs- und Abrechnungspflicht.
14bb) Insbesondere die Verwendung des Begriffs „Mehrarbeitsvergütung“ lässt darauf schließen, dass die Tarifvertragsparteien die Abgeltung der Mehrarbeit durch Freizeitausgleich nicht in die Berechnung des Urlaubsentgelts einbeziehen wollten. Denn die Begriffe „Mehrarbeitsvergütung“ und „Überstundenvergütung“ werden im juristischen Sprachgebrauch regelmäßig nicht synonym für die Möglichkeit der Abgeltung von Mehrarbeit durch Freizeit verwendet, sondern für eine finanzielle Abgeltung als Alternative zum Freizeitausgleich (sh. beispielhaft zur Verwendung der Begriffe in der Rspr. des BAG: - 10 AZR 9/13 - Rn. 57 [„Dies gilt für Vergütungsansprüche … ebenso wie für Freizeitausgleich, der an deren Stelle tritt“]; - 1 ABR 75/09 - Rn. 36 [„… wird nicht die Vergütung von angefallenen Überstunden geregelt, sondern deren Abgeltung durch Freizeitausgleich“]; - 6 AZR 359/07 - Rn. 22 [„… zu einem Freizeitausgleich oder, falls dieser nicht möglich ist, zur Vergütung geleisteter Mehrarbeit verpflichtet“]; - 6 AZR 208/01 - zu II 3 der Gründe [„Ansprüche auf Freizeitgewährung oder Überstundenvergütung“]; - 9 AZR 307/00 - [LS: „Ein bereits entstandener Anspruch auf Überstundenvergütung kann nicht durch einseitige Freistellung von der Arbeit erfüllt werden, wenn keine Ersetzungsbefugnis vereinbart ist“]; - 7 AZR 562/96 - zu II 2 der Gründe [„… der Anspruch des Klägers auf Überstundenvergütung durch die einseitige Freistellung und Fortzahlung der Vergütung auch für die Freizeit nicht erloschen ist“]; beispielhaft für die arbeitsrechtliche Fachliteratur: ErfK/Preis 16. Aufl. § 611 BGB Rn. 487; HWK/Thüsing 6. Aufl. § 611 BGB Rn. 139; Kittner/Zwanziger/Deinert/Stumpf 8. Aufl. § 30 Rn. 53; AnwK-ArbR/Brors 2. Aufl. Bd. 1 § 611 BGB Rn. 738; Küttner/Poeche Personalbuch 2015 Überstunden Rn. 14). Tarifverträge unterscheiden regelmäßig begrifflich zwischen Überstunden- bzw. Mehrarbeitsvergütung als finanzielle Abgeltung einerseits und der Abgeltung von Mehrarbeit durch Freizeitausgleich andererseits (vgl. so zB: §§ 17, 35 BAT; § 12 MTV für das Hotel- und Gaststättengewerbe in Hessen vom ; § 7 Ziff. 3 MTV für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Einzelhandel in Bayern vom ; § 5 Ziff. 2 MTV für das Hotel- und Gaststättengewerbe im Saarland vom ; § 3 Ziff. 5 MTV für den Hessischen Einzelhandel vom ). Auch der Gesetzgeber differenziert zwischen der Vergütung von Mehrarbeit und Freizeitausgleich (so bspw. in § 37 Abs. 3 Satz 3 BetrVG, § 48 BBesG, § 88 BBG).
15cc) Mangels anderweitiger Anhaltspunkte ist davon auszugehen, dass auch die Tarifvertragsparteien des MTV den Begriff der „abgerechneten Mehrarbeitsvergütung“ in gleicher Weise als rein finanzielle Abgeltung verwendet haben. Bedienen sich Tarifvertragsparteien eines Rechtsbegriffs, der im juristischen Sprachgebrauch eine bestimmte Bedeutung hat, ist dieser Begriff in seiner allgemeinen juristischen Bedeutung auszulegen, sofern sich nicht aus dem Tarifvertrag etwas anderes ergibt ( - Rn. 18, BAGE 150, 88; - 6 AZR 78/09 - Rn. 20, BAGE 135, 179; - 5 AZR 317/09 - Rn. 13, BAGE 133, 337).
16dd) Überdies versteht man unter dem Begriff „Vergütung“ auch im allgemeinen Sprachgebrauch eine Geldsumme, mit der etwas vergütet wird (Duden Das große Wörterbuch der deutschen Sprache 3. Aufl.) bzw. die vergütete Summe oder Bezahlung (Wahrig Deutsches Wörterbuch 9. Aufl.).
17b) Dafür, dass auch die Tarifvertragsparteien die Begriffe „abgerechnete Mehrarbeitsstunden“ bzw. „abgerechnete Mehrarbeitsvergütung“ als finanzielle Abgeltung der Mehrarbeit verstanden haben, spricht auch die Entstehungsgeschichte dieser Norm (vgl. Richter in Hopfner Tarifverträge für die private Versicherungswirtschaft 9. Aufl. § 13 MTV Rn. 140).
18aa) § 13 Ziff. 5 Abs. 2 MTV wurde in seiner heute geltenden Fassung im Jahr 1984 eingeführt. Zu diesem Zeitpunkt sah der MTV für Mehrarbeit nicht die Möglichkeit der Abgeltung durch Freizeitausgleich vor, sondern allein die finanzielle Abgeltung. Daraus folgt, dass die Tarifvertragsparteien ausschließlich auf diese Abgeltungsmöglichkeit abgestellt haben.
19bb) Erst später wurde die Möglichkeit eingeführt, Mehrarbeit alternativ auch durch Freizeit abzugelten (§ 11 Ziff. 2 Abs. 1 Satz 4 MTV). Dafür, dass die Tarifvertragsparteien mit der Einführung des § 11 Ziff. 2 MTV § 13 Ziff. 5 Abs. 2 MTV eine andere Bedeutung beimessen wollten, ist nichts ersichtlich. Hätten die Tarifvertragsparteien gewollt, dass auch die in Freizeit abgegoltenen Mehrarbeitsstunden des Vorjahres in die Berechnung des Urlaubsentgelts einfließen, hätte es nahegelegen, § 13 Ziff. 5 Abs. 2 MTV sprachlich anders zu fassen.
20cc) Die Formulierung „abgerechnete Mehrarbeitsstunden“ wurzelt in § 3 Ziff. 2 MTV in der Fassung von 1982 und spricht ebenfalls dafür, dass die Tarifvertragsparteien mit dem Begriffspaar auf das für die Mehrarbeit erhaltene Entgelt abgestellt haben (vgl. Richter in Hopfner aaO § 13 MTV Rn. 140 f.). Diese Norm lautete auszugsweise bis zum :
21c) Schließlich gebietet der Sinn und Zweck des § 13 Ziff. 5 MTV, solche unregelmäßigen Mehrarbeitsstunden, die in Freizeit abgegolten wurden, bei der Berechnung des Urlaubsentgelts unberücksichtigt zu lassen.
22aa) Die Tarifvertragsparteien wollten zwar - entsprechend der bis zum geltenden Rechtslage (vgl. dazu ErfK/Gallner § 11 BUrlG Rn. 7) -, dass Mehrarbeit das Urlaubsentgelt erhöht. Jedoch sollte mit einem erhöhten Urlaubsentgelt - abweichend von der damaligen Rechtslage - nicht jede Mehrarbeit berücksichtigt werden, sondern nur regelmäßige Mehrarbeit und bei unregelmäßiger Mehrarbeit solche, die einen Umfang von 50 „abgerechneten Mehrarbeitsstunden“ innerhalb des Vorjahres als Referenzzeitraum überschritten hat. Erkennbarer Zweck dieser Tarifnorm ist, dem Arbeitnehmer, der entweder regelmäßig oder zumindest innerhalb eines repräsentativen Zeitraums (hier das Vorjahr) längere Zeit Mehrarbeit geleistet und sich an den Mehrverdienst gewöhnt hat, diesen Standard auch im Urlaub zu erhalten (vgl. zu einer tariflichen Regelung, nach der für die Berechnung des Urlaubsentgelts nur die Mehrarbeit zu berücksichtigen ist, die der Angestellte in den letzten drei Kalendermonaten vor Beginn des Urlaubs geleistet hat, wenn er in jedem der drei Monate Mehrarbeit geleistet und diese innerhalb dieses Zeitraums insgesamt mindestens 24 Stunden erreicht hat - zu 2 d der Gründe; vgl. zum Urlaubsentgelt und dem sog. Lebensstandardprinzip - zu 2 c und d der Gründe, BAGE 18, 12). Nicht erkennbar ist hingegen, dass diese Regelung - wie der Kläger meint - den Zweck verfolgt, den Arbeitnehmer, der in einem bestimmten Zeitraum dem Arbeitgeber eine Disposition über seine Freizeit eingeräumt hat, zu belohnen. Die „Belohnung“ für die Mehrarbeit und zugleich einen Anreiz zur Mehrarbeit erhält der Arbeitnehmer bereits durch die in § 11 Ziff. 2 MTV geregelten Zuschläge.
23bb) Der Zweck der Sicherung des Lebensstandards gebietet es, dass nur diejenigen Mehrarbeitsstunden das Urlaubsentgelt erhöhen, für die der Arbeitnehmer eine gegenüber der regulären Vergütung zusätzliche Vergütung erhalten hat. Denn nur dann hat sich der finanzielle Lebensstandard erhöht. Hingegen erhöht sich die durchschnittliche Vergütung nicht, wenn die Mehrarbeit durch bezahlte Freizeit ausgeglichen wird.
24d) Überdies spricht auch für die Einbeziehung ausschließlich der finanziell abgegoltenen Mehrarbeit der Umstand, dass § 13 Ziff. 5 Abs. 2 MTV eine tarifliche Ausnahmevorschrift iSd. § 13 Abs. 1 Satz 1 BUrlG sowohl gegenüber § 11 Abs. 1 BUrlG in seiner bis zum geltenden Fassung als auch gegenüber § 11 Abs. 1 BUrlG in seiner seither geltenden Fassung ist. Tarifliche Ausnahmevorschriften sind eng auszulegen ( - zu 2 c der Gründe).
25e) Entgegen der Auffassung des Klägers gebietet auch der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG kein anderes Auslegungsergebnis.
26aa) Für die Anwendung von Tarifnormen gilt - ebenso wie für die Anwendung von Gesetzesrecht - der Grundsatz, dass von zwei möglichen Auslegungen einer Norm, deren eine zu einem verfassungswidrigen, die andere dagegen zu einem verfassungsgemäßen Ergebnis führt, die letztgenannte zu wählen ist. Tarifvertragsparteien wollen im Zweifel Regelungen treffen, die mit höherrangigem Recht in Einklang stehen und damit auch Bestand haben ( - zu B II 1 a bb der Gründe mwN, BAGE 73, 364).
27bb) Tarifvertragsparteien sind bei der tariflichen Normsetzung nicht unmittelbar grundrechtsgebunden. Die Schutzfunktion der Grundrechte verpflichtet die Arbeitsgerichte jedoch dazu, Tarifregelungen die Durchsetzung zu verweigern, die zu gleichheits- und sachwidrigen Differenzierungen führen und deshalb Art. 3 Abs. 1 GG verletzen ( - Rn. 29; - 6 AZR 661/12 - Rn. 26, BAGE 149, 297; - 6 AZR 753/12 - Rn. 42, BAGE 148, 323; - 6 AZR 94/12 - Rn. 43; - 6 AZR 23/12 - Rn. 58).
28(1) Der allgemeine Gleichheitssatz gebietet es, wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln (, 2 BvL 3/11 - Rn. 35 mwN zur st. Rspr.; - Rn. 15, BAGE 150, 246; - 9 AZR 452/11 - Rn. 19). Art. 3 Abs. 1 GG untersagt auch einen gleichheitswidrigen Begünstigungsausschluss, mit dem ein Personenkreis begünstigt und ein anderer Personenkreis von der Begünstigung ausgenommen wird ( - Rn. 27 mwN zur Rspr. des BVerfG, BAGE 149, 297).
29(2) Dabei verwehrt Art. 3 Abs. 1 nicht jede Differenzierung. Diese bedürfen jedoch stets der Rechtfertigung durch Sachgründe, die dem Differenzierungsziel und dem Ausmaß der Ungleichbehandlung angemessen sind. Hinsichtlich der verfassungsrechtlichen Anforderungen an den die Ungleichbehandlung tragenden Sachgrund ergeben sich aus Art. 3 Abs. 1 GG je nach Regelungsgegenstand und Differenzierungsmerkmalen unterschiedliche Grenzen, die vom bloßen Willkürverbot bis zu einer strengen Bindung an Verhältnismäßigkeitserfordernisse reichen (, 2 BvL 3/11 - Rn. 35 mwN zur st. Rspr.; - Rn. 28 mwN, BAGE 149, 297). Genauere Maßstäbe und Kriterien dafür, unter welchen Voraussetzungen im Einzelfall das Willkürverbot oder das Gebot verhältnismäßiger Gleichbehandlung durch den Gesetzgeber verletzt ist, lassen sich nicht abstrakt und allgemein, sondern nur bezogen auf die jeweils betroffenen Sach- und Regelungsbereiche bestimmen (, 2 BvL 3/11 - Rn. 35 mwN zur st. Rspr.; zum Prüfungsmaßstab und den berücksichtigungsfähigen Kriterien Britz NJW 2014, 346). Bei einer personenbezogenen Ungleichbehandlung ist der Gleichheitssatz in der Regel verletzt, wenn eine Gruppe von Regelungsadressaten im Vergleich zu einer anderen Gruppe unterschiedlich behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen könnten ( - Rn. 30 mwN insb. zur Rspr. des BVerfG). Gleiches gilt auch, wenn eine Ungleichbehandlung von Sachverhalten mittelbar eine Ungleichbehandlung von Personengruppen bewirkt ( - Rn. 32). Je weniger die Merkmale, an die eine Differenzierung anknüpft, für den Einzelnen verfügbar sind, desto strenger sind die Anforderungen (vgl. - Rn. 31 mwN, BVerfGE 132, 179). Bei einer rein sachbezogenen Ungleichbehandlung sind die Anforderungen an eine Rechtfertigung hingegen geringer (vgl. Jarass NJW 1997, 2545, 2548 mwN zur Rspr. des BVerfG).
30(3) Es ist grundsätzlich dem Normgeber überlassen, die Merkmale zu bestimmen, nach denen Sachverhalte als hinreichend gleich anzusehen sind, um sie gleich zu regeln ( - Rn. 28). Tarifvertragsparteien kommt als selbstständigen Grundrechtsträgern aufgrund der durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützten Tarifautonomie ein weiter Gestaltungsspielraum zu. Wie weit dieser reicht, hängt von den im Einzelfall vorliegenden Differenzierungsmerkmalen und dem Zweck der Leistung ab. Dabei steht den Tarifvertragsparteien in Bezug auf die tatsächlichen Gegebenheiten und die betroffenen Interessen eine Einschätzungsprärogative zu ( - Rn. 31 mwN; - 6 AZR 646/13 - Rn. 32 mwN; vgl. auch - Rn. 27). Sie brauchen nicht die sachgerechteste oder zweckmäßigste Regelung zu finden ( - Rn. 26 mwN, BAGE 149, 297; - 9 AZR 442/09 - Rn. 27).
31(4) Nach diesen Grundsätzen ist es nicht zu beanstanden, dass die Tarifvertragsparteien hinsichtlich der Berücksichtigung von Mehrarbeit bei der Berechnung des Urlaubsentgelts differenzieren zwischen Mehrarbeit, die finanziell abgegolten wurde, und Mehrarbeit, die in Freizeit abgegolten wurde. Denn ausgehend vom Regelungszweck, der Erhaltung des Lebensstandards während des Urlaubs, sind diese Sachverhalte im Wesentlichen nicht vergleichbar. Die Unterschiede sind von solcher Art und solchem Gewicht, dass sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen. Dies gilt auch unter Berücksichtigung des Umstands, dass nach der tariflichen Regelung (§ 11 Ziff. 2 Abs. 1 Satz 4 MTV) der Arbeitgeber innerhalb der durch das ArbZG gezogenen Grenzen das Wahlrecht hat, ob er die Mehrarbeit durch Freizeit oder durch Zahlung abgilt (Hopfner in Hopfner aaO § 11 MTV Rn. 34), und damit das Differenzierungsmerkmal für den Einzelnen nicht verfügbar ist. Denn nur bei Arbeitnehmern, die aufgrund der Mehrarbeit neben der regulären Vergütung eine zusätzliche Vergütung erhalten haben, konnte sich der finanzielle Lebensstandard erhöhen. Hingegen erhöht sich die durchschnittliche Vergütung desjenigen, bei dem die Mehrarbeit durch bezahlte Freizeit ausgeglichen wird, nicht.
32f) Auch Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung (ABl. EU L 299 vom S. 9; im Folgenden Arbeitszeitrichtlinie) zwingt nicht zu einer anderen Auslegung der tariflichen Regelung. Dabei kann die umstrittene Frage, ob und in welchem Umfang eine richtlinien- oder unionsrechtskonforme Auslegung eines Tarifvertrags überhaupt vorgenommen werden darf, dahinstehen (vgl. zu dieser Streitfrage: Schweighart/Ott NZA-RR 2015, 1, 4 f.; Dewald Die Anwendung des Unionsrechts auf den deutschen Tarifvertrag S. 187 ff.; ErfK/Wißmann Vorbem. zum AEUV Rn. 38 mwN; ders. FS Bepler 2012 S. 649; Bepler in Henssler/Moll/Bepler Der Tarifvertrag Teil 3 Rn. 149; Sagan in Preis/Sagan Europäisches Arbeitsrecht § 1 Rn. 145; Däubler/Däubler TVG 3. Aufl. Einl. Rn. 519). Denn ein Konflikt mit dem Unionsrecht ist aufgrund der Nichtberücksichtigung lediglich durch bezahlte Freizeit ausgeglichener Mehrarbeit im Rahmen des Geldfaktors bei der Berechnung der Höhe des Urlaubsentgelts offenkundig nicht gegeben.
33aa) Nach der Rechtsprechung des EuGH ist der Anspruch jedes Arbeitnehmers auf bezahlten Jahresurlaub als ein besonders bedeutsamer Grundsatz des Sozialrechts der Union anzusehen, von dem nicht abgewichen werden darf und den die zuständigen nationalen Stellen nur in den Grenzen umsetzen dürfen, die in der Arbeitszeitrichtlinie selbst ausdrücklich gezogen sind (vgl. - [Lock] Rn. 14 mwN). Art. 7 der Arbeitszeitrichtlinie enthält danach zwar keinen ausdrücklichen Hinweis auf das Entgelt, auf das der Arbeitnehmer während seines Jahresurlaubs Anspruch hat, doch hat der EuGH mehrfach klargestellt, dass der Ausdruck „bezahlter [J]ahresurlaub“ in Art. 7 Abs. 1 der Arbeitszeitrichtlinie bedeutet, dass das Arbeitsentgelt für die Dauer des Jahresurlaubs im Sinne dieser Richtlinie weiterzugewähren ist und dass der Arbeitnehmer - mit anderen Worten - für diese Ruhezeit das gewöhnliche Arbeitsentgelt erhalten muss ( - [Sähköalojen ammattiliitto] Rn. 66 mwN; - C-539/12 - [Lock] Rn. 16 mwN). Durch die Zahlung des Urlaubsentgelts soll der Arbeitnehmer während des Jahresurlaubs in eine Lage versetzt werden, die in Bezug auf das Entgelt mit den Zeiten geleisteter Arbeit vergleichbar ist ( - [Sähköalojen ammattiliitto] Rn. 67; - C-539/12 - [Lock] Rn. 17). In diesem Zusammenhang hat der EuGH entschieden, dass alle Lohnbestandteile, die untrennbar mit der Erfüllung der dem Arbeitnehmer nach seinem Arbeitsvertrag obliegenden Aufgaben verbunden sind und durch einen in die Berechnung seines Gesamtentgelts eingehenden Geldbetrag abgegolten werden, sowie alle Bestandteile, die an seine persönliche und berufliche Stellung anknüpfen, fortzuzahlen sind ( - [Williams] Rn. 31).
34bb) Gegen diese vom EuGH aufgestellten Grundsätze verstößt es nicht, wenn sich in Freizeit ausgeglichene Mehrarbeit nicht zusätzlich erhöhend auf den Geldfaktor bei der Berechnung der Höhe des Urlaubsentgelts auswirkt, da die so abgegoltene Mehrarbeit das gewöhnliche Arbeitsentgelt gerade nicht erhöht. Der Arbeitnehmer erhält auch im Urlaub ein Entgelt, das der Höhe nach mit dem Entgelt für die Zeiten geleisteter Arbeit nicht nur vergleichbar, sondern identisch ist.
35g) Daraus folgt zugleich, dass § 13 Ziff. 5 Abs. 2 MTV auch keine nach § 13 Abs. 1 Satz 1 BUrlG unzulässige Abweichung von § 1 BUrlG enthält (vgl. - Rn. 20), nach dem jeder Arbeitnehmer einen Anspruch auf „bezahlten“ Erholungsurlaub hat und der insoweit der Regelung in Art. 7 Abs. 1 der Arbeitszeitrichtlinie entspricht und damit auch einer unionsrechtskonformen Auslegung zugänglich ist (vgl. - Rn. 21, BAGE 150, 355; - 9 AZR 77/13 - Rn. 23). Vielmehr enthält diese Tarifnorm zugunsten des Arbeitnehmers eine zulässige Ausnahme von § 11 Abs. 1 Satz 1 BUrlG.
36II. Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 Abs. 1 ZPO.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BAG:2015:151215.U.9AZR611.14.0
Fundstelle(n):
BB 2016 S. 1204 Nr. 20
BB 2016 S. 1267 Nr. 21
JAAAF-73337