BSG Beschluss v. - B 3 P 23/15 B

Instanzenzug: S 10 P 31/09

Gründe:

I

1Im Streit steht die Herabstufung von Leistungen bei häuslicher Pflege auf die Pflegestufe I ab Juli 2008.

2Die 1991 geborene, bei der Beklagten pflegeversicherte Klägerin erkrankte im Jahre 1997 an einem Sarkom im Unterkiefer. In der Folgezeit musste sie sich einer Chemo- und Strahlentherapie mit zahlreichen Anschlussoperationen unterziehen. Ab bezog sie Leistungen der Pflegestufe II nach §§ 36 ff SGB XI. Ab wurde die Leistungsbewilligung aufgehoben und wurden nur noch Leistungen der Pflegestufe I entsprechend dem durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) festgestellten Grundpflegebedarf von 96 Minuten gewährt (Bescheid vom , Widerspruchsbescheid vom ). Die hiergegen gerichtete Klage vor dem SG Augsburg (Az S 10 P 25/06) wurde zurückgenommen, nachdem die Beteiligten eine außergerichtliche Mediationsvereinbarung am mit dem Inhalt geschlossen hatten, dass sich die Beklagte verpflichtete, der Klägerin Leistungen bei häuslicher Pflege der Pflegestufe II ab März 2006 auf der Basis eines Grundpflegebedarfs von 137 Minuten zu bewilligen. Ferner wurde vereinbart, dass eine Wiederholungsbegutachtung nicht vor Ende 2007 veranlasst werden sollte. Mit Bescheid vom teilte die Beklagte mit, dass sie entsprechend der Mediationsvereinbarung ab Pflegegeld der Pflegestufe II zahlen werde.

3Ab Februar 2008 stellte der MDK in mehreren Gutachten einen Grundpflegebedarf nach der Pflegestufe I fest. Nach Anhörung der Klägerin hob die Beklagte den Bescheid vom wegen wesentlicher Änderung der tatsächlichen Verhältnisse zum auf und gewährte ab nur noch Leistungen der Pflegestufe I (Bescheid vom , Widerspruchsbescheid vom ). Der Grundpflegebedarf hatte sich auf 54 bzw 56 Minuten täglich reduziert.

4Das den Bescheid der Beklagten vom in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom aufgehoben. Der Aufhebungsbescheid könne nicht auf § 48 Abs 1 Satz 1 SGB X gestützt werden. Maßgeblich seien nicht die in der Mediationsvereinbarung zugrunde gelegten Pflegezeiten, sondern nur der zu diesem Zeitpunkt tatsächliche Pflegebedarf; der sich den MDK-Gutachten zufolge nicht wesentlich verändert habe, sondern durchgehend im Bereich der Pflegestufe I gelegen habe.

5Auf die Berufung der Beklagten hat das LSG das Urteil des SG Augsburg vom aufgehoben und die Klage gegen den Bescheid vom in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, der Aufhebungsbescheid vom sei nicht deshalb unwirksam, weil er an die damals noch minderjährige Klägerin adressiert gewesen sei. Die Mutter habe tatsächliche Kenntnis von diesem Bescheid erhalten. Das Widerspruchsschreiben vom sei von ihr persönlich verfasst worden. Selbst auf die an die Klägerin adressierte Anhörung habe sich die Mutter persönlich geäußert.

6Der angefochtene Aufhebungsbescheid sei auch in materieller Hinsicht rechtmäßig. Die teilweise Aufhebung des Bewilligungsbescheids vom und die Herabstufung auf die Pflegestufe I mit Wirkung vom sei nach § 48 SGB X zu Recht erfolgt. In den tatsächlichen Verhältnissen, die beim Erlass des Bewilligungsbescheids vorgelegen hätten, sei eine wesentliche Änderung eingetreten, die auch im Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheids vom noch weiter bestanden habe. Hierfür hat sich das LSG auf die Ausführungen der im Berufungsverfahren eingeholten Gutachten der Pflegesachverständigen S. -V. und E. bezogen. Die Beklagte habe sich zusätzlich von der Mediationsvereinbarung vom lösen müssen, die ein öffentlich-rechtlicher Vertrag iS von § 53 SGB X in der Form eines Vergleichsvertrags nach § 54 SGB X sei. Die Anpassung des Vertragsinhalts an die geänderten Verhältnisse bzw die teilweise Kündigung der Mediationsvereinbarung nach § 59 Abs 1 Satz 1 SGB X sei zugleich mit dem Aufhebungsbescheid vom verbunden worden. Der Beklagten sei ein Festhalten an der Mediationsvereinbarung aufgrund des tatsächlich geänderten Pflegebedarfs nicht mehr zumutbar gewesen.

7Mit der Beschwerde wendet sich die Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des LSG. Sie beruft sich auf die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG).

II

8Die Beschwerde der Klägerin ist unbegründet, weil die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung hat. Sie war daher zurückzuweisen.

9Grundsätzliche Bedeutung hat eine Rechtssache iS des § 160 Abs 2 Nr 1 SGG nur dann, wenn sie eine Rechtsfrage aufwirft, die - über den Einzelfall hinaus - aus Gründen der Rechtseinheit oder Fortbildung des Rechts einer Klärung durch das Revisionsgericht bedürftig und fähig ist. Der Beschwerdeführer muss daher anhand des anwendbaren Rechts und unter Berücksichtigung der höchstrichterlichen Rechtsprechung aufzeigen, welche Fragen sich stellen, dass diese noch nicht geklärt sind, weshalb eine Klärung dieser Rechtsfragen aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts erforderlich ist und dass das angestrebte Revisionsverfahren eine solche Klärung erwarten lässt (vgl BSG SozR 1500 § 160 Nr 17 und § 160a Nr 7, 11, 13, 31, 39, 59, 65).

10Eine Rechtsfrage ist dann nicht klärungsbedürftig, wenn die Antwort praktisch außer Zweifel steht, sich zB unmittelbar aus dem Gesetz ergibt oder bereits höchstrichterlich geklärt ist. Als höchstrichterlich geklärt ist eine Rechtsfrage auch dann anzusehen, wenn das Revisionsgericht bzw das BVerfG diese zwar noch nicht ausdrücklich entschieden hat, jedoch schon eine oder mehrere höchstrichterliche Entscheidungen ergangen sind, die ausreichende Anhaltspunkte zur Beurteilung der von der Beschwerde als grundsätzlich herausgestellten Rechtsfrage geben (stRspr vgl nur BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 8 S 17). Ebenso kann der Klärungsbedarf durch die Rechtsprechung eines anderen obersten Bundesgerichts entfallen. Denn der Hinweis auf das Fehlen einer Entscheidung des Revisionsgerichts reicht dann nicht zur Darlegung des Klärungsbedarfs aus, wenn ein anderes oberstes Bundesgericht zu speziellen Rechtsfragen entschieden hat und das angerufene Bundesgericht dieser Rechtsprechung folgt (stRspr vgl nur BSG SozR 3-1500 § 160a Nr 21 und SozR 3-1500 § 160 Nr 8; vgl auch 10 B 80.05 - Buchholz 424.01 § 29 FlurbG Nr 1 S 1 = BayVBl 2007, 472; - NJW 2008, 601).

11Die Klägerin hält für grundsätzlich bedeutsam die Fragen:

"Wird ein Verwaltungsakt, der an einen Minderjährigen adressiert ist, ihm gegenüber dann im Sinne von § 37 SGB X wirksam bekannt gegeben, wenn der gesetzliche Vertreter tatsächliche Kenntnis von ihm erhält?"

"Kann ein Aufhebungsbescheid dahingehend ausgelegt werden, dass mit seinem Erlass gleichzeitig ein Anpassungsbegehren bzw. eine teilweise Kündigung eines öffentlichrechtlichen Vertrages im Sinne des § 53 SGB X in der Spezialform eines Vergleichsvertrages nach § 54 SGB X gemäß § 59 Abs. 1 Satz 1 SGB X verbunden ist?"

12Die erste Frage ist nicht klärungsbedürftig, weil sie durch das Gesetz und die oberstgerichtliche Rechtsprechung hinreichend beantwortet ist. Nach § 95 SGG ist Streitgegenstand der Anfechtungsklage der ursprüngliche Verwaltungsakt in der Gestalt, die er durch den Widerspruchsbescheid gefunden hat. Selbst im Fall einer fehlerhaften Bekanntgabe eines Erstbescheids kann dieser durch die ordnungsgemäße Bekanntgabe des Einspruchs- bzw Widerspruchsbescheids geheilt werden (stRspr vgl nur BFHE 162, 380, 383; - Juris RdNr 25; vgl dazu Steinwedel in Kasseler Komm, Stand Juli 2011, SGB X § 41 RdNr 5 mwN). Nach den unangegriffenen Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) hat die erziehungsberechtigte Mutter der Klägerin den Widerspruch gegen den an ihre minderjährige Tochter adressierten Aufhebungsbescheid vom eingelegt. Zudem ist der Widerspruchsbescheid vom ordnungsgemäß an die Mutter der Klägerin adressiert worden. Überdies fehlt es an Darlegungen, welche rechtserheblichen Nachteile der Klägerin aus einer möglichen fehlerhaften Adressierung des Erstbescheids an ihre Person entstanden sein sollten. Im Übrigen gilt, dass derjenige, der trotz fehlerhafter Bekanntgabe sichere Kenntnis vom Ergehen der Entscheidung erlangt hat, sich nicht auf die fehlerhafte Bekanntgabe des Verwaltungsakts berufen kann. Insbesondere ist es ihm verwehrt, sich auf die fehlende Wirksamkeit dieses Verwaltungsakts zu berufen (vgl nur - RdL 1983, 69, Juris RdNr 25).

13Auch die zweite Frage ist nicht klärungsbedürftig, weil die Antwort hinreichend deutlich durch die Rechtsprechung des BSG vorgezeichnet ist. Die Klägerin zielt mit ihrer Frage darauf ab, ob es rechtlich möglich ist, einen Aufhebungsbescheid zugleich mit dem Anpassungsbegehren bzw der teilweisen Kündigung eines öffentlich-rechtlichen Vergleichsvertrags (§ 54 SGB X) nach § 59 Abs 1 Satz 1 SGB X zu verbinden.

14Nach ständiger Rechtsprechung des BSG sind Bescheide so auszulegen, wie ein verständiger Empfänger sie verstehen muss (sog Empfängerhorizont - vgl BSGE 108, 86 = SozR 4-1500 § 54 Nr 21, RdNr 18; BSG SozR 4-1500 § 192 Nr 2 RdNr 18; BSGE 115, 57 = SozR 4-2500 § 103 Nr 13, RdNr 24). Aus der Senatsrechtsprechung ergibt sich, dass das - einfache - Schriftformerfordernis einer Kündigung nach § 59 Abs 2 SGB X grundsätzlich für alle öffentlich-rechtlichen Verträge gilt, um in erster Linie die Rechtssicherheit zu wahren (vgl Senatsbeschluss vom - B 3 KR 26/14 B - Juris RdNr 15). Solche Kündigungen müssen nicht ausdrücklich erklärt werden, sondern können auch konkludent durch eine sinngemäße Mitteilung erfolgen (vgl BSGE 69, 238, 243 = SozR 3-1200 § 52 Nr 2 S 25).

15Wenn das LSG nach Auslegung des angefochtenen Aufhebungsbescheids in Gestalt des Widerspruchsbescheids zu dem Ergebnis gekommen ist, dass die Beklagte sich zugleich von der Mediationsvereinbarung gelöst habe, so wird deutlich, dass nach der aufgezeigten Rechtsprechung kein Klärungsbedarf besteht, weil die Antwort klar auf der Hand liegt. Einer hier allenfalls in Betracht kommenden, sinngemäßen Kündigungserklärung steht nicht entgegen, sie mit einem Verwaltungsakt - in den Worten der Klägerin - zu verbinden. Denn hier hatten die Beteiligten die Handlungsform des Vertrags (Mediationsvereinbarung) und des Verwaltungsakts (Bewilligungsbescheid) zur Gestaltung ihres Rechtsverhältnisses gemeinsam gewählt.

16Der Senat kann daher die Entscheidungserheblichkeit der zweiten Frage unbeantwortet lassen. Es kann insbesondere offenbleiben, ob es der Anpassung oder Kündigung der Mediationsvereinbarung angesichts ihres Inhalts, dass eine Wiederholungsbegutachtung in absehbarer Zeit vereinbart worden war, überhaupt bedurfte. Den Beteiligten musste klar gewesen sein, dass die "Geschäftsgrundlage" der Mediationsvereinbarung über die zu bewilligende Pflegestufe II nur solange Bestand haben würde, wie sich der der Vereinbarung zugrunde liegende Pflegebedarf nach der Wiederholungsbegutachtung nicht maßgeblich verändert hatte. Eine solche wesentliche Änderung der tatsächlichen Verhältnisse war aber unter Berücksichtigung der Ergebnisse der seit Februar 2008 erstellten Gutachten eingetreten.

17Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.

Fundstelle(n):
JAAAF-72005