BSG Beschluss v. - B 3 P 1/16 BH

Instanzenzug: S 18 P 4051/14

Gründe:

I

1Der im Jahre 2009 geborene Kläger leidet an Diabetes mellitus Typ I und begehrt Pflegegeld nach der Pflegestufe II, hilfsweise nach der Pflegestufe I ab . Die beklagte Pflegekasse lehnte den Leistungsantrag vom nach Einholung von Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung vom und ab, weil der erforderliche Zeitaufwand für die Grundpflege nicht den Mindestwert der Pflegestufe I von täglich "mehr als 45 Minuten" (§ 15 Abs 1 Satz 1 Nr 1, Abs 2 und Abs 3 Satz 1 Nr 1 SGB XI) erreiche (Bescheid vom , Widerspruchsbescheid vom ). Das SG hat die Klage abgewiesen (Gerichtsbescheid vom ). Das LSG hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen (Urteil vom ): Der Mehrbedarf des Klägers bei der Grundpflege im Vergleich zum Pflegebedarf eines gesunden gleichaltrigen Kindes (§ 15 Abs 2 SGB XI) erreiche nicht den Mindestzeitwert der Pflegestufe I. Der Zeitaufwand der Mutter für die erforderlichen Blutzuckermessungen, die Dokumentation der Krankheitsbehandlung, die Insulininjektionen, die blutzuckerabhängigen Essensgaben und die permanente Überwachung des Klägers könne nach § 14 Abs 4 Nr 1 bis 3 SGB XI bei der Bemessung des Pflegebedarfs nicht berücksichtigt werden, weil es sich jeweils um nicht verrichtungsbezogene Maßnahmen handele (§ 15 Abs 3 Satz 2 und 3 SGB XI).

2Für das Verfahren über die beabsichtigte Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des LSG begehrt der Kläger die Bewilligung von Prozesskostenhilfe (PKH) unter Beiordnung eines Rechtsanwalts.

II

3Nach § 73a Abs 1 Satz 1 SGG iVm §§ 114, 121 ZPO erhält ein Beteiligter, der nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, auf Antrag PKH, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint.

41. Es kann offenbleiben, ob der Kläger nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen in der Lage wäre, die Kosten für die Inanspruchnahme eines Rechtsanwalts selbst aufzubringen. PKH kann ihm jedenfalls nicht bewilligt werden, weil die beabsichtigte Rechtsverfolgung keine hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet. Es liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass einer der in § 160 Abs 2 Nr 1 bis 3 SGG abschließend aufgeführten Gründe für die Zulassung der Revision von einem Bevollmächtigten mit Erfolg gerügt werden und auch tatsächlich vorliegen könnte.

5Gemäß § 160 Abs 2 SGG ist die Revision nur zuzulassen, wenn

- die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder

- das Urteil von einer Entscheidung des BSG, des GmSOGB oder des BVerfG abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder

- ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann.

Bestimmte Verfahrensrügen sind allerdings nur eingeschränkt oder gar nicht geeignet, die Zulassung der Revision zu begründen (§ 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 2 SGG).

62. Nach der im PKH-Verfahren gebotenen summarischen Prüfung der Erfolgsaussichten des beabsichtigten Rechtsmittels liegt keiner der Zulassungsgründe des § 160 Abs 2 SGG vor.

7a) Die Sache bietet keine Hinweise auf eine über den Einzelfall des Klägers hinausgehende grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG). Die Revision kann wegen grundsätzlicher Bedeutung nur zugelassen werden, wenn die Rechtssache eine klärungsbedürftige Rechtsfrage aufwirft. Fragen, die bereits höchstrichterlich entschieden sind, sind regelmäßig nicht mehr klärungsbedürftig (vgl Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl 2014, § 160 RdNr 6 ff mwN). Auch bei Fehlen einer höchstrichterlichen Entscheidung ist die Rechtsfrage nicht klärungsbedürftig, wenn ihre Beantwortung praktisch außer Zweifel steht oder so gut wie unbestritten ist (BSG SozR 4-1500 § 160a Nr 32 RdNr 17 mwN). Es ist nicht erkennbar, dass im Rechtsstreit des Klägers eine solche grundsätzliche Rechtsfrage von Bedeutung sein könnte.

8Der erkennende Senat hat bereits entschieden, dass es für die Ermittlung von Pflegebedürftigkeit und die Zuordnung zu den Pflegestufen allein auf den Hilfebedarf bei den in § 14 Abs 4 SGB XI genannten Verrichtungen ankommt (BSGE 82, 27 = SozR 3-3300 § 14 Nr 2; BSGE 85, 278 = SozR 3-3300 § 43 Nr 1), dass der Katalog des § 14 Abs 4 SGB XI abschließend ist (stRspr, vgl BSGE 82, 27 = SozR 3-3300 § 14 Nr 2; BSGE 82, 276 = SozR 3-3300 § 14 Nr 7; BSG SozR 3-3300 § 14 Nr 3, 6 und 11; BSG SozR 3-3300 § 14 Nr 14: Erweiterung nur um das Liegen und Sitzen), dass die Beaufsichtigung zur Vermeidung einer Selbst- oder Fremdgefährdung ebenso wenig in Ansatz gebracht werden kann (BSG SozR 3-3300 § 14 Nr 5 und 8 sowie BSG SozR 3-3300 § 43a Nr 5) wie eine allgemeine Ruf- oder Einsatzbereitschaft einer Pflegeperson (BSG SozR 3-3300 § 15 Nr 1) und dass der Bezug der Pflegebedürftigkeit auf bestimmte Verrichtungen sowie die Nichtberücksichtigung eines allgemeinen Betreuungsaufwandes verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden sind (ebenso BVerfG SozR 4-3300 § 14 Nr 1). Dabei hat der Senat stets betont, dass die Betreuung, die Aufsicht und die Kontrolle durch die Pflegeperson nur dann bei der Bemessung des Pflegebedarfs zu berücksichtigen sind, wenn sie sich konkret auf eine der in § 14 Abs 4 SGB XI genannten Verrichtungen beziehen und ein so hohes Maß an Aufmerksamkeit der Pflegeperson erfordern, dass die gleichzeitige Ausführung anderer Tätigkeiten praktisch ausgeschlossen ist (BSG SozR 3-3300 § 14 Nr 6). Ein daneben bestehender allgemeiner, also nicht konkret verrichtungsbezogener Aufsichtsbedarf kann deshalb nicht in Ansatz gebracht werden.

9Außerdem hat sich das BSG wiederholt mit der Frage befasst, unter welchen Voraussetzungen krankheitsspezifische Hilfeleistungen bei der Bemessung des Hilfebedarfs nach §§ 14 und 15 SGB XI zu berücksichtigen sind (BSGE 82, 27 = SozR 3-3300 § 14 Nr 2; BSGE 82, 276 = SozR 3-3300 § 14 Nr 7 und - RdLH 2002, 20). Diese Rechtsprechung hat der Gesetzgeber durch das Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung vom (BGBl I 378) übernommen, indem er § 15 Abs 3 SGB XI die Sätze 2 und 3 angefügt hat: "Bei der Feststellung des Zeitaufwandes ist ein Zeitaufwand für erforderliche verrichtungsbezogene krankheitsspezifische Pflegemaßnahmen zu berücksichtigen; dies gilt auch dann, wenn der Hilfebedarf zu Leistungen nach dem Fünften Buch führt. Verrichtungsbezogene krankheitsspezifische Pflegemaßnahmen sind Maßnahmen der Behandlungspflege, bei denen der behandlungspflegerische Hilfebedarf untrennbarer Bestandteil einer Verrichtung nach § 14 Abs. 4 SGB XI ist oder mit einer solchen Verrichtung notwendig in einem unmittelbaren zeitlichen und sachlichen Zusammenhang steht." An diese Vorgaben hat sich das LSG gehalten, als es den täglichen Mehrbedarf des Klägers bei der Grundpflege (§ 15 Abs 2 SGB XI) auf unterhalb des Grenzwerts für die Pflegestufe I (§ 15 Abs 1 Satz 1 Nr 1, Abs 3 Satz 1 Nr 1 SGB XI) bemessen und dabei die Blutzuckermessungen, die Injektionen, die blutzuckerabhängigen Essensgaben, die Dokumentation und die Beaufsichtigung des Klägers als von § 14 Abs 4 SGB XI nicht umfasste Hilfen ausgeklammert hat. Ungeklärte Rechtsfragen sind nicht ersichtlich.

10b) Auch der Zulassungsgrund der Divergenz (§ 160 Abs 2 Nr 2 SGG) könnte nicht mit Erfolg geltend gemacht werden, denn das LSG weicht in der angefochtenen Entscheidung nicht von höchstrichterlicher Rechtsprechung ab.

11c) Das Berufungsverfahren weist ferner keine die Zulassung der Revision begründenden Verfahrensmängel iS des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG auf. Insbesondere bestehen keine Hinweise darauf, dass das LSG seine Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts (§ 103 SGG) oder den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör (§ 62 SGG) verletzt haben könnte. Das LSG hat insbesondere keinen Verfahrensfehler dadurch begangen, dass es den in der mündlichen Verhandlung vom hilfsweise gestellten Beweisantrag des Klägers auf Einholung eines ärztlichen Sachverständigengutachtens (Gutachter: Prof. Dr. S., Beweisthema: Ob und ggf in welchem Umfang stehen krankheitsspezifische Behandlungspflegemaßnahmen mit der Verrichtung der Grundpflege aus medizinischer Sicht in einem derart untrennbaren Zusammenhang, dass sie gemäß §§ 14 und 15 SGB XI bei der pflegefachlichen Begutachtung zwingend zu berücksichtigen sind?) in den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils abgelehnt hat (Urteilsumdruck S 18).

12Die Ablehnung eines Beweisantrags kann nur dann als Verletzung der Amtsermittlungspflicht (§ 103 SGG) gerügt werden, wenn das LSG dem Antrag ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist und das Berufungsurteil auf diesem Mangel beruhen kann (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG). Dies wiederum setzt voraus, dass sich das LSG auf Grundlage seiner Auffassung über die Sach- und Rechtslage zu der beantragten Beweiserhebung hätte gedrängt fühlen müssen (BSG SozR 1500 § 160 Nr 5 und 49; BSG SozR 4-1500 § 160 Nr 12; BSG SozR 1500 § 160a Nr 34; BSG SozR 3-1500 § 103 Nr 9; Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl 2014, § 160 RdNr 18d und § 160a RdNr 16f). Das LSG hat die weitere Beweiserhebung von Amts wegen (§ 103 SGG) und auch den hilfsweise gestellten Antrag auf gutachtliche Anhörung des Arztes Prof. Dr. S. (§ 109 Abs 1 Satz 1 SGG) abgelehnt, weil es einerseits den Vortrag des Klägers zu dem durch seine Diabeteserkrankung entstehenden zeitlichen Pflege- und Betreuungsaufwand seiner Mutter für wahr hält und andererseits den auf die Blutzuckermessungen, die Injektionen, die blutzuckerabhängigen Essensgaben, die Dokumentation und die Beaufsichtigung des Klägers entfallenden Zeitaufwand aus Rechtsgründen bei der Bemessung des Zeitaufwandes für die Grundpflege (§ 14 Abs 4 Nr 1 bis 3, § 15 Abs 3 Satz 2 und 3 SGB XI) nicht in Ansatz bringen konnte. Dies lässt einen Verfahrensfehler nicht erkennen. Überdies kann eine Verfahrensrüge auf eine Verletzung des § 109 SGG ohnehin nicht gestützt werden (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG).

13Die vom Kläger und seiner Mutter beklagte Nichtberücksichtigung aller ausschließlich von § 37 SGB V erfassten Maßnahmen der reinen Behandlungspflege bei der Bemessung des Pflegebedarfs nach den §§ 14 und 15 SGB XI, selbst wenn die häusliche Krankenpflege auf Dauer angelegt und zeitaufwändig ist, kann nicht von den Gerichten, sondern nur vom Gesetzgeber korrigiert werden.

Fundstelle(n):
EAAAF-68934