Geriatriezulage bei ambulanter Pflege
Gesetze: § 1 TVG, Art 3 Abs 1 GG
Instanzenzug: ArbG Kempten Az: 4 Ca 2511/12 Urteilvorgehend Landesarbeitsgericht München Az: 1 Sa 855/13 Urteil
Tatbestand
1Die Parteien streiten darüber, ob der Klägerin eine Geriatriezulage für das Erbringen ambulanter Pflege zusteht.
2Die Klägerin ist als Pflegefachkraft im Bereich des ambulanten Pflegedienstes bei der Beklagten tätig. Sie erbringt mit einer wöchentlichen Arbeitszeit von 18 Stunden zeitlich überwiegend Grund- und Behandlungspflege an Patienten mit geriatrischer Erkrankungssymptomatik. Kraft arbeitsvertraglicher Vereinbarung finden auf das Arbeitsverhältnis die für die Beklagte geltenden Tarifverträge in ihrer jeweiligen Fassung Anwendung. Dazu gehört der Entgeltrahmentarifvertrag vom (ERTV), der ua. folgende Regelungen enthält:
3Inhaltlich gleichlautende Regelungen enthielten § 16 des seit geltenden ERTV idF vom und des seit geltenden ERTV idF vom sowie § 15 des seit geltenden ERTV vom .
4Nach Feststellung des Landesarbeitsgerichts wandte die Beklagte den Bundes-Angestelltentarifvertrag (BAT) an, bevor sie Haustarifverträge abschloss. In der Protokollerklärung Nr. 1 des Abschn. A der Vergütungsordnungen des BAT für Angestellte im Pflegedienst (Anlage 1b zum BAT [künftig Protokollerklärung Nr. 1]) hieß es:
5Die Klägerin ist der Ansicht, ihr stehe eine zeitanteilige Pflegezulage nach § 16 ERTV zu. Sie begehrt die Zahlung der anteiligen Pflegezulage in rechnerisch unstreitiger Höhe für die Zeit seit dem .
6Die Klägerin hat die Auffassung vertreten, § 16 ERTV enthalte eine Erweiterung der Anspruchsvoraussetzungen gegenüber dem BAT. Anderenfalls hätten die Tarifvertragsparteien einfach die Protokollerklärung Nr. 1 übernehmen können. Darum könne der Verweis in § 16 ERTV auf die „bisherige Definition“ nur für Begriffe gelten, die schon vorher identisch in der Protokollerklärung Nr. 1 aufgeführt gewesen seien. Das sei bei der Pflegezulage nicht der Fall. Diese sei daher dann zu zahlen, wenn zeitlich überwiegend Grund- und Behandlungspflege geleistet werde, sofern darin wie bei der Pflege geriatrisch pflegebedürftiger Patienten eine zusätzliche Erschwernis liege, wobei es nicht darauf ankomme, ob die Pflege ambulant oder stationär erfolge.
7Die Klägerin hat - nach mehreren Klageerweiterungen - in den Tatsacheninstanzen zuletzt beantragt,
8Die Beklagte hat zur Begründung ihres Klageabweisungsantrags vorgetragen, die Tarifvertragsparteien hätten durch den Verweis auf die „bisherige Definition“ dokumentiert, dass trotz der begrifflichen Zusammenfassung durch die Begriffe „Pflegezulage“ bzw. „Zulage für beschützende Bereiche“ eine qualitative Änderung nicht habe eintreten sollen. Voraussetzung der Zulage im Bereich der geriatrischen Pflege sei deshalb aufgrund der früheren Regelung in der Protokollerklärung Nr. 1 das Erbringen der Pflegeleistung in Abteilungen oder Stationen.
9Die Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihr Begehren inhaltlich unverändert weiter.
Gründe
10Die Revision ist unbegründet. Die Vorinstanzen haben die Klage zu Recht abgewiesen. § 16 ERTV gewährt keinen Anspruch auf die Pflegezulage für die ambulante Grund- und Behandlungspflege an Patienten mit geriatrischer Erkrankungssymptomatik. Die Differenzierung zwischen ambulanten und stationären Pflegeleistungen verstößt nicht gegen Art. 3 Abs. 1 GG.
111. Der Einleitungssatz des § 16 Abs. 1 ERTV bestimmt, dass für die Übernahme der nachstehend aufgeführten zusätzlichen Funktionen nur dann eine monatliche Tarifzulage gezahlt wird, wenn es sich um Funktionen „im Sinne der bisherigen Definition“ handelt. Die Tarifvertragsparteien haben damit unmissverständlich und unzweideutig ihren Willen niedergelegt, an den Anspruchsvoraussetzungen der im bisherigen Tarifrecht geregelten Zulagen, die in § 16 ERTV zusammengefasst werden, uneingeschränkt festzuhalten. Entgegen der Annahme der Klägerin bezieht sich diese Klarstellung nicht nur auf Begriffe, die in den Vorgängerregelungen identisch verwendet worden sind. Die Tarifvertragsparteien haben vielmehr von jeder eigenen, neuen Definition der Anspruchsvoraussetzungen abgesehen und dies durch den Einleitungssatz des § 16 Abs. 1 ERTV dokumentiert.
122. Die Pflegezulage und die Zulage „beschützende Bereiche“ sind gemäß § 16 Abs. 1 ERTV darum nur zu zahlen, wenn die Voraussetzungen der Protokollerklärung Nr. 1 Abs. 1 erfüllt sind. Das ist bei der Klägerin nicht der Fall. In Betracht kommen insoweit allein Buchst. c und Buchst. d der Protokollerklärung Nr. 1 Abs. 1. Die Klägerin pflegt jedoch unstreitig nicht zeitlich überwiegend Gelähmte oder an multipler Sklerose Erkrankte. Die Grund- und Behandlungspflege (zu den Anforderungen an eine solche Pflege - zu II 3 a der Gründe) an Patienten mit geriatrischer Erkrankungssymptomatik erbringt sie nicht in geriatrischen Abteilungen und Stationen, sondern ambulant. Das genügt zur Erfüllung der tariflichen Voraussetzungen nicht. Grund- und Behandlungspflege wird nur dann iSd. Protokollerklärung Nr. 1 und damit auch iSd. § 16 Abs. 1 ERTV bei Kranken in geriatrischen Abteilungen oder Stationen erbracht, wenn die Pflege in einer organisatorisch (nicht notwendig räumlich) abgegrenzten Einheit erfolgt, der alte Patienten zugeordnet sind, an denen eine medizinische Heilbehandlung durchgeführt wird ( - zu II 5 der Gründe). Das ist unstreitig bei der Tätigkeit der Klägerin nicht der Fall, weil diese ihre Tätigkeit ambulant verrichtet.
133. Entgegen der Auffassung der Klägerin führt die Verwendung der Begriffe „Pflegezulage“ bzw. „Zulage ‚beschützende Bereiche’“ in § 16 ERTV nicht zu einer Erweiterung der Anspruchsvoraussetzungen und zur Ausdehnung des Anwendungsbereichs der Zulage auf ambulante Pflegekräfte. Im Gegenteil bestätigt die Verwendung des Begriffs „Pflegezulage“, dass diese Zulage bei ambulanter Pflege nicht zu zahlen ist.
14Allerdings weist die Klägerin zutreffend darauf hin, dass sich dieser Begriff in der Protokollerklärung Nr. 1 Abs. 1 nicht findet. Die Tarifvertragsparteien haben jedoch offenkundig zur Vereinfachung mit der Bezeichnung „Pflegezulage“ an die im Sprachgebrauch der beteiligten Fachkreise übliche Umschreibung der von der Protokollerklärung Nr. 1 Abs. 1 geregelten Zulage als „Pflegezulage“ angeknüpft (vgl. nur - BAGE 122, 22; - 10 AZR 127/03 -; Clemens/Scheuring/Steingen/Wiese BAT VergO BL Stand Oktober 2003 Anl. 1b A, B - Pflegepersonal Erl. 85; Uttlinger/Breier/Kiefer/Hoffmann/Dassau BAT Stand Februar 2003 Anlage 1b zum BAT (Bund/TdL/VKA) B 3.2 [Pflegepersonal nach Abschn. A] S. 113). Bereits dadurch, dass sie diese in Fachkreisen allgemein übliche Formulierung verwendet haben, haben sie deutlich gemacht, dass sie den Kreis der anspruchsberechtigten Arbeitnehmer nicht ausdehnen, sondern an den tariflichen Voraussetzungen dieser Zulage uneingeschränkt festhalten wollten. In diesem Zusammenhang wäre die zusätzliche Klarstellung im Einleitungssatz des § 16 Abs. 1 ERTV noch nicht einmal erforderlich gewesen. In Abgrenzung zu dem von ihnen ebenfalls verwendeten Begriff der „beschützenden Bereiche“, mit dem nach allgemeinem Sprachgebrauch die geschlossene Unterbringung gemeint ist, verweisen die Tarifvertragsparteien mit dem Begriff der „Pflegezulage“ auf die Anspruchsvoraussetzungen der Protokollerklärung Nr. 1 Abs. 1 Buchst. c bis Buchst. g und mit der Zulage „beschützende Bereiche“ auf die Voraussetzungen der Protokollerklärung Nr. 1 Abs. 1 Buchst. a und Buchst. b.
154. Die Klägerin hat nicht behauptet, dass die Tarifvertragsparteien unter Überschreitung ihres Gestaltungsspielraums in § 16 Abs. 1 ERTV gleichheitswidrig zwischen der Pflege von Kranken in geriatrischen Abteilungen und Stationen von Krankenhäusern und Heimen auf der einen und der ambulanten geriatrischen Pflege auf der anderen Seite differenziert hätten. Dafür gibt es auch keine Anhaltspunkte. Ebenso wenig liegt eine gleichheitswidrige Differenzierung zwischen der ambulanten Pflege gelähmter bzw. an multipler Sklerose leidender Patienten einerseits und ambulanter geriatrischer Pflege andererseits vor.
16a) Nach der Konzeption des Grundgesetzes ist die Lohnfindung grundsätzlich den Tarifvertragsparteien übertragen. Dabei kommt ihnen ein weiter Gestaltungsspielraum sowie in Bezug auf die tatsächlichen Gegebenheiten und betroffenen Interessen eine Einschätzungsprärogative zu. Sie sind nicht verpflichtet, die sachgerechteste oder zweckmäßigste Regelung zu finden ( - Rn. 41). Legen sie die Voraussetzungen für die Zahlung einer Zulage fest, steht es ihnen grundsätzlich frei, typisierend zu bestimmen, welche Erschwernisse sie in welcher Weise ausgleichen wollen ( - Rn. 22; - 10 AZR 214/96 - zu II 3 der Gründe).
17b) Diesen Gestaltungsspielraum haben die Tarifvertragsparteien vorliegend nicht überschritten.
18aa) Die Zulagen nach der Protokollerklärung Nr. 1 Abs. 1 und damit die Pflegezulage nach § 16 Abs. 1 ERTV sind Erschwerniszulagen, die die besondere Belastung durch die Pflege bestimmter Patientengruppen ausgleichen sollen ( - Rn. 23). Die Geriatriezulage dient dem Ausgleich der besonderen Erschwernisse, die bei der Pflege alter und kranker Menschen in geriatrischen Abteilungen und Stationen entstehen. Durch altersbedingte Funktionseinschränkungen kann eine Erkrankung zu akuter Gefährdung führen. Es besteht eine Neigung zur Multimorbidität, aus der sich ein besonderer rehabilitativer, somatopsychischer und psychosozialer Handlungsbedarf ergibt. Diese Behandlungsbedürftigkeit trifft zusammen mit den besonderen Bedingungen, die diese Erkrankungen bei alten Menschen schaffen ( - Rn. 39, BAGE 122, 22).
19bb) Die Tarifvertragsparteien haben offenkundig unter Anlegung eines typisierenden Vergleichsmaßstabs eine vergleichbare Belastung der Pflegekräfte bei ambulanter Grund- und Behandlungspflege an Patienten mit geriatrischer Erkrankungssymptomatik verneint. Die Klägerin hat nicht aufgezeigt, dass und warum diese Einschätzung fehlerhaft sein soll.
20cc) Soweit die Klägerin erstmals in der Revisionsbegründung behauptet, es sei nicht nachvollziehbar, warum die Pflege von gelähmten oder an multipler Sklerose erkrankten Patienten komplizierter oder anstrengender sein solle als die Pflege von geriatrisch pflegebedürftigen Personen, belegt sie diese Behauptung nicht näher. Die Erschwernis bei der Pflege von gelähmten oder an multipler Sklerose erkrankten Patienten ergibt sich daraus, dass diese Patienten körperlich stark eingeschränkt sind und bei der Pflege deshalb nicht oder schlecht aktiv mithelfen können ( - Rn. 39, BAGE 122, 22). Es liegt auf der Hand, dass die ambulante Pflege von gelähmten oder an multipler Sklerose leidenden Patienten wegen der daraus entstehenden besonderen körperlichen Belastung, die anders als bei der Pflege in Krankenhäusern und Heimen oft noch nicht einmal durch die Unterstützung von Kollegen gemindert werden kann, eine Zulage auch bei ambulantem Erbringen der Pflegeleistung rechtfertigt.
215. Gegen die Ausführungen des Landesarbeitsgerichts, eine Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes im Arbeitsrecht liege nicht vor, erhebt die Revision keine Rügen. Eine solche Verletzung ist auch nicht erkennbar (zu den Voraussetzungen einer Verletzung dieses Grundsatzes vgl. - Rn. 48).
226. Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BAG:2015:171215.U.6AZR768.14.0
Fundstelle(n):
BB 2016 S. 500 Nr. 8
FAAAF-66540