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Online-Nachricht - Freitag, 24.07.2015

Abgabenordnung | Vernichtung von Akten ist keine Entschuldigung (FG)

Das Finanzgericht Rheinland-Pfalz hat entschieden, dass sich ein Finanzamt (u.a.) nicht darauf berufen kann, archivierte Unterlagen seien bereits vernichtet worden ().

Hintergrund: Steuerbescheide sind aufzuheben oder zu ändern, soweit  Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekannt werden, die zu einer höheren (§ 173 Abs. 1 Nr. 1 AO). Hat der Steuerpflichtige die ihm obliegenden Mitwirkungspflichten in zumutbarer Weise erfüllt, kommt eine Änderung nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO nicht in Betracht, wenn die spätere Kenntnis der Tatsache oder des Beweismittels auf einer Verletzung der dem Finanzamt obliegenden Ermittlungspflicht beruht (s. AEAO zu § 173 Nr. 4.1).
Sachverhalt: Die Klägerin ist Rentnerin und wohnte bis 2007 in Nordrhein-Westfalen. Das dort zuständige Finanzamt hatte eine ihrer Renten (90.000 € pro Jahr) nach Prüfung der dazu vorgelegten Unterlagen alljährlich nur mit dem Ertragsanteil (17%) der Besteuerung unterworfen. Nach dem Umzug der Klägerin nach Rheinland-Pfalz übernahm das zuständig gewordene Finanzamt (= Beklagter) ungeprüft diese Besteuerung der Klägerin und berücksichtigte die Rente ebenfalls nur mit dem Ertragsanteil (17%). Im Jahr 2012 erfuhr das Finanzamt im Wege einer sog. Kontrollmitteilung, dass die Rentenzahlungen vom Sohn der Klägerin stammten, dem die Klägerin dafür im Jahr 1993 ihr Vermögen übertragen hatte. Daraufhin änderte das Finanzamt nachträglich die bereits bestandskräftigen Steuerbescheide für die Jahre 2007, 2008, 2009 und 2010, weil es der Auffassung war, dass diese Art von Rente in voller Höhe hätte besteuert werden müssen. Die geforderte Steuernachzahlung betrug insgesamt (für alle 4 Jahre) rund 140.000 €. Die dagegen erhobene Klage der Klägerin hatte Erfolg.
Hierzu führte das Finanzgericht weiter aus:

  • Im Streitfall muss nicht entschieden werden, ob die Rente tatsächlich in voller Höhe zu besteuern ist. Im Ergebnis kommt es darauf nicht an, denn das beklagte Finanzamt ist schon nicht befugt gewesen, die bereits bestandskräftigen Steuerbescheide zu ändern.

  • Bereits vor Erlass dieser Bescheide hätte das Finanzamt die Rechtslage prüfen und z.B. beim früher zuständigen Finanzamt in Nordrhein-Westfalen die seinerzeit dazu vorgelegten Unterlagen - vor allem den Übertragungsvertrag - anfordern müssen.

  • Selbst wenn dieser Vertrag dort inzwischen archiviert oder mit Altakten vernichtet worden ist, kann sich das beklagte Finanzamt nicht auf Unkenntnis berufen. Denn in diesem Fall hätte der Vertrag erneut von der Klägerin angefordert werden müssen.

  • Die Klägerin hingegen trifft kein Versäumnis, weil sie die erhaltenen Zahlungen in gleicher Weise wie in den Vorjahren in ihren Einkommensteuererklärungen angegeben hatte.

  • Die Revision zum Bundesfinanzhof (BFH) hat das FG nicht zugelassen.

Anmerkung: Werden – wie im vorliegenden Fall – bestandskräftige Bescheide wegen (angeblich) neuer Tatsachen vom Finanzamt geändert, ist häufig streitig, ob das Finanzamt dazu verfahrensrechtlich überhaupt befugt ist. Dies ist z.B. dann nicht der Fall, wenn das Finanzamt seiner Verpflichtung, vor Erlass eines Bescheides den Sachverhalt von Amts wegen ausreichend zu ermitteln, nicht bzw. nicht genügend nachgekommen ist. Zu dieser Ermittlungspflicht gehört es auch, archivierte Akten beizuziehen, wenn dazu Veranlassung besteht. Eine solche Veranlassung war im zu entscheidenden Fall aus folgendem Grund gegeben:

  • Bei dem Bezug von Rente handelt es sich um ein sog. „Dauersachverhalt“, d.h. um einen Sachverhalt, der nicht nur in einem einzigen Jahr steuerlich relevant ist. Dennoch ist das Finanzamt berechtigt bzw. verpflichtet, in jedem neuen Veranlagungszeitraum den Sachverhalt erneut rechtlich zu prüfen.

  • Stellt sich dabei heraus, dass das Finanzamt bisher eine unzutreffende Rechtsauffassung vertreten hat, darf bzw. muss das Finanzamt die neue Rechtsauffassung umsetzen und die Besteuerung für die Zukunft entsprechend ändern.

  • Das Finanzamt hätte daher nicht einfach die Rechtsauffassung des zuvor zuständigen Finanzamtes übernehmen dürfen, sondern hätte selbst unter Beiziehung der dafür erforderlichen Unterlagen eine rechtliche Würdigung vornehmen müssen.

Hinweis: Die Entscheidung des FG hat über den entschiedenen Einzelfall hinaus für alle „Dauersachverhalte“ Bedeutung, d.h. auch für andere Einkunftsarten (Arbeitslohn, Vermietungseinkünfte, Kapitaleinkünfte usw.) oder andere Steuerarten (z.B. Gewerbe- oder Umsatzsteuer).
Quellen: NWB Datenbank und FG Rheinland-Pfalz, Pressemitteilung v.

Fundstelle(n):
XAAAF-47379