Mindestentgelt in der Pflegebranche
Leitsatz
Das Mindestentgelt nach § 2 PflegeArbbV ist nicht nur für Vollarbeit, sondern auch für Arbeitsbereitschaft und Bereitschaftsdienst zu zahlen.
Gesetze: § 2 PflegeArbbV, § 3 Abs 1 S 1 PflegeArbbV, § 5 Nr 1 AEntG 2009, § 11 Abs 1 AEntG 2009, § 2 Abs 1 ArbZG, § 4 ArbZG, § 7 Abs 1 ArbZG, § 134 BGB, § 611 Abs 1 BGB
Instanzenzug: Az: 6 Ca 8962/10 Urteilvorgehend Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg Az: 4 Sa 48/12 Urteil
Tatbestand
1Die Parteien streiten über Differenzvergütung und dabei insbesondere darüber, ob das Mindestentgelt nach § 2 der Verordnung über zwingende Arbeitsbedingungen für die Pflegebranche (Pflegearbeitsbedingungenverordnung - PflegeArbbV) vom (BAnz. 2010 Nr. 110 S. 2571) auch für Arbeitsbereitschaft und Bereitschaftsdienst zu zahlen ist.
2Die 1954 geborene Klägerin war vom 1. Juli bis zum bei der Beklagten, die einen privaten Pflegedienst betreibt, als Pflegehelferin beschäftigt. Arbeitsort war das Haus der Katholischen Schwesternschaft V e.V. in S.
3Dem Arbeitsverhältnis lag ein Arbeitsvertrag vom zugrunde, in dem es ua. heißt:
4Die Klägerin leistete im Streitzeitraum August bis Oktober 2010 Rund- um-die-Uhr-Dienste vom 6. August, 21:00 Uhr, bis zum 20. August, 12:00 Uhr, vom 2. September, 21:00 Uhr, bis zum 16. September, 12:00 Uhr, und vom 30. September, 21:00 Uhr, bis zum 15. Oktober, 12:00 Uhr. Dabei bewohnte sie im Haus der Schwesternschaft ein Zimmer in unmittelbarer Nähe zu den zu betreuenden Schwestern. Von diesen leiden Sr. E und Sr. U an Demenz und sind an den Rollstuhl gebunden. Sr. C kam am ins Krankenhaus und verstarb dort. Neben Pflegeleistungen oblagen der Klägerin auch Tätigkeiten im Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung der Schwestern (wie zB Zubereiten von Frühstück und Abendessen, Geschirr spülen, Wechseln und Waschen von Wäsche). Täglich von 11:45 bis 12:45 Uhr nahmen die Pflegebedürftigen am gemeinsamen Mittagessen der Schwesternschaft, von 17:50 bis 18:50 Uhr am Gottesdienst teil.
5Mit der am beim Arbeitsgericht eingereichten Klage hat die Klägerin ua. geltend gemacht, während der Rund-um-die-Uhr-Dienste durchgehend gearbeitet zu haben. Das Mindestentgelt nach § 2 PflegeArbbV sei zudem nicht nur für Vollarbeit, sondern auch für Bereitschaftsdienst zu zahlen.
6Die Klägerin hat zuletzt - soweit die Klage in die Revisionsinstanz gelangt ist - sinngemäß beantragt,
7Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt und geltend gemacht, die Klägerin habe nicht rund um die Uhr gearbeitet, sondern arbeitstäglich mindestens vier Stunden Pause nehmen können. Sie habe in der Zeit von 21:00 bis 06:30 Uhr allenfalls Rufbereitschaft gehabt und nachts schlafen können. Zudem sei Bereitschaftsdienst nicht mit dem Mindestentgelt nach § 2 PflegeArbbV zu entlohnen.
8Das Arbeitsgericht hat die Klage - soweit sie in die Revisionsinstanz gelangt ist - abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat auf die Berufung der Klägerin der Klage auf der Basis von 22 mit dem Mindestentgelt nach § 2 Abs. 1 PflegeArbbV zu vergütenden Stunden je Arbeitstag im Rund-um-die-Uhr-Dienst stattgegeben. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision begehrt die Beklagte die Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils.
Gründe
9Die Revision der Beklagten ist unbegründet. Das Landesarbeitsgericht hat die Beklagte zu Recht zur weiteren Vergütungszahlung nebst Zinsen verurteilt. Die Klage ist in dem noch anhängigen Umfang begründet. Das folgt aus § 2 Abs. 1 PflegeArbbV.
10I. Streitgegenständlich ist in der Revisionsinstanz aufgrund der beschränkten Revisionseinlegung der Beklagten und mangels Anschlussrevision der Klägerin die Differenzvergütung, die sich aus der Differenz zwischen der arbeitsvertraglich vereinbarten Vergütung und dem Mindestentgelt von - im Streitzeitraum - 8,50 Euro je Stunde nach § 2 Abs. 1 PflegeArbbV ergeben kann. Das sind auf der Basis von 22 Arbeitsstunden je Arbeitstag - rechnerisch unstreitig - für den Monat August 2010 670,53 Euro brutto, für den Monat September 2010 696,03 Euro brutto und für den Monat Oktober 2010 832,03 Euro brutto.
11II. Die Klägerin hat Anspruch auf das Mindestentgelt nach § 2 Abs. 1 PflegeArbbV nicht nur für Vollarbeit, sondern auch für Arbeitsbereitschaft und Bereitschaftsdienst. Das ergibt die Auslegung der Norm, die die arbeitsvertragliche Vergütungsabrede in der Entgelthöhe korrigiert.
121. Die PflegeArbbV ist wirksam (vgl. - Rn. 17 ff.; zur Verfassungsmäßigkeit entsprechender Verordnungen siehe auch - Rn. 17 ff.). Das stellt die Beklagte nicht in Frage. Für eine (erneute) Prüfung der Wirksamkeit der PflegeArbbV besteht von Amts wegen kein Anlass (vgl. - Rn. 21 f.).
132. Der Geltungsbereich der PflegeArbbV ist eröffnet. Das steht zwischen den Parteien außer Streit. Das Landesarbeitsgericht hat zudem festgestellt, dass die Beklagte einen Pflegebetrieb iSv. § 1 Abs. 2 Satz 1 und Satz 2 PflegeArbbV betreibt und die Klägerin mit der arbeitsvertraglich vereinbarten Pflege und Betreuung der Schwestern E, U und C überwiegend pflegerische Tätigkeiten in der Grundpflege nach § 14 Abs. 4 Nr. 1 bis Nr. 3 SGB XI erbrachte, § 1 Abs. 3 Satz 1 PflegeArbbV.
143. Das Mindestentgelt nach § 2 PflegeArbbV ist „je Stunde“ festgelegt. Damit knüpft die Norm - entsprechend den Gepflogenheiten der Tarifpartner und auch vieler Arbeitsvertragsparteien, als Entgelt einen bestimmten Euro-Betrag in Relation zu einer bestimmten Zeiteinheit (zumeist Stunde oder Monat, bisweilen auch Tag, Woche, Jahr) bzw. dem Umfang der in einer bestimmten Zeiteinheit zu leistenden Arbeit festzusetzen - an die „vergütungspflichtige Arbeitszeit“ an. Dieser Begriff hat zwar insofern eine gewisse Unschärfe, als die Vergütungspflicht des Arbeitgebers nach § 611 Abs. 1 BGB allein für die „Leistung der versprochenen Dienste“ besteht und damit unabhängig ist von der arbeitszeitrechtlichen Einordnung der Zeitspanne, während derer der Arbeitnehmer die geschuldete Arbeitsleistung erbringt ( - Rn. 15 mwN, BAGE 143, 107). Er hat sich aber zur Unterscheidung von Arbeitszeit im arbeitsschutzrechtlichen Sinne, zeitlichem Umfang der zu vergütenden Arbeit und Arbeitszeit im Sinne der Mitbestimmungsrechte des Betriebsverfassungsgesetzes eingebürgert (vgl. Wank RdA 2014, 285). Die Anknüpfung des Mindestlohns an die vergütungspflichtige Arbeitszeit bestätigt § 3 Abs. 1 Satz 1 PflegeArbbV, der die Fälligkeit des Mindestentgelts „für die vertraglich vereinbarte Arbeitszeit“ regelt.
154. Damit ist das Mindestentgelt in der Pflegebranche zu zahlen für die vertraglich vereinbarte Arbeitszeit bzw. - präziser - für alle Stunden, während derer der Arbeitnehmer innerhalb der vereinbarten Arbeitszeit die gemäß § 611 Abs. 1 BGB geschuldete Arbeit erbringt oder, was im Streitfall nicht erheblich ist, aufgrund gesetzlicher Entgeltfortzahlungstatbestände von der Pflicht zur Erbringung der Arbeitsleistung befreit ist. § 2 PflegeArbbV stellt weder auf die Art der Tätigkeit (§ 11 Abs. 1 iVm. § 5 Nr. 1 AEntG), noch auf die Intensität der Arbeit (Vollarbeit, Arbeitsbereitschaft, Bereitschaftsdienst) ab. Ist der Anwendungsbereich der PflegeArbbV eröffnet, weil der Arbeitnehmer in einem Pflegebetrieb überwiegend pflegerische Tätigkeiten in der Grundpflege nach § 14 Abs. 4 Nr. 1 bis Nr. 3 SGB XI zu erbringen hat, muss deshalb das Mindestentgelt auch für die nicht pflegerischen (Zusammenhangs-)Tätigkeiten (wie zB im Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung nach § 14 Abs. 4 Nr. 4 SGB XI) und für alle Formen von Arbeit gezahlt werden.
16Arbeitsbereitschaft und Bereitschaftsdienst sind nicht nur arbeitsschutzrechtlich Arbeitszeit, § 2 Abs. 1 Satz 1, § 7 Abs. 1 Nr. 1a ArbZG (zur gesetzeshistorischen Entwicklung aufgrund von Vorgaben des Unionsrechts, vgl. - Rn. 42, BAGE 119, 41), sondern vergütungspflichtige Arbeit iSv. § 611 Abs. 1 BGB. Denn dazu zählt nicht nur jede Tätigkeit, die als solche der Befriedigung eines fremden Bedürfnisses dient, sondern auch eine vom Arbeitgeber veranlasste Untätigkeit, während derer der Arbeitnehmer am Arbeitsplatz oder einer vom Arbeitgeber bestimmten Stelle anwesend sein muss und nicht frei über die Nutzung des Zeitraums bestimmen kann, er also weder eine Pause (§ 4 ArbZG) noch Freizeit hat ( - Rn. 21 mwN, BAGE 137, 366). Diese Voraussetzung ist bei der Arbeitsbereitschaft, die gemeinhin umschrieben wird als Zeit wacher Aufmerksamkeit im Zustand der Entspannung (vgl. ErfK/Wank 15. Aufl. § 2 ArbZG Rn. 21), und dem Bereitschaftsdienst gegeben. In beiden Fällen muss sich der Arbeitnehmer an einem vom Arbeitgeber bestimmten Ort (innerhalb oder außerhalb des Betriebs) bereithalten, um im Bedarfsfalle die Arbeit aufzunehmen. Bei der Arbeitsbereitschaft hat der Arbeitnehmer von sich aus tätig zu werden, beim Bereitschaftsdienst „auf Anforderung“ ( - Rn. 19; vgl. zum Ganzen auch: Baeck/Deutsch 3. Aufl. § 2 ArbZG Rn. 33 ff.; Schliemann 2. Aufl. § 2 ArbZG Rn. 16 ff., jeweils mwN). Zwar kann für diese Sonderformen der Arbeit eine gesonderte Vergütungsregelung getroffen und ein geringeres Entgelt als für Vollarbeit vorgesehen werden ( - Rn. 32, BAGE 137, 366). Von dieser Möglichkeit hat aber der Verordnungsgeber im Bereich der Pflege weder in § 2 noch in den übrigen Bestimmungen der PflegeArbbV Gebrauch gemacht. Deshalb ist es unerheblich, ob arbeitsvertraglich für den Bereitschaftsdienst eine geringere Vergütung vereinbart werden sollte. In einer solchen Auslegung wäre der - sprachlich gänzlich missglückte - § 3 Nr. 4 Arbeitsvertrag wegen Verstoßes gegen § 2 PflegeArbbV unwirksam, § 134 BGB.
175. Danach schuldet die Beklagte jedenfalls für die vom Landesarbeitsgericht angesetzten 22 Stunden pro Arbeitstag das Mindestentgelt nach § 2 Abs. 1 PflegeArbbV. Denn die Klägerin musste sich, so sie keine Vollarbeit leistete, auch nach dem Vorbringen der Beklagten rund um die Uhr bei oder jedenfalls in der Nähe der zu pflegenden Schwestern aufhalten, um bei Bedarf tätig werden zu können. Sie durfte die in § 1 Arbeitsvertrag bezeichnete Pflegestelle nicht verlassen. Ob die Klägerin in der Zeit von 11:45 bis 12:45 Uhr und 17:50 bis 18:50 Uhr tatsächlich Pausen im Rechtssinne hatte, braucht der Senat nicht zu entscheiden. Die diesbezügliche Wertung des Landesarbeitsgerichts hat die Klägerin nicht angegriffen.
18Soweit die Beklagte die Zeit von 21:00 bis 06:30 Uhr als Rufbereitschaft bewertet wissen will, verkennt sie, dass eine solche nicht schon dann vorliegt, wenn die Arbeit nur „auf Zuruf“ (hier: der Pflegebedürftigen) aufgenommen werden muss. Rufbereitschaft setzt - in Abgrenzung zum Bereitschaftsdienst - vielmehr voraus, dass der Arbeitnehmer nicht gezwungen ist, sich am Arbeitsplatz oder einer anderen vom Arbeitgeber bestimmten Stelle aufzuhalten, sondern - unter freier Wahl des Aufenthaltsorts - lediglich jederzeit erreichbar sein muss, um auf Abruf des Arbeitgebers die Arbeit alsbald aufnehmen zu können ( - [Simap] Rn. 50, Slg. 2000, I-07963; - Rn. 41, BAGE 119, 41; Baeck/Deutsch 3. Aufl. § 2 ArbZG Rn. 48 ff.; ErfK/Wank 15. Aufl. § 2 ArbZG Rn. 30; Schliemann 2. Aufl. § 2 ArbZG Rn. 28 ff., jeweils mwN). Dass die Klägerin berechtigt gewesen wäre, des Nachts die in § 1 Arbeitsvertrag genannte Pflegestelle zu verlassen und eigenen Interessen nachzugehen, hat die Beklagte nicht behauptet. Ob die Klägerin, wie die Beklagte vorbringt, nachts (durch-)schlafen konnte, ist für die Einordnung als Bereitschaftsdienst ohne Belang.
19Die Rüge der Revision, das Landesarbeitsgericht habe die Zeit von 13:00 bis 15:00 Uhr („Mittagsruhe“ der zu pflegenden Schwestern) unter Übergehen von - in der Revisionsbegründung nicht näher konkretisierten - Beweisangeboten zu Unrecht nicht als Pause bewertet, greift nicht durch. Nach § 4 ArbZG sind - nicht zur Arbeitszeit zählende und nicht nach § 611 Abs. 1 BGB zu vergütende - Pausen im Voraus feststehende Unterbrechungen der Arbeit, in denen der Arbeitnehmer weder Arbeit zu leisten noch sich dafür bereitzuhalten hat und frei über die Nutzung des Zeitraums bestimmen kann ( - zu I 2 der Gründe; - 5 AZR 157/09 - Rn. 10; Baeck/Deutsch 3. Aufl. § 4 ArbZG Rn. 9; ErfK/Wank 15. Aufl. § 4 ArbZG Rn. 1; Schliemann 2. Aufl. § 4 ArbZG Rn. 6, jeweils mwN). Unstreitig musste die Klägerin aber auch während der „Mittagsruhe“ an der Pflegestelle anwesend sein, um bei Bedarf jederzeit die Arbeit aufnehmen zu können.
206. Die Anzahl der im Streitzeitraum geleisteten Dienste ist unstreitig. Auch im Übrigen hat die Revision die vom Landesarbeitsgericht festgestellte Höhe der Differenzvergütung in rechnerischer Hinsicht nicht angegriffen.
21III. Zinsen auf die Differenzvergütung stehen der Klägerin jeweils ab dem 16. des Folgemonats zu, § 288 Abs. 1, § 286 Abs. 2 BGB iVm. § 3 Abs. 1 Satz 1 PflegeArbbV.
22IV. Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
Fundstelle(n):
BB 2014 S. 2996 Nr. 49
BB 2015 S. 371 Nr. 7
BB 2015 S. 510 Nr. 9
DB 2015 S. 253 Nr. 5
DB 2015 S. 6 Nr. 4
DStR 2014 S. 12 Nr. 48
DStR 2015 S. 14 Nr. 11
WAAAE-83569