BGH Beschluss v. - VI ZR 176/13

Berufung im Arzthaftungsprozess: Gehörsverletzung bei Zurückweisung eines bereits in der ersten Instanz erhobenen Vortrags als verspätet

Gesetze: Art 103 Abs 1 GG, § 282 Abs 1 ZPO, § 296 Abs 1 ZPO, § 531 Abs 1 ZPO, § 531 Abs 2 ZPO

Instanzenzug: Az: 24 U 3413/12vorgehend LG Augsburg Az: 73 O 1230/11

Gründe

I.

1Der Kläger nimmt den Beklagten, soweit im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren noch von Interesse, wegen fehlerhafter ärztlicher Behandlung auf Ersatz materiellen und immateriellen Schadens in Anspruch. Der am geborene Kläger hatte sich bei einem Sturz am einen Bänderriss im Knie in Form einer "Unhappy-Triad-Verletzung" im rechten Knie zugezogen. Am wurde eine Arthroskopie mit arthroskopischer Innenmeniskus-Hinterhornresektion, Außenmeniskus-Totalresektion, VKB-Stumpfresektion, Spülung und Drainageeinlage durchgeführt. Am setzte der beklagte Facharzt für orthopädische Chirurgie dem Kläger eine teilzementierte Doppelschlittenprothese ein. Die Operation als solche erfolgte lege artis. Wegen Restschmerzen und eines Instabilitätsgefühls im rechten Knie wurde am in einem anderen Krankenhaus ein Prothesenwechsel auf eine teilzementierte, stehend gekoppelte Doppelschlittenprothese mit Patellaersatz vorgenommen. Der Kläger macht geltend, eine Prothese sei nicht indiziert gewesen. Wegen der Instabilität seines Knies habe vielmehr eine Bandplastik durchgeführt werden müssen. In der mündlichen Verhandlung vom hat der Kläger zusätzlich geltend gemacht, er habe jedenfalls statt mit einer ungekoppelten mit einer gekoppelten oder teilgekoppelten Prothese versorgt werden müssen, da nur mit einer solchen die erforderliche Stabilität des Knies erreicht werden könne. Das Landgericht hat die Klage nach Einholung eines Sachverständigengutachtens und nach Anhörung des Gutachters in der mündlichen Verhandlung vom abgewiesen. Das Berufungsgericht hat die hiergegen gerichtete Berufung des Klägers durch Beschluss gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückgewiesen. Hiergegen wendet sich der Kläger mit der Nichtzulassungsbeschwerde.

II.

2Die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers hat Erfolg und führt gemäß § 544 Abs. 7 ZPO zur Aufhebung des angegriffenen Beschlusses und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht. Das Berufungsgericht hat den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG in entscheidungserheblicher Weise verletzt.

3a) Die Nichtzulassungsbeschwerde beanstandet zu Recht, dass das Berufungsgericht den Vortrag des Klägers, ihm habe nach erfolglosem Versuch einer Rekonstruktion des gerissenen Bandes statt einer Doppelschlittenprothese eine gekoppelte/teilgekoppelte Prothese eingesetzt werden müssen, unter Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG gemäß § 531 Abs. 2 ZPO zurückgewiesen hat. Das Berufungsgericht hat den Anwendungsbereich dieser Bestimmung verkannt. § 531 Abs. 2 ZPO regelt allein die Frage, unter welchen Voraussetzungen neue Angriffs- und Verteidigungsmittel in der Berufungsinstanz zuzulassen sind. Das vom Berufungsgericht zurückgewiesene Vorbringen des Klägers war aber nicht neu im Sinne dieser Bestimmung. Neu ist ein Angriffs- oder Verteidigungsmittel, wenn es bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung erster Instanz nicht vorgebracht worden und daher im erstinstanzlichen Urteil unberücksichtigt geblieben ist (vgl. , NJW 2004, 2382 Rn. 10). Gleiches gilt für Vorbringen, das einen sehr allgemein gehaltenen bzw. nur angedeuteten Vortrag im ersten Rechtszug erstmals substantiiert (vgl. Senatsurteil vom - VI ZR 199/03, BGHZ 159, 245 Rn. 21 mwN). Dies trifft auf den vom Berufungsgericht nicht zugelassenen Vortrag des Klägers, bei ihm habe nach erfolglosem Versuch einer Rekonstruktion des gerissenen Bandes anstelle einer Doppelschlittenprothese eine gekoppelte (teilgekoppelte) Prothese eingesetzt werden müssen, nicht zu. Diesen Vortrag hat der Kläger nämlich ausweislich des Tatbestands des landgerichtlichen Urteils vor Schluss der mündlichen Verhandlung erster Instanz gebracht. Das Landgericht hat das Vorbringen nicht als verspätet zurückgewiesen, sondern den Sachverständigen dazu befragt und sich mit dem Vorbringen in seinem Urteil sachlich auseinandergesetzt. Bei dieser Sachlage war für eine Zurückweisung des Vortrags des Klägers auf der Grundlage des § 531 Abs. 2 ZPO kein Raum.

4Rechtsfehlerhaft hat das Berufungsgericht die Zurückweisung des Vorbringens in seinem Zurückweisungsbeschluss ergänzend auch auf die Bestimmung des § 296 Abs. 1, § 282 Abs. 1 ZPO gestützt und dem Kläger zum Vorwurf gemacht, den von ihm angenommenen ärztlichen Fehler erstinstanzlich nicht zu einem früheren Zeitpunkt geltend gemacht zu haben. Das Berufungsgericht hat dabei verkannt, dass das im Rechtszug übergeordnete Gericht eine von der Vorinstanz unterlassene Zurückweisung nicht nachholen darf. § 531 Abs. 1 ZPO erlaubt es nach seinem klaren Wortlaut dem Berufungsgericht lediglich zu überprüfen, ob eine Zurückweisung von Vorbringen in erster Instanz zu Recht vorgenommen worden ist. Die Entscheidung darüber, ob im ersten Rechtszug vorgetragene Angriffs- und Verteidigungsmittel als verspätet zurückgewiesen werden können, obliegt allein dem Richter dieses Rechtszuges und kann deswegen nicht vom Rechtsmittelgericht nachträglich vorgenommen werden (vgl. , BGHZ 166, 227 Rn. 12, 16 mwN).

5Soweit das Berufungsgericht dem Kläger vorwirft, er habe die von ihm erst in der mündlichen Verhandlung vorgebrachte Operationsalternative der Einbringung einer nicht/teilgekoppelten Prothese statt einer ungekoppelten bereits in der Klageschrift oder spätestens nach Zugang des Sachverständigengutachtens geltend machen müssen, berücksichtigt es darüber hinaus die ständige Senatsrechtsprechung nicht, wonach an die Informations- und Substantiierungspflicht der Partei im Arzthaftungsprozess nur maßvolle Anforderungen gestellt werden dürfen. Vom Patienten kann keine genaue Kenntnis der medizinischen Vorgänge erwartet und gefordert werden, weshalb er sich auf den Vortrag beschränken darf, der die Vermutung eines fehlerhaften Verhaltens des Arztes aufgrund der Folgen für den Patienten gestattet. Die Partei ist insbesondere nicht verpflichtet, sich zur ordnungsgemäßen Prozessführung medizinisches Fachwissen anzueignen (vgl. Senatsurteil vom - VI ZR 199/03, BGHZ 159, 245; vom - VI ZR 203/02, Rn. 7).

6b) Die Gehörsverletzung ist auch entscheidungserheblich. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Berufungsgericht bei der gebotenen Berücksichtigung des Vorbringens des Klägers zu dem Ergebnis gekommen wäre, dass vor der Implantation einer Prothese eine Rekonstruktion des gerissenen Bandes geboten oder jedenfalls - statt der Einbringung einer ungekoppelten Prothese - von vornherein die Implantation einer gekoppelten/teilgekoppelten Prothese indiziert war.

7Der angefochtene Beschluss beruht auch nicht auf zwei selbständig tragenden Begründungen, für die jeweils ein Zulassungsgrund hätte dargelegt werden müssen (vgl. dazu , NJW-RR 2006, 142 zu § 575 ZPO; Musielak/Ball, ZPO, 11. Aufl., § 544 Rn. 17 a.E.). Zwar hat das Berufungsgericht ergänzend ausgeführt, dass auch der nach Erlass des erstinstanzlichen Urteils von der Klägerin beauftragte Sachverständige Prof. Dr. W. die prothetische Versorgung lediglich als zweite Wahl angesehen habe, so dass es erneut auf die Frage einer Bandrekonstruktion oder die vom Beklagten eingesetzte Prothetik hinauslaufe; dazu habe sich der Gerichtssachverständige aber geäußert. Dieser Zusatz ist aber offensichtlich nicht geeignet, die Zurückweisung der Berufung zu tragen. Das Berufungsgericht hat den gesamten, durch das Privatgutachten des Prof. Dr. W. belegten Vortrag des Klägers, ihm habe nach erfolglosem Versuch einer Rekonstruktion des gerissenen Bandes von vornherein statt einer Doppelschlittenprothese eine gekoppelte/teilgekoppelte Prothese eingesetzt werden müssen, im Berufungsrechtszug nicht zugelassen. Es hat den Vortrag des Klägers damit sowohl insoweit nicht zugelassen, als dieser seinen bereits erstinstanzlich gebrachten Vorwurf vertieft hat, es habe keine Indikation für die sofortige Implantation einer Prothese bestanden, vielmehr habe erst eine Bandrekonstruktion vorgenommen werden müssen, als auch soweit er vorgetragen hatte, aufgrund der Instabilität seines Kniegelenkes sei jedenfalls von vornherein allein eine gekoppelte oder teilgekoppelte, nicht hingegen eine ungekoppelte Prothese indiziert gewesen. Die diesbezüglichen Ausführungen von Prof. Dr. W. standen in Widerspruch zu den Angaben des gerichtlichen Sachverständigen. Diese - zwischen der in der Berufungsinstanz überreichten Stellungnahme des Privatsachverständigen und den Angaben des erstinstanzlich tätigen gerichtlichen Sachverständigen - bestehenden Widersprüche konnte das Berufungsgericht offensichtlich nicht durch den bloßen Hinweis auflösen, zu der Frage einer Bandrekonstruktion und der vom Beklagten eingesetzten Prothetik habe sich der Gerichtssachverständige erstinstanzlich bereits geäußert (vgl. Senatsbeschluss vom - VI ZB 22/13, NJW-RR 2014, 760 Rn. 12 mwN).

Galke                   Wellner                        Diederichsen

             Pauge                    von Pentz

Fundstelle(n):
IAAAE-71421