Instanzenzug:
Gründe
11. Der Kläger war wegen Beschwerden im Mundbereich in ärztlicher Behandlung. Die Beklagte ist die Ehefrau und Erbin des im Laufe des Rechtsstreits verstorbenen früheren Beklagten Prof. Dr. S. (im Folgenden: der Beklagte), der als Oberarzt an einem pathologischen Institut der Universität F. tätig war.
2Dort untersuchte er am 20. Mai 1987 und am 4. Februar 1988 jeweils eine aus der Zunge des Klägers entnommene Gewebeprobe. In den vom zuständigen Abteilungsleiter unterzeichneten Gutachten wurde ausgeführt, die Proben zeigten ein verbreitertes Plattenepithel "ohne Zell- oder Kernatypien". Es wurde eine unspezifische chronische Entzündung mit reaktiver Epithelhyperplasie an der Oberfläche diagnostiziert. In beiden Gutachten heißt es abschließend: "Kein Anhalt für Malignität." Nach weiterer Behandlung der fortbestehenden Beschwerden wurde beim Kläger am 21. August 1989 ein mäßig differenziertes verhornendes Plattenepithelkarzinom diagnostiziert. Der Kläger wurde vielfach operiert, wobei unter anderem große Teile der Zunge und des rechten Unterkiefers entfernt wurden. Die Operationen sowie eine Chemo- und Strahlentherapie verursachten Muskel- und Nervenschäden. Auf Grund dieser Schäden leidet der mittlerweile erwerbsunfähige und schwer pflegebedürftige Kläger permanent an starken Schmerzen, die auf Grund einer Vorschädigung der Leber nicht adäquat behandelt werden können. Der Kläger macht geltend, die von dem Beklagten begutachteten Gewebeproben hätten bereits ein im Frühstadium befindliches Karzinom, zumindest aber einen entsprechenden Verdacht erkennen lassen. Bei richtiger Diagnose hätte der Tumor noch im Frühstadium und ohne größere Eingriffe entfernt werden können.
3In einem Vorprozess nahm der Kläger zunächst den Abteilungsleiter auf Schadensersatz in Anspruch. Dieser Klage hat das Oberlandesgericht im Berufungsverfahren auf Grund dreier Gutachten der Sachverständigen Prof. Dr. Dr. D., Prof. Dr. L. und Prof. Dr. Dr. Sch. stattgegeben. Die dagegen gerichtete Revision hat der Senat mit Beschluss vom 7. Dezember 1999 (VI ZR 174/99) nicht angenommen.
4Die vorliegende weitere Schadensersatzklage hat das Landgericht nach ergänzender Vernehmung der Sachverständigen L. und Sch. abgewiesen. Das Oberlandesgericht hat die Berufung des Klägers ohne weitere Beweisaufnahme zurückgewiesen. Die Revision hat es nicht zugelassen. Dagegen wendet sich der Kläger mit der Nichtzulassungsbeschwerde.
52. Die Nichtzulassungsbeschwerde hat Erfolg und führt gemäß § 544 Abs. 7 ZPO zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht. Das Berufungsurteil hält der revisionsrechtlichen Nachprüfung nicht stand und verletzt den Kläger in seinem Anspruch auf rechtliches Gehör.
6a) Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts hat der Beklagte die beiden Gewebeproben nicht zutreffend befundet, weil er vorgefundene Anomalien nicht als krebsverdächtig erkannt hat. Diese Feststellung steht in Einklang mit den beiden pathologischen Gutachten der Sachverständigen D. und L., die die Schnittpräparate jeweils untersucht haben. Nach dem Gutachten des Sachverständigen D. zeigen beide Proben ein vom Beklagten nicht erkanntes frühinvasives Plattenepithelkarzinom. Der Sachverständige L. hat eine solche bösartige Veränderung zwar nicht "verifizieren" können bzw. für "nicht zweifelsfrei nachweisbar" gehalten. Auch er hat aber anders als der Beklagte bereits hinsichtlich der ersten Probe einen entsprechenden Verdacht bejaht. Darüber hinaus hat er vom Beklagten ebenfalls nicht erkannte Zellatypien in Form von Dysplasien gesehen.
7b) Die Nichtzulassungsbeschwerde wendet sich mit Erfolg dagegen, dass das Berufungsgericht trotz dieser von der Beurteilung des Beklagten abweichenden Einschätzung der beiden pathologischen Sachverständigen einen vorwerfbaren Diagnosefehler mit der Begründung verneint hat, die Deutung des Beklagten sei nicht unvertretbar gewesen. Die Nichtzulassungsbeschwerde macht mit Recht geltend, das Berufungsgericht habe dabei nicht hinreichend berücksichtigt, dass beim Kläger seinerzeit eine Leukoplakie vorgelegen habe. So habe bereits der behandelnde Arzt in seinen den Gewebeproben beigefügten Begleitzetteln eine Leukoplakie angegeben und auch der Beklagte habe die Epithelhyperplasie in dem zweiten Gutachten als "einfache Leukoplakie" beschrieben. Der Sachverständige L. habe dazu angegeben, dass eine Leukoplakie "ein Warnzeichen ist und auch damals war".
8Diese Darlegung des Sachverständigen hat das Berufungsgericht gehörswidrig nicht hinreichend berücksichtigt. Nach der Rechtsprechung des Senats ist davon auszugehen, dass der Kläger sich dieses für ihn günstige Ergebnis der Beweisaufnahme zu Eigen gemacht hat (vgl. Senatsbeschluss vom 10. November 2009 - VI ZR 325/08, VersR 2010, 497 Rn. 5). Das Berufungsgericht hat die Äußerung des Sachverständigen zwar gesehen. Eine Nichtgewährung rechtlichen Gehörs kann aber auch darin liegen, dass nur der äußere Wortlaut, nicht aber der Sinn eines Parteivortrags erfasst wird (, MDR 2010, 1210). Das ist vorliegend der Fall, denn die Äußerung des Sachverständigen warf die Fragen auf, ob der Beklagte das Warnzeichen der Leukoplakie nicht bei der Befundinterpretation hätte berücksichtigen müssen und ob das Nichterkennen eines Krebsverdachts und der Dysplasien auch unter diesen Umständen noch vertretbar war. Diese Fragen hat das Berufungsgericht nicht in den Blick genommen. Es hat insoweit lediglich ausgeführt, die Bewertung der Leukoplakie als Warnzeichen relativiere nicht die früheren Ausführungen des Sachverständigen, wonach ein mikroinvasives Wachstum nicht eindeutig nachweisbar gewesen sei. Das Berufungsgericht hat aber nicht bedacht, dass für die Befundinterpretation das Warnzeichen der Leukoplakie von Bedeutung gewesen sein könnte. Seine weiteren Ausführungen, der Hinweis des Sachverständigen verstehe sich "vor allen Dingen vor dem Hintergrund zwischenzeitlicher medizinischer Erkenntnisse", gibt für die Bewertung des Diagnosefehlers nichts her, da sich der Hinweis des Sachverständigen ausdrücklich ohnehin auf den Behandlungszeitpunkt bezog.
9Da der Sachverständige seine Einschätzung, die Leukoplakie sei ein Warnzeichen gewesen, nicht näher erläutert hat, ist allerdings unklar geblieben, ob die Leukoplakie etwa nur für den behandelnden Chirurgen oder aber auch für den Pathologen im Rahmen der Begutachtung der Gewebeproben bedeutsam war und deswegen bei der Bewertung des dem Beklagten unterlaufenen Diagnosefehlers hätte berücksichtigt werden müssen. Dieser Unklarheit hätte das Berufungsgericht angesichts der durch den Prozessverlauf geprägten Besonderheiten des vorliegenden Falles - gegebenenfalls durch Anhörung des Sachverständigen (vgl. Senatsurteil vom 10. Januar 1989 - VI ZR 25/88, VersR 1989, 378, [...] Rn. 7) - nachgehen müssen.
103. Da nicht ausgeschlossen werden kann, dass das Berufungsgericht, sollte die bei dem Kläger seinerzeit gegebene Leukoplakie für die Bewertung des Diagnosefehlers von Bedeutung sein, zu einer anderen Einschätzung gelangt wäre, war das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache an das Berufungsgericht zurückzuverweisen. Dieses wird bei erneuter Befassung Gelegenheit haben, auch das weitere Vorbringen des Klägers in der Revisionsinstanz zu berücksichtigen.
Fundstelle(n):
HAAAE-70244