BSG Urteil v. - B 2 U 27/12 R

Gesetzliche Unfallversicherung - Wegeunfall - sachlicher Zusammenhang - Handlungstendenz - eigenwirtschaftlich veranlasste Rückkehr zur Arbeitsstätte - Holen vergessener Geldbörse - Wiederaufnahme der betrieblichen Tätigkeit - hieran anschließende Heimfahrt - sozialgerichtliches Verfahren - Revisionsbegründung - Erfordernis des bestimmten Antrags

Leitsatz

Nimmt der Beschäftigte seine versicherte Tätigkeit nach Rückkehr in den Betrieb wieder auf, steht er auf dem Rückweg zu seinem Wohnort unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung, ohne dass es auf die rechtliche Qualität des Hinwegs ankommt.

Gesetze: § 2 Abs 1 Nr 1 SGB 7, § 8 Abs 2 Nr 1 SGB 7, § 164 Abs 2 S 3 SGG

Instanzenzug: SG Heilbronn Az: S 6 U 1988/09 Urteilvorgehend Landessozialgericht Baden-Württemberg Az: L 2 U 5220/10 Beschluss

Tatbestand

1Die Beteiligten streiten über die Feststellung eines Arbeitsunfalls in der Wegeunfallversicherung.

2Der Kläger verließ am nach seiner betrieblichen Tätigkeit als Angestellter eines Unternehmens für Bauelemente um kurz nach 16.14 Uhr seine Arbeitsstätte. Er kehrte zwischen 17.00 und 17.30 Uhr noch einmal in den Betrieb zurück, um seinen dort zurückgelassenen Geldbeutel aus seinem Spind zu holen. Dort traf er auf zwei Kollegen, mit denen er ua Probleme erörterte, die eine geplante Messeveranstaltung und seinen Aufgabenbereich betrafen. Nach diesem Gespräch verließ der Kläger um 17.45 Uhr erneut den Betrieb. Um 18.00 Uhr verunglückte er mit seinem Motorrad kurz vor seinem Wohnort auf der direkten Strecke zwischen Betrieb und Wohnort, die insgesamt 8,7 km betrug und für die er in der Regel ca 15 Minuten benötigte. Er erlitt schwere Kopfverletzungen und mehrere Knochenbrüche. Die Beklagte lehnte die Bewilligung einer Entschädigung aus Anlass des Ereignisses vom im Bescheid vom ab und wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom zurück. Der Kläger habe den zunächst angetretenen Heimweg unterbrochen und aus eigenwirtschaftlichen, nicht mit seiner betrieblichen Tätigkeit in einem ursächlichen Zusammenhang stehenden Gründen erneut seine Arbeitsstätte aufgesucht. Es stehe nicht fest, dass zum Zeitpunkt des Motorradunfalls die Unterbrechung des versicherten Weges beendet gewesen sei.

3Das SG hat die Klage abgewiesen (Urteil vom ). Es sei nicht erwiesen, dass der Kläger den Motorradunfall auf dem versicherten Heimweg erlitten habe, nachdem er diesen unterbrochen habe. Ob er nach der Unterbrechung die eigenwirtschaftliche Verrichtung, seinen Geldbeutel zu holen und einzukaufen, beendet und den ursprünglich angetretenen Heimweg fortgesetzt habe, könne nicht mehr ermittelt werden. Auf die Berufung des Klägers hat das LSG das Urteil des SG sowie die angefochtenen Bescheide aufgehoben und festgestellt, dass das Ereignis vom ein Arbeitsunfall gewesen ist (Urteil vom ). Da der Kläger nach Rückkehr in den Betrieb seine Tätigkeit als Beschäftigter wieder aufgenommen habe, sei die sich hieran anschließende Heimfahrt als Zurücklegen des mit der betrieblichen Tätigkeit zusammenhängenden Weges in der gesetzlichen Unfallversicherung versichert gewesen. Im Übrigen sei die Grenze von zwei Stunden, nach der sich ein Versicherter bei einer Unterbrechung des versicherten Weges regelmäßig von der versicherten Tätigkeit gelöst habe, nicht überschritten.

4Mit ihrer vom LSG zugelassenen Revision rügt die Beklagte eine Verletzung des § 8 Abs 2 Nr 1 SGB VII. Das Berufungsgericht gehe zu Unrecht davon aus, dass mit dem lediglich zufällig geführten Kollegengespräch die versicherte Tätigkeit wieder aufgenommen worden sei. Da das Gespräch sowohl private als auch betriebliche Ursachen und Inhalte gehabt habe und der Kläger keiner unter diesen Umständen geschuldeten arbeitsvertraglichen Pflicht nachgekommen sei, sei diese Unterhaltung nicht der versicherten Tätigkeit zuzurechnen. Auch sei bei einem kurzen, in der Regel 15 Minuten dauernden Heimweg davon auszugehen, dass eine endgültige Lösung vom versicherten Weg früher als nach zwei Stunden eintrete.

7Er hält die Revision für unzulässig und unbegründet. Die Revision sei unzulässig, weil die Beklagte nicht fristgemäß einen Prozessantrag gestellt habe. Sie sei unbegründet, denn die angefochtene Entscheidung des LSG sei zutreffend.

Gründe

8Die Revision der Beklagten ist zulässig, aber unbegründet. Das LSG hat zu Recht das Urteil des SG aufgehoben und der Klage stattgegeben. Die Ablehnung der Feststellung des Ereignisses am als Arbeitsunfall in den angefochtenen Bescheiden der Beklagten ist rechtswidrig. Der Kläger hat am durch den Unfall mit seinem Motorrad einen Arbeitsunfall erlitten.

91. Die Revision genügt entgegen der Auffassung des Klägers den Begründungsanforderungen des § 164 Abs 2 SGG. Gegen ihre Zulässigkeit spricht nicht, dass die Beklagte innerhalb der Frist des § 164 Abs 2 Satz 1 SGG ihre Revision ohne Formulierung eines förmlichen Antrags begründet hat. Das Erfordernis des "bestimmten Antrags" iS von § 164 Abs 2 Satz 3 SGG setzt nicht notwendig einen förmlichen Antrag iS einer spiegelbildlichen Formulierung des erstrebten Urteilstenors voraus. Es genügt, wenn der Revisionsbegründung zumindest zu entnehmen ist, welches prozessuale Ziel mit der Revision verfolgt und in welchem Umfang sie eingelegt wird (vgl - SozR 3-2200 § 571 Nr 3 S 8 und vom - B 2 U 6/08 R - UV-Recht Aktuell 2009, 1088 ff). Diesem Erfordernis wird die fristgemäß eingegangene Revisionsbegründung der Beklagten gerecht, weil sie noch hinreichend deutlich erkennen lässt, dass die Beklagte das Urteil des LSG aus den näher dargelegten Gründen für fehlerhaft hält und das prozessuale Ziel verfolgt, dass dieses Urteil aufgehoben und die Berufung gegen das die Klage abweisende Urteil des SG zurückgewiesen wird.

102. Der Kläger hat seine Klage zulässig auf die Anfechtung der Entscheidung der Beklagten im Bescheid vom in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom und die Feststellung des Eintritts eines Versicherungsfalls beschränkt. Die Zulässigkeit der mit der Anfechtungsklage nach § 54 Abs 1 SGG verbundenen Feststellungsklage gemäß § 55 Abs 1 Nr 1 SGG steht in Fällen der vorliegenden Art, in denen allein die vom Versicherungsträger abgelehnte Feststellung des Vorliegens eines Arbeitsunfalls als Versicherungsfall begehrt wird, die grundsätzliche prozessrechtliche Nachrangigkeit der Feststellungsklage nicht entgegen (vgl - SozR 4-2200 § 539 Nr 2 RdNr 10 mwN).

113. Nach § 8 Abs 1 Satz 1 SGB VII sind Arbeitsunfälle Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit (versicherte Tätigkeit). Zu den versicherten Tätigkeiten zählt gemäß § 8 Abs 2 Nr 1 SGB VII auch das Zurücklegen des mit der nach §§ 2, 3 oder 6 SGB VII versicherten Tätigkeit zusammenhängenden unmittelbaren Weges nach und von dem Ort der Tätigkeit. Unfälle sind nach § 8 Abs 1 Satz 2 SGB VII zeitlich begrenzte, von außen auf den Körper einwirkende Ereignisse, die zu einem Gesundheitsschaden oder zum Tod führen. Ein Arbeitsunfall setzt daher voraus, dass der Verletzte durch eine Verrichtung unmittelbar vor dem fraglichen Unfallereignis den gesetzlichen Tatbestand einer versicherten Tätigkeit erfüllt hat und deshalb "versichert" ist. Die Verrichtung muss ein zeitlich begrenztes, von außen auf den Körper einwirkendes Ereignis und dadurch einen Gesundheitserstschaden oder den Tod des Versicherten objektiv und rechtlich wesentlich verursacht haben (Unfallkausalität und haftungsbegründende Kausalität; vgl - BSGE 112, 177 = SozR 4-2700 § 8 Nr 46, RdNr 20; zuletzt - UV-Recht Aktuell 2013, 1095, zur Veröffentlichung in SozR 4 vorgesehen). Diese Voraussetzungen liegen hier vor.

12Das hier allein als versicherte Tätigkeit in Betracht kommende Zurücklegen des mit der Tätigkeit des Klägers als Beschäftigter zusammenhängenden Weges von dem Ort dieser Tätigkeit verursachte objektiv und rechtlich wesentlich den Motorradunfall am und die darauf zurückzuführenden Verletzungen des Klägers, denn der Kläger befand sich unmittelbar vor dem Unfallereignis auf einem versicherten Weg von dem Ort seiner Tätigkeit iS von § 8 Abs 2 Nr 1 SGB VII.

13Der Kläger hat seine allein in Frage stehende zweite Heimfahrt am am Ort der versicherten Tätigkeit begonnen und mit dem alleinigen Ziel angetreten, auf direktem Weg zu seiner Wohnung zu gelangen. Nach den nicht mit zulässigen und begründeten Revisionsgründen angegriffenen und daher bindenden Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) hatte er unmittelbar vor Fahrtantritt eine versicherte Tätigkeit verrichtet (§ 2 Abs 1 Nr 1 SGB VII), indem er mit Kollegen zu seinem Aufgabengebiet gehörende Messevorbereitungen erörterte. Sein Handeln war damit darauf gerichtet, eine eigene, objektiv bestehende und aus der Beschäftigung herrührende Pflicht zu erfüllen (vgl - BSGE 111, 37 = SozR 4-2700 § 2 Nr 20, RdNr 21, 27 ff mwN). Die Grundsätze der gemischten Tätigkeit bzw der Verrichtung mit gemischter oder gespaltener Handlungstendenz (vgl dazu - SozR 4-2700 § 8 Nr 39 RdNr 22 ff und vom - B 2 U 7/12 R - zur Veröffentlichung in BSGE und SozR 4 vorgesehen; Spellbrink WzS 2011, 351; Krasney NZS 2013, 681) finden schon deshalb keine Anwendung, weil das Gespräch des Klägers mit seinen Kollegen in nach einander liegende Anteile zerlegt werden kann (vgl - SozR 4-2700 § 8 Nr 39 RdNr 22; dazu zuletzt - zur Veröffentlichung in BSGE und SozR 4 vorgesehen). Dem Charakter dieser Erörterungen mit den Kollegen als versicherte Tätigkeit steht auch nicht entgegen, dass der Kläger an diesem Tag zunächst seine Arbeit beendet hatte und dass er das Gespräch hätte verschieben können. Allein der Umstand, dass ein Beschäftigter eine ihrer Art nach arbeitsrechtlich geschuldete Tätigkeit freiwillig außerhalb seiner regulären Arbeitszeit verrichtet, schließt die Einordnung als versicherte Tätigkeit iS von § 2 Abs 1 Nr 1 SGB VII nach Sinn und Zweck der gesetzlichen Unfallversicherung nicht aus. Die Unfallversicherung will Schutz bei der Realisierung von Gefahren gewähren, die einen wesentlichen Entstehungsgrund in der betrieblichen Sphäre haben, um den Unternehmer von der aus der Betriebstätigkeit erwachsenden Verschuldens- und Gefährdungshaftung zu befreien (vgl zB - SozR 2200 § 548 Nr 96 sowie vom - B 2 U 8/11 R - BSGE 111, 37 = SozR 4-2700 § 2 Nr 20, RdNr 35 ff). Diese Gefahren bestehen grundsätzlich auch dann, wenn arbeitsvertraglich geschuldete Tätigkeiten freiwillig außerhalb der regulären Arbeitszeiten verrichtet werden oder der Beschäftigte das Tätigwerden im konkreten Zeitraum ablehnen könnte, dies jedoch unterlässt und tätig wird. Wie bei sonstigen Regelverstößen (vgl hierzu - USK 73204) entfällt der Versicherungsschutz in der gesetzlichen Unfallversicherung nicht ohne Weiteres, wenn bei Verrichtung der geschuldeten Tätigkeit die reguläre Arbeitszeit überschritten ist.

14Auf dem nach diesem Gespräch mit dem Verlassen der Arbeitsstätte angetretenen Weg zwischen Betrieb und Wohnort befand sich der Kläger nach den Feststellungen des LSG auch unmittelbar vor dem Motorradsturz. Objektive Umstände, denen Hinweise auf eine abweichende Handlungstendenz entnommen werden könnten, fehlen.

15Erst recht hat das LSG keine Umstände festgestellt, die auf eine rechtlich relevante Unterbrechung dieses Weges schließen lassen könnten. Dies ergibt sich auch nicht etwa mittelbar daraus, dass er unfallrechtlich das Schicksal des Hinweges teilen müsste. Ein versicherter Weg nach und von dem Ort einer versicherten Tätigkeit iS von § 8 Abs 2 Nr 1 SGB VII kann mehrmals täglich zurückgelegt werden, wenn dessen Voraussetzungen jeweils erfüllt sind (vgl - SozR 4-2700 § 8 Nr 24 RdNr 14 mwN). Selbst wenn zunächst eine Rückfahrt zum Betrieb allein zu einem privatwirtschaftlichen Zweck erfolgte (vgl hierzu ua - SozR 2200 § 550 Nr 24; vgl auch - HV-INFO 1991, 1844), kann nach Wiederaufnahme der versicherten Tätigkeit der sich anschließende Heimweg ein versicherter Weg iS von § 8 Abs 2 Nr 1 SGB VII sein. Weder der Wortlaut dieser Vorschrift noch Sinn und Zweck der Unfallversicherung der Beschäftigten sprechen dafür, den Versicherungsschutz des Rückweges vom Ort der versicherten Tätigkeit stets davon abhängig zu machen, dass der Hinweg ein versicherter Weg war. Aus der Entscheidung des Senats vom (B 2 U 18/99 R - HVBG-INFO 2000, 2611) ergibt sich nichts anderes. Vielmehr wird dort gerade geprüft, ob der Rückweg - anders als der Hinweg - nicht allein privaten Interessen gedient hat, sondern wegen des Hinzutretens betrieblicher Gründe ein versicherter Weg gewesen ist (vgl auch - Juris).

16Der notwendige sachliche Zusammenhang der unfallbegründenden versicherten Fortbewegung als Vor- und Nachbereitungshandlung mit der nach §§ 2, 3 oder 6 SGB VII versicherten Tätigkeit (vgl zB - SozR 4-2700 § 8 Nr 32 RdNr 11 und vom - B 2 U 9/10 R - BSGE 107, 197 = SozR 4-2700 § 2 Nr 17, RdNr 11) ist damit ebenso gegeben wie die Unfallverursachung und die Realisierung der von der Wegeunfallversicherung umfassten Gefahr gerade durch die versicherte Verrichtung (Urteil des Senats vom - B 2 U 10/12 R - zur Veröffentlichung in SozR 4 vorgesehen).

174. Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 183, 193 SGG.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BSG:2013:141113UB2U2712R0

Fundstelle(n):
DB 2014 S. 6 Nr. 25
NAAAE-60762