BGH Beschluss v. - VI ZB 4/13

Wiedereinsetzung: Sorgfaltsmaßstab bei falsch adressiertem und sodann korrigiertem Schriftsatz; eigene Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts

Leitsatz

1. Verschuldensmaßstab im Rahmen des § 233 ZPO ist nicht die äußerste oder größtmögliche Sorgfalt, sondern die von einem ordentlichen Rechtsanwalt zu fordernde übliche Sorgfalt.

2. Der Prozessbevollmächtigte einer Partei, der einen falsch adressierten Schriftsatz unterschrieben, seinen Irrtum dann aber bemerkt hat, genügt regelmäßig dieser üblichen Sorgfalt, wenn er eine sonst zuverlässige Kanzleikraft damit beauftragt, einen korrigierten Schriftsatz zu erstellen, diesen ihm zur Unterschrift vorzulegen und den ursprünglichen Schriftsatz zu vernichten, und er den korrigierten Schriftsatz dann auch tatsächlich unterschreibt; der eigenhändigen Vernichtung oder eigenhändiger Durchstreichungen des ursprünglichen Schriftsatzes bedarf es dann nicht.

3. Eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts in der Sache über einen Wiedereinsetzungsantrag kommt nach § 577 Abs. 5 ZPO nur in Betracht, wenn aus dem angefochtenen, die Wiedereinsetzung versagenden Beschluss mit hinreichender Sicherheit entnommen werden kann, dass der dem Wiedereinsetzungsantrag zugrundeliegende Sachverhalt für glaubhaft erachtet und nicht nur unterstellt und für unerheblich gehalten wurde.

Gesetze: § 233 ZPO, § 574 ZPO, § 577 Abs 5 ZPO

Instanzenzug: OLG Celle Az: 11 U 174/12vorgehend Az: 19 O 165/09

Gründe

I.

1Der Kläger nimmt die Beklagten auf Schadensersatz nach ärztlicher Behandlung in Anspruch. Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Gegen das ihm am zugestellte Urteil hat der Kläger rechtzeitig Berufung eingelegt. Mit an das Landgericht gerichtetem Schriftsatz seines Prozessbevollmächtigten vom hat der Kläger beantragt, die Berufungsbegründungsfrist bis zum zu verlängern. Der Schriftsatz erreichte das Landgericht per Fax noch am . Von dort wurde er am an das Oberlandesgericht weitergeleitet, wo er am eingegangen ist. Mit dem Kläger über seinen Prozessbevollmächtigten am zugestelltem Hinweis informierte der Vorsitzende des für die Berufung zuständigen Senats über diesen Geschehensablauf, teilte mit, eine Fristverlängerung komme nicht in Betracht, da der Fristverlängerungsantrag erst nach Ablauf der Berufungsbegründungsfrist beim Berufungsgericht eingegangen sei, und wies darauf hin, dass der Senat beabsichtige, die Berufung wegen Versäumung der Frist zur Begründung der Berufung als unzulässig zu verwerfen.

2Mit am beim Berufungsgericht eingegangenem Schriftsatz seines Prozessbevollmächtigten hat der Kläger hierauf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Berufungsbegründungsfrist beantragt und zugleich die Berufung begründet. Er hat behauptet, sein Prozessbevollmächtigter habe nach Unterzeichnung des Fristverlängerungsantrags am bemerkt, dass dieser irrtümlich an das Landgericht adressiert gewesen sei. Der Prozessbevollmächtigte habe seiner ansonsten zuverlässigen Rechtsanwaltsfachangestellten M. deshalb aufgegeben, den Schriftsatz zu vernichten und einen entsprechenden, an das Oberlandesgericht gerichteten Verlängerungsantrag zu fertigen. Dieser Schriftsatz sei dann weisungsgemäß erstellt und anschließend vom Prozessbevollmächtigten unterzeichnet worden. Danach habe die Kanzleiangestellte jedoch versehentlich den an das Oberlandesgericht gerichteten Schriftsatz vernichtet und den an das Landgericht adressierten Schriftsatz per Fax an das Landgericht versandt.

3Mit dem angefochtenen Beschluss hat das Berufungsgericht den Wiedereinsetzungsantrag zurückgewiesen und die Berufung als unzulässig verworfen. Der Kläger begehrt die Aufhebung des angefochtenen Beschlusses, die Gewährung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hinsichtlich der Versäumung der Berufungsbegründungsfrist sowie den Ausspruch, dass die Berufung des Klägers nicht wegen Versäumung der Berufungsbegründungsfrist unzulässig ist.

II.

41. Die Rechtsbeschwerde ist gemäß § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 522 Abs. 1 Satz 4, § 238 Abs. 2 Satz 1 ZPO statthaft. Sie ist auch im Übrigen zulässig. Insbesondere erfordert die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts (§ 574 Abs. 2 Nr. 2 Fall 2 ZPO).

5Nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung erfordert die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts unter anderem dann, wenn durch den angefochtenen Beschluss die Verfahrensgrundrechte einer Partei auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes (Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip) und auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) verletzt wurden. Dies ist anzunehmen, wenn die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand aufgrund von Anforderungen an die Sorgfaltspflichten des Prozessbevollmächtigten der Partei versagt wurde, die nach höchstrichterlicher Rechtsprechung nicht verlangt werden und die den Parteien den Zugang zu einer in der Verfahrensordnung eingeräumten Instanz in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschweren (vgl. z.B. Senatsbeschlüsse vom - VI ZB 61/12, juris Rn. 5; vom - VI ZB 49/11, VersR 2013, 208 Rn. 5; vom - VI ZB 54/11, VersR 2012, 1411 Rn. 5; BGH, Beschlüsse vom - V ZB 187/12, juris Rn. 5; vom - XII ZB 559/12, NJW-RR 2013, 572 Rn. 4; jeweils mwN). Dies ist vorliegend der Fall. Das Berufungsgericht hat die Anforderungen an die Sorgfaltspflicht des Prozessbevollmächtigten überspannt (siehe unter 2.).

62. Die Rechtsbeschwerde hat auch in der Sache Erfolg.

7a) Das Berufungsgericht hat im Wesentlichen ausgeführt:

8Die Berufung sei unzulässig, weil die Berufungsbegründung nicht innerhalb der Frist des § 520 Abs. 2 Satz 1 ZPO, die am geendet habe, bei Gericht eingegangen sei. Die Frist sei vom Vorsitzenden des Senats nicht verlängert worden, da der vom Kläger gestellte Fristverlängerungsantrag nicht - wie erforderlich - bis zum Ablauf der Berufungsbegründungsfrist beim Berufungsgericht eingegangen sei.

9Der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand sei zurückzuweisen, da der Kläger nicht ohne ihm zurechenbares Verschulden gehindert gewesen sei, die Berufungsbegründungsfrist einzuhalten. Zwar sei dem Kläger zuzugeben, dass ein Prozessbevollmächtigter nach höchstrichterlicher Rechtsprechung darauf vertrauen dürfe, dass seine ansonsten zuverlässig arbeitende Angestellte einfache Aufgaben erledigt. Im vorliegenden Fall habe der Prozessbevollmächtigte des Klägers durch Unterzeichnung des falsch adressierten Schriftsatzes jedoch persönlich einen Fehler begangen. Es sei nicht nachvollziehbar, warum er in der Folge nicht die "einfachsten Maßnahmen" - etwa die eigenhändige Vernichtung des falsch adressierten Schriftsatzes oder die Ungültigmachung des Schriftsatzes auf andere Weise wie Durchstreichen wenigstens des Adressfeldes - ergriffen habe, um die von ihm selbst geschaffene Gefahr einer Verwechslung der Schriftsätze zu beseitigen.

10b) Dies hält rechtlicher Überprüfung nicht Stand. Mit den Erwägungen des Berufungsgerichts lässt sich ein dem Kläger gemäß § 85 Abs. 2 ZPO zuzurechnendes Verschulden seines Prozessbevollmächtigten nicht begründen.

11Noch zutreffend hat das Berufungsgericht erkannt, dass ein Rechtsanwalt nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung grundsätzlich darauf vertrauen darf, dass eine Büroangestellte, die sich bisher als zuverlässig erwiesen hat, eine konkrete Einzelanweisung befolgt. Ihn trifft deshalb kein Verschulden an der Fristversäumung, wenn er einer solchen Bürokraft eine Einzelanweisung erteilt hat, deren Beachtung die Einhaltung der Frist sichergestellt hätte (vgl. z.B. Senatsbeschlüsse vom - VI ZB 61/12, juris Rn. 9; vom - VI ZB 52/12, juris Rn. 8; vom - VI ZB 65/08, NJW 2010, 2287 Rn. 5 f.; BGH, Beschlüsse vom - VIII ZB 67/12, juris Rn. 7; vom - VIII ZB 107/06, juris Rn. 4; vom - II ZR 69/85, VersR 1985, 1140). Dies gilt grundsätzlich auch für nur mündlich erteilte Weisungen (vgl. z.B. BGH, Beschlüsse vom - XII ZB 47/10, MDR 2013, 1061 Rn. 12; vom - VIII ZB 34/91, VersR 1992, 1023), wobei in diesem Fall allerdings ausreichende Vorkehrungen für erforderlich gehalten werden, dass die Erledigung der jeweiligen Weisung nicht in Vergessenheit gerät (vgl. z.B. , aaO).

12Bei Zugrundelegung des Klägervorbringens zum Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist sein Prozessbevollmächtigter den sich daraus ergebenden Sorgfaltsanforderungen gerecht geworden: Die an die sonst zuverlässige Rechtsanwaltsfachangestellte M. gerichtete Weisung hätte, wäre sie von dieser befolgt worden, sichergestellt, dass der Antrag auf Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist rechtzeitig beim Berufungsgericht eingeht. Weitergehende als die vom Prozessbevollmächtigten des Klägers getroffenen Vorkehrungen, dass die Erledigung der Weisung nicht in Vergessenheit gerät, waren trotz Mündlichkeit der Weisung nicht erforderlich. Durch die vorgesehene Vorlage des neuen Schriftsatzes zur Unterschrift an ihn war sichergestellt, dass der Prozessbevollmächtigte sich vergewissern konnte, ob der neue Schriftsatz bereits vorliegt und damit dieser Teil seiner Weisung umgesetzt ist. Zusätzliche Vorkehrungen, die sicherstellten, dass im weiteren Verlauf auch tatsächlich der fehlerhafte Schriftsatz vernichtet sowie der korrigierte versandt und nicht etwa umgekehrt verfahren wird, waren nicht erforderlich. Denn nach Unterzeichnung des richtigen Schriftsatzes durch den Prozessbevollmächtigten bestand die Gefahr, dass die mündliche Weisung in Vergessenheit gerät, aus Sicht des Prozessbevollmächtigten nicht mehr. Er durfte sich jedenfalls jetzt darauf verlassen, dass seine Angestellte - wie angewiesen - den von ihr selbst erstellten neuen und nicht etwa den alten Schriftsatz absenden werde.

13Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts kann ein Verschulden des Prozessbevollmächtigen des Klägers auch nicht alleine darin gesehen werden, dass er den an das Landgericht gerichteten Schriftsatz nicht selbst vernichtet oder durch (ggf. teilweises) Durchstreichen als ungültig gekennzeichnet hat. Denn Verschuldensmaßstab im Rahmen des § 233 ZPO ist nicht die äußerste oder größtmögliche Sorgfalt, sondern die von einem ordentlichen Rechtsanwalt zu fordernde übliche Sorgfalt (vgl. , NJW-RR 2012, 122 Rn. 12). Dabei ist in der höchstrichterlichen Rechtsprechung anerkannt, dass in Fällen, in denen mit dem ursprünglichen und dem korrigierten Schriftsatz zwei Fassungen des gleichen Schriftsatzes vorliegen, dieser üblichen Sorgfalt regelmäßig bereits dann genügt wird, wenn der Rechtsanwalt die sonst zuverlässige Angestellte mündlich anweist, die korrigierte Fassung zu versenden. Der vom Berufungsgericht verlangten eigenhändigen Vernichtung bzw. Durchstreichungen bedarf es grundsätzlich nicht, auch wenn solche Maßnahmen für den Rechtsanwalt keinen großen Aufwand bedeuten und zu mehr Sicherheit führen (vgl. BGH, Beschlüsse vom - VIII ZB 107/06, juris Rn. 5; vom - VIII ZB 34/91, VersR 1992, 1023; vom - II ZR 69/85, VersR 1985, 1140). Seinen im Unterschreiben des falsch adressierten Schriftsatzes liegenden Fehler korrigiert der Rechtsanwalt in der Regel hinreichend dadurch, dass er einen neuen Schriftsatz erstellen lässt, diesen unterschreibt und einem zuverlässigen Mitarbeiter zur Weiterleitung an das aus dem Adressfeld ersichtliche Gericht übergibt (vgl. , aaO Rn. 6).

14Aus den Entscheidungen des I. Zivilsenats vom (I ZB 21/11, NJW-RR 2012, 122) und des II. Zivilsenats vom (II ZB 27/10, juris) ergibt sich nichts anderes. Zwar ist dort ausgesprochen, dass der dargestellte Vertrauensgrundsatz insoweit nicht gilt, als der Rechtsanwalt von der ihm selbst - etwa durch eine handschriftliche Korrektur - ohne Weiteres möglichen Beseitigung eines von ihm erkannten Fehlers absieht (BGH, Beschlüsse vom - II ZB 27/10, aaO Rn. 9; vom - I ZB 21/11, aaO Rn. 15). Abweichend von den diesen Entscheidungen zugrundeliegenden Sachverhalten, die die Weisung an die Kanzleikraft zum Gegenstand hatten, die erste Seite eines fehlerhaft an das erstinstanzliche Gericht gerichteten und vom Rechtsanwalt bereits unterschriebenen Berufungs- bzw. Berufungsbegründungsschriftsatzes vor Absendung durch eine mit der richtigen Adressierung versehene erste Seite auszutauschen, hat der Prozessbevollmächtigte nach den Angaben des Klägers im vorliegenden Fall nicht die volle Fehlerbeseitigung der Kanzleikraft überlassen. Die Weisung, ihm den neuen und dann richtig adressierten Schriftsatz zur Unterschrift vorzulegen, stellte nämlich gerade sicher, dass der korrigierte Schriftsatz auch tatsächlich erstellt wird.

15c) Dass es sich bei dem zunächst beim Land- und in der Folge verspätet beim Oberlandesgericht eingegangenen Schriftsatz nicht um die Berufungsbegründung selbst, sondern "nur" um den Antrag auf Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist gehandelt hat, ist unerheblich. Es ist anerkannt, dass ein Prozessbevollmächtigter dann mit der Bewilligung einer erstmals beantragten Fristverlängerung rechnen darf, wenn im Fristverlängerungsantrag - wie hier - auf eine Arbeitsüberlastung hingewiesen wird. Einer weiteren Substanziierung bedarf es dabei nicht (vgl. z.B. Senatsbeschluss vom - VI ZB 46/09, NJW 2010, 1610 Rn. 9; BGH, Beschlüsse vom - XII ZB 396/12, NJW 2013, 2035 Rn. 11; vom - V ZB 42/10, NJW-RR 2011, 285 Rn. 10; ferner BVerfG [Kammer], NJW 2007, 3342; jeweils mwN).

163. Gemäß § 577 Abs. 4 Satz 1 ZPO ist die angefochtene Entscheidung aufzuheben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen. An einer Entscheidung in der Sache gemäß § 577 Abs. 5 Satz 1 ZPO ist der Senat auch hinsichtlich des Wiedereinsetzungsantrags gehindert. Es fehlt an ausreichenden tatsächlichen Feststellungen im angefochtenen Beschluss. Ihm lässt sich bereits nicht mit hinreichender Sicherheit entnehmen, ob das Berufungsgericht den auf den Wiedereinsetzungsantrag bezogenen Sachvortrag des Klägers auch in Anbetracht der Einwendungen der Beklagten für glaubhaft gemacht hält oder ob es ihn lediglich als wahr unterstellt, was von seinem - allerdings unzutreffenden - Rechtsstandpunkt aus gesehen ausreichend wäre.

Galke                          Diederichsen                          Pauge

              von Pentz                             Offenloch

Fundstelle(n):
DB 2014 S. 9 Nr. 1
NJW 2014 S. 700 Nr. 10
WAAAE-51781