BVerwG Beschluss v. - 2 WDB 5/12

Begriff des Verfahrenshindernisses; rechtzeitige Anhörung des Soldaten; Nachholbarkeit

Gesetze: § 93 Abs 1 S 2 WDO 2002, § 97 Abs 3 WDO 2002, § 108 Abs 3 S 1 WDO 2002, § 108 Abs 4 WDO 2002

Instanzenzug: Truppendienstgericht Süd Az: S 5 (neu) VL 21/12 Beschluss

Tatbestand

1Dem seit in der Bundeswehr Dienst leistenden 43 Jahre alten Soldaten wurde mit Wirkung vom die Eigenschaft eines Berufssoldaten verliehen verbunden mit der Ernennung zum Leutnant. Mit Wirkung vom wurde er zum Oberleutnant ernannt. Seit wird er als Lehroffizier in der Ausbildungsgruppe ... in K. verwendet. Seine Dienstzeit endet voraussichtlich am .

2Am wurde der Soldat zu einer ihm zur Last gelegten Pflichtverletzung vernommen. Auf die Frage, ob er aussagen wolle, erklärte er: "Ja, ich werde mich zu dieser Sache erklären in Absprache mit meinem Rechtsbeistand. Hier - zum jetzigen Zeitpunkt - jedoch nicht, sondern erst nach Bekanntgabe der vom Wehrdisziplinaranwalt erhobenen Vorwürfe." Der Soldat widersprach der Anhörung seiner Vertrauensperson. Mit Schreiben vom gab der Disziplinarvorgesetzte des Soldaten gemäß § 41 WDO den Vorgang an die Einleitungsbehörde ab. Mit Schreiben vom teilte die Wehrdisziplinaranwaltschaft für die Bereiche Luftwaffenführungskommando, Luftwaffenamt, Luftwaffenausbildungskommando und Waffensystemkommando der Luftwaffe dem Disziplinarvorgesetzten des Soldaten mit, dass sie beabsichtige, ein gerichtliches Disziplinarverfahren gegen den Soldaten einzuleiten, und bat ihn, den Soldaten gemäß § 93 Abs. 1 Satz 2 WDO anzuhören. Mit einem am beim Rechtsberaterzentrum der Luftwaffe eingegangenen Schreiben vom teilte der Verteidiger des Soldaten unter Vorlage einer Vollmacht mit, dass sich der Soldat nach der hiermit beantragten Akteneinsicht zur Sache äußern werde. In seiner Vernehmung vom äußerte der Soldat auf die Frage, ob er aussagen wolle: "Ja, ich werde aussagen, aber nicht hier, sondern nach Akteneinsichtnahme durch meinen Rechtsbeistand und im Beisein des Wehrdisziplinaranwalts."

3Mit Verfügung vom , die dem Soldaten am übergeben wurde, leitete der Kommandeur ... gegen den Soldaten ein gerichtliches Disziplinarverfahren ein. Unter dem wurde die Ermittlungsakte dem Verteidiger des Soldaten zur Einsichtnahme übersandt. In seiner Schlussanhörung gemäß § 97 Abs. 3 WDO bei der Wehrdisziplinaranwaltschaft ließ sich der Soldat, der mit seinem Verteidiger erschienen war, umfassend zur Sache ein. Aufgrund dieser Einlassung wurde ein Zeuge erneut vernommen. Die Niederschrift über diese Vernehmung wurde offenbar dem Verteidiger übersandt, denn mit Schreiben vom legte der Verteidiger eine Stellungnahme des Soldaten zu der Vernehmungsniederschrift des Zeugen vor.

4Die Anschuldigungsschrift der Wehrdisziplinaranwaltschaft vom ging am beim Truppendienstgericht Süd ein und wurde dem Soldaten am , dem Verteidiger am , zugestellt. Nach Anhörung der Beteiligten stellte der Vorsitzende der 5. Kammer des Truppendienstgerichts Süd mit Beschluss vom das Verfahren gemäß § 108 Abs. 4 WDO ein, weil ein Verfahrenshindernis bestehe. Das gerichtliche Disziplinarverfahren sei nicht wirksam eingeleitet worden, weil der Soldat vor Erlass der Einleitungsverfügung nicht angehört worden sei. Das stelle einen schweren Verfahrensfehler dar, der nach Zugang der Anschuldigungsschrift beim Truppendienstgericht nicht mehr heilbar sei.

5Dagegen richtet sich die Beschwerde der Wehrdisziplinaranwaltschaft, mit der sie sich gegen die Einstellung wendet und die Fortsetzung des gerichtlichen Disziplinarverfahrens beantragt.

Selbst wenn man mit dem Truppendienstgericht davon ausgehe, dass die Anhörung vor Einleitung fehlerhaft gewesen sei, so sei sie doch durch die Gewährung des Schlussgehörs und die anschließende Entscheidung der Einleitungsbehörde, das Verfahren zur Anschuldigung beim Truppendienstgericht zu bringen, geheilt.

6Der Soldat hat sich im Beschwerdeverfahren nicht geäußert.

7Der Bundeswehrdisziplinaranwalt hält die Beschwerde für zulässig und begründet. Der Soldat habe bei der Schlussanhörung in Gegenwart seines Verteidigers Gelegenheit gehabt, sich zu allen Fragestellungen, die das Verfahren aufwerfen könne, umfassend zu äußern und habe davon Gebrauch gemacht. Wie auch im angefochtenen Beschluss unterstellt, sei der Entwurf der Anschuldigungsschrift vor der Einreichung beim Truppendienstgericht der Einleitungsbehörde zusammen mit sämtlichen bis dahin entstandenen Vorgängen einschließlich aller aktenkundig gewordenen Äußerungen des Soldaten zur Entscheidung über den Fortgang des Verfahrens nach § 99 Abs. 1 Satz 1 WDO vorgelegt worden. Sodann habe die Einleitungsbehörde entschieden, das Verfahren durch die Anschuldigung bei Gericht fortzuführen. Damit bestehe kein fortdauerndes Verfahrenshindernis im Sinne des § 108 Abs. 4 WDO.

Gründe

8Die Beschwerde des Wehrdisziplinaranwalts hat Erfolg.

91. Sie ist statthaft sowie form- und fristgerecht erhoben und vom Vorsitzenden der Truppendienstkammer dem Senat ohne Abhilfegewährung ordnungsgemäß zur Entscheidung vorgelegt worden (§ 114 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 und Abs. 3 Satz 2 WDO).

102. Sie ist auch begründet. Die gesetzlichen Voraussetzungen für die Einstellung des gerichtlichen Disziplinarverfahrens nach § 108 Abs. 4 WDO liegen nicht vor, da ein Verfahrenshindernis nicht besteht.

11Der Begriff eines Verfahrenshindernisses ist in § 108 Abs. 3 Satz 1, Abs. 4 WDO nicht näher definiert. Nach der Rechtsprechung fallen unter diesen Begriff alle Umstände, die der Fortführung des gerichtlichen Disziplinarverfahrens von Rechts wegen entgegen stehen, also diese verhindern. Dazu zählen fehlende allgemeine Verfahrensvoraussetzungen (z.B. die Verfolgbarkeit von Täter und Tat), sowie schwere Mängel des Verfahrens, die nicht auf andere Weise geheilt werden können (vgl. Beschlüsse vom - BVerwG 2 WDB 4.03 - Buchholz 235.01 § 93 WDO 2002 Nr. 3 und vom - BVerwG 2 WDB 4.12 - Rn. 14). Hier liegt zwar ein Mangel des Verfahrens vor, er steht der Fortsetzung des Verfahrens aber nicht entgegen.

12Bei Einleitung des gerichtlichen Disziplinarverfahrens müssen alle Voraussetzungen vorliegen, unter denen nach dem Gesetz die disziplinare Verfolgung des Soldaten und des Dienstvergehens zulässig ist. Dazu gehört eine wirksame Einleitungsverfügung, die als Prozesshandlung Bestandteil eines einheitlichen, gesetzlich geregelten Verfahrens ist. Nach der Regelung des § 93 Abs. 1 Satz 3 WDO wird die Einleitung mit der Zustellung an den Soldaten wirksam. Gemäß § 93 Abs. 1 Satz 2 WDO ist der Soldat vorher, also vor Ergehen der Einleitungsverfügung, zu hören. Die Vorschrift schreibt die Anhörung vor Ergehen der Einleitungsverfügung verbindlich vor und stellt sie nicht in das Ermessen der Einleitungsbehörde (stRspr, vgl. BVerwG 2 WD 3.04 - BVerwGE 120, 193 <197> und Beschluss vom a.a.O. Rn. 15).

13Zu Recht ist der Vorsitzende der Truppendienstkammer davon ausgegangen, dass vorliegend die Einleitungsbehörde den Soldaten entgegen § 93 Abs. 1 Satz 2 WDO vor Ergehen der Einleitungsverfügung vom nicht ordnungsgemäß angehört hat. Denn die Einleitungsbehörde hat ihm keine hinreichende Gelegenheit gegeben, auf der Grundlage der von ihm beantragten Einsichtnahme in die Verfahrensakten gerade zu der von ihr beabsichtigten Einleitungsentscheidung Stellung zu nehmen und hierauf einzuwirken. Sie versagte ihm die Möglichkeit, in Kenntnis des Inhalts der Verfahrensakte alles vorzutragen, was aus seiner Sicht für die Ermessensentscheidung der Einleitungsbehörde über die Einleitung des gerichtlichen Disziplinarverfahrens von Relevanz sein konnte.

14Zwar ist der Soldat am im Auftrag der Wehrdisziplinaranwaltschaft zu den Vorwürfen vernommen worden. Er hat dabei erklärt, aussagen zu wollen, aber hinzugefügt, dass er erst nach Akteneinsichtnahme durch seinen Rechtsbeistand und im Beisein des Wehrdisziplinaranwalts aussagen werde. In dieser Einlassung kann keine ordnungsgemäße und ausreichende Anhörung gesehen werden. Denn die von seinem Verteidiger am beantragte Akteneinsicht wurde erst am durch Übersendung der Akten gewährt.

15Das Recht, Einsicht in die Akten zu nehmen, steht sowohl dem Soldaten (§ 3 WDO) als auch dem Verteidiger (§ 90 Abs. 3 WDO) zu. Es ist ein gesetzlicher Anspruch und Teil der Gewährung rechtlichen Gehörs. Es bedarf keiner besonderen Genehmigung durch die Akteneinsicht gewährende Stelle. Diese bestimmt lediglich Ort, Zeit sowie Art und Weise der Akteneinsicht. Der Anspruch auf Akteneinsicht kann geltend gemacht werden, sobald die Ermittlungen aufgenommen wurden, deren Ergebnis Eingang in Akten oder sonstige Unterlagen gefunden hat. Der Einsicht unterliegen alle anlässlich der Ermittlungen entstandenen und für diesen Zweck beigezogenen Akten (vgl. Beschluss vom a.a.O.). Vor Ergehen der Einleitungsverfügung vom ist dem Soldaten und seinem Verteidiger dieses Recht auf Akteneinsicht und damit auf rechtliches Gehör vorenthalten worden, sodass es an einer hinreichenden Anhörung vor Ergehen der Einleitungsverfügung fehlt. Denn sein Begehren, erst nach Akteneinsicht aussagen zu wollen, war nicht zu beanstanden.

16Der darin liegende Verfahrensfehler hat weder die Unwirksamkeit der Einleitungsverfügung zur Folge, noch stellt er ein Verfahrenshindernis im Sinne des § 108 Abs. 4 WDO dar. Denn nach der Rechtsprechung des Senats konnte die vor Ergehen der Einleitungsverfügung entgegen § 93 Abs. 1 Satz 2 WDO unterbliebene Anhörung des Soldaten durch die Einleitungsbehörde bis zur Vorlage der Anschuldigungsschrift beim Truppendienstgericht am nachgeholt werden (vgl. BVerwG 2 WD 3.04 - a.a.O. S. 200 und Beschluss vom - a.a.O. S. 13). Das ist hier geschehen. Aufgrund der mit Schreiben vom erfolgten Übersendung der Verfahrensakte durch den Wehrdisziplinaranwalt konnte der Verteidiger des Soldaten in die Ermittlungsakten Einsicht nehmen. Im Schlussgehör gemäß § 97 Abs. 3 WDO beim Wehrdisziplinaranwalt hat der Soldat in Gegenwart seines Verteidigers sich umfassend zu den Vorwürfen eingelassen. Die Niederschrift über die aufgrund dieser Einlassung erforderlich gewordene erneute Zeugeneinvernahme wurde dem Verteidiger und dem Soldaten zur Kenntnis gegeben und der Soldat hat sich dazu erneut ausführlich geäußert. Diese Stellungnahme hat sein Verteidiger dem Wehrdisziplinaranwalt am vorgelegt.

17Zwar hätte die Stellungnahme des Soldaten der Einleitungsbehörde als Teil der Grundlage ihrer Entscheidung über die Einleitung eines gerichtlichen Disziplinarverfahrens dienen sollen, um ihm die Möglichkeit zu geben, auf Gesichtspunkte zu verweisen, die für die Einleitungsbehörde bei der Entscheidung über das weitere Vorgehen maßgeblich sein könnten. Wenn dies erst im Rahmen des Schlussgehörs nach § 97 Abs. 3 WDO erfolgt, ist dem Sinn und Zweck der Regelung des § 93 Abs. 1 Satz 2 WDO aber gleichwohl Rechnung getragen. Denn die Einleitungsbehörde ist vor der Entscheidung über die Einreichung der Anschuldigungsschrift beim zuständigen Truppendienstgericht nochmals zu beteiligen, um über den Fortgang des Verfahrens zu entscheiden. Sie hat damit die Möglichkeit, die Einlassung des Soldaten zu berücksichtigen und auf dieser Basis eine Entscheidung darüber zu treffen, ob an der ursprünglichen Entscheidung über die Einleitung eines gerichtlichen Disziplinarverfahrens festgehalten wird (vgl. BVerwG 2 WD 24.09 - BVerwGE 138, 263 = Buchholz 449.7 § 27 SBG Nr. 4, jeweils Rn. 22 und BVerwG 2 WDB 4.12 - Rn. 18).

18Nach den vom Soldaten nicht bestrittenen Angaben des Wehrdisziplinaranwalts, die auch das Truppendienstgericht zugrunde gelegt hat, ist der Entwurf der Anschuldigungsschrift vor der Einreichung beim Truppendienstgericht am der Einleitungsbehörde zusammen mit der Handakte der Wehrdisziplinaranwaltschaft zur Entscheidung vorgelegt worden. Der Kommandeur Luftwaffenausbildungskommando hat der Vorlage der Anschuldigungsschrift am zugestimmt. Dies wird durch die vom Bundeswehrdisziplinaranwalt nachgereichten Unterlagen dokumentiert. Damit bestand trotz der fehlerhaften Gestaltung der zeitlichen Abläufe des Verfahrens eine Möglichkeit des Soldaten, alles aus seiner Sicht Relevante in die Entscheidung der Einleitungsbehörde über die Fortsetzung des Verfahrens einzubringen.

19Sonstige schwere Verfahrensmängel, die ein Verfahrenshindernis im Sinne des § 108 Abs. 4 WDO darstellen könnten, sind vom Truppendienstgericht nicht angeführt und auch nicht ersichtlich. Der angefochtene Einstellungsbeschluss vom kann deshalb keinen Bestand haben. Nach Aufhebung des verfahrensfehlerhaften Einstellungsbeschlusses ist das Verfahren erneut bei der 5. Kammer des Truppendienstgerichts Süd anhängig.

20Die Kostenentscheidung beruht auf § 139 Abs. 1 Satz 2 Halbs. 2 WDO, die Entscheidung über die Tragung der notwendigen Auslagen des Soldaten auf § 140 Abs. 3 Satz 3 WDO. Obwohl das zu Ungunsten des Soldaten eingelegte Rechtsmittel des Wehrdisziplinaranwalts erfolgreich war, wäre es unbillig, den Soldaten mit den Verfahrenskosten zu belasten. Denn der Soldat hat weder durch sein Verhalten noch durch dasjenige seines Verteidigers Veranlassung zu der vom Vorsitzenden der Truppendienstkammer beschlossenen Einstellung des gerichtlichen Verfahrens nach § 108 Abs. 4 WDO gegeben. Ebenso wenig hat er die Verfahrensmängel zu vertreten, die dem Vorsitzenden der Truppendienstkammer Anlass für den Einstellungsbeschluss gaben.

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:

Fundstelle(n):
GAAAE-48899