EuGH Urteil v. - Rs. 283/81

Zu den Voraussetzungen der Vorlagepflicht nach Art 177 Abs. 3 EWGV

Leitsatz

Artikel 177 Absatz 3 EWG-Vertrag ist dahin auszulegen, daß ein Gericht, dessen Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, seiner Vorlagepflicht nachkommen muß, wenn in einem bei ihm schwebenden Verfahren eine Frage des Gemeinschaftsrechts gestellt wird, es sei denn, es hat festgestellt, daß die gestellte Frage nicht entscheidungserheblich ist, daß die betreffende gemeinschaftsrechtliche Bestimmung bereits Gegenstand einer Auslegung durch den Gerichtshof war oder daß die richtige Anwendung des Gemeinschaftsrechts derart offenkundig ist, daß für einen vernünftigen Zweifel keinerlei Raum bleibt; ob ein solcher Fall gegeben ist, ist unter Berücksichtigung der Eigenheiten des Gemeinschaftsrechts, der besonderen Schwierigkeiten seiner Auslegung und der Gefahr voneinander abweichender Gerichtsentscheidungen innerhalb der Gemeinschaft zu beurteilen.

Tatbestand

I – Sachverhalt und Verfahren

Mit Klageschrift, die dem italienischen Gesundheitsministerium am zugestellt wurde, trugen die Klägerinnen im Ausgangsverfahren, bei denen es sich um wollverarbeitende Unternehmen handelt, vor, sie hätten seit Inkrafttreten des Gesetzes Nr. 30 vom als Gebühr für gesundheitspolizeiliche Untersuchungen 700 Lire je Doppelzentner eingeführter Wolle gezahlt, und zwar bis zum Inkrafttreten des Gesetzes Nr. 1239 vom , mit dem diese Gebühr geändert worden sei; ihrer Ansicht nach hätten sie jedoch nach richtiger Auslegung des Gesetzes vom und jedenfalls nach dessen authentischer Auslegung durch das Gesetz Nr. 1239 von 1970 nur 70 Lire je Doppelzentner zu zahlen brauchen.

Gegen das klageabweisende Urteil des Tribunale Rom vom legten die Klägerinnen im Ausgangsverfahren Berufung ein, die sie auf das vom Tribunale zurückgewiesene Vorbringen stützten; darüber hinaus machten sie geltend, nach dem Erlaß der Verordnung Nr. 827/68 des Rates vom über die gemeinsame Marktorganisation für bestimmte in Anhang II des Vertrages aufgeführte Erzeugnisse (ABl. L 151, S. 16) sei das Gesetz Nr. 30 von 1968 unanwendbar.

Mit Urteil vom folgte die Corte d’appello Rom unter Zurückweisung sämtlicher von den Klägerinnen im Ausgangsverfahren geltend gemachter Berufungsgründe der Auffassung des Gesundheitsministeriums zur Vereinbarkeit des Gesetzes Nr. 30 von 1968 mit der vorgenannten Verordnung.

Am erhoben die Klägerinnen im Ausgangsverfahren Kassationsbeschwerde gegen dieses Urteil. Zur Begründung seines Antrags auf Zurückweisung der Kassationsbeschwerde machte das Gesundheitsministerium geltend, da Wolle – wie die Corte d’appello festgestellt habe – nicht unter Anhang II des EWG-Vertrags falle, gebe es für sie keine gemeinsame Marktorganisation; sie könne daher nicht von der betreffenden Verordnung erfaßt sein.

Das Gesundheitsministerium betont, diese Frage müsse von der Corte suprema di cassazione entschieden werden, da die tatsächlichen Umstände so offenkundig seien, daß nicht einmal die Möglichkeit eines Auslegungszweifels in Betracht komme; ein Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften sei daher nicht erforderlich.

Nach Auffassung der Corte suprema di cassazione wirft das Verteidigungsvorbringen des Gesundheitsministeriums eine Frage nach der Auslegung von Artikel 177 EWG-Vertrag auf; es werde nämlich geltend gemacht, diese Bestimmung sei in dem Sinne zu verstehen, daß die Corte suprema di cassazione – deren Entscheidungen nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden könnten – nicht zur Anrufung des Gerichtshofes verpflichtet sei, wenn die Beantwortung der Frage nach der Auslegung von Handlungen der Gemeinschaftsorgane so offenkundig sei, daß bereits die Möglichkeit eines Auslegungszweifels ausgeschlossen sei.

Demgemäß hat die Corte suprema di cassazione mit Beschluß vom das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

„Begründet Artikel 177 Absatz 3 EWG-Vertrag, nach dem ein einzelstaatliches Gericht, dessen Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, zur Anrufung des Gerichtshofes verpflichtet ist, wenn eine Frage der in Absatz 1 dieses Artikels genannten Art in einem bei ihm anhängigen Verfahren gestellt wird, eine Pflicht zur Vorlage, die es dem einzelstaatlichen Gericht nicht erlaubt, über die Erforderlichkeit einer Vorlage der Frage zu entscheiden, oder hängt diese Verpflichtung – gegebenenfalls inwieweit – davon ab, daß ein vernünftiger Auslegungszweifel besteht?”

Der Vorlagebeschluß ist am in das Register der Kanzlei des Gerichtshofes eingetragen worden.

Gemäß Artikel 20 des Protokolls über die Satzung des Gerichtshofes der EWG haben die Klägerinnen im Ausgangsverfahren, vertreten durch Rechtsanwälte G. Scarpa und G. Stella Richter sowie G. M. Ubertazzi und F. Capelli, die Regierung des Königreichs Dänemark, vertreten durch ihren Rechtsberater Laurids Mikaelsen als Bevollmächtigten, die Regierung der Italienischen Republik, vertreten durch Avvocato dello Stato S. Laporta und ihren Bevollmächtigten A. Squillante, und die Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch den stellvertretenden Generaldirektor G. Olmi und Fräulein Mary Minch, Mitglied des Juristischen Dienstes der Kommission, als Bevollmächtigte, schriftliche Erklärungen eingereicht.

Der Gerichtshof hat auf Bericht des Berichterstatters nach Anhörung des Generalanwalts beschlossen, die mündliche Verhandlung ohne vorherige Beweisaufnahme zu eröffnen.

II - Gemäß Artikel 20 des Protokolls über die Satzung des Gerichtshofes eingereichte Erklärungen

A – Erklärungen der Klägerinnen im Ausgangsverfahren

Nach einer Abgrenzung des durch die Frage des vorlegenden Gerichts aufgeworfenen Problems führen die Klägerinnen im Ausgangsverfahren aus, diese Frage beschränke sich auf die folgenden drei Punkte:

„Muß das im Ausgangsverfahren angerufene Gericht vor Erlaß eines Vorabentscheidungsersuchens prüfen, ob die vor ihm aufgeworfene. Frage die Auslegung oder aber die Anwendung des Gemeinschaftsrechts betrifft?

Ist die Corte di cassazione auch bei klarem Wortlaut verpflichtet, den Gerichtshof um Auslegung zu ersuchen?

Muß sich die Auslegungsfrage – von der Klarheit der Vorschrift abgesehen – auf den ersten Blick als begründet, berechtigt und plausibel darstellen?”

a) Auslegungsfragen und Fragen der Anwendung

Nach Ansicht der Klägerinnen im Ausgangsverfahren bezieht sich der Vertrag nur auf Auslegungsfragen; nur solche Fragen verpflichteten somit die in Artikel 177 Absatz 3 genannten Gerichte zur Vorlage. Daher sei es Sache dieser Gerichte, zunächst zu prüfen, ob es um eine Auslegungsfrage oder aber um eine Frage der Anwendung gehe.

In den bei ihnen anhängigen Rechtsstreitigkeiten müßten die innerstaatlichen Gerichte jedoch das Gemeinschaftsrecht anwenden; im Zusammenhang mit dieser Anwendung könnten sie Fragen nach seiner Auslegung stellen.

Die Zweifel hinsichtlich der Anwendung seien damit im wesentlichen Zweifel hinsichtlich der Auslegung, so daß das Gericht über die erste, von den Parteien unter dem Blickwinkel der Anwendung des Gemeinschaftsrechts vorgenommene Darstellung der Frage hinausgehen und die dahinter liegende Auslegungsfrage erkennen müsse.

b) Ist die Corte di cassazione auch bei klarem Wortlaut verpflichtet, den Gerichtshof um Auslegung zu ersuchen?

Die Klägerinnen im Ausgangsverfahren führen zunächst aus, nach innerstaatlichem Recht erlaube es der Grundsatz, wonach eine Auslegung bei klarem Wortlaut nicht in Betracht komme, dem Auslegenden nicht, sich mit dem zu begnügen, was eine Vorschrift von ihrem Wortsinn her zum Ausdruck bringen zu wollen scheine; er besage vielmehr, daß dann (und nur dann), wenn eine Vorschrift klar und eindeutig sei und eine Divergenz zwischen Buchstabe und Geist nicht in Betracht komme, eine andere als die vom Wortlaut nahegelegte Auslegung nicht zulässig sei.

Sie äußern sodann die Auffassung, die Auslegungsgrundsätze des klassischen internationalen Rechts, wonach bei klarem Wortlaut für eine Auslegung kein Raum sei, könnten für das Gemeinschaftsrecht nicht gelten, da dieses eine im Entstehen begriffene Rechtsordnung sei und in einem Sinne ausgelegt werden müsse, der über den in den verschiedenen Einzelvorschriften gebrauchten Ausdruck hinausgehe; im Gemeinschaftsrecht sei daher eine teleologische, auf die praktische Wirksamkeit bedachte Auslegung geboten.

Zudem seien die in der Regelung verwendeten Ausdrücke nicht so klar, daß die Gefahr unterschiedlicher Auslegung ausgeschlossen sei. Insbesondere sei zu bedenken, daß das innerstaatliche Gericht auf dem Gebiet des Gemeinschaftsrechts zahlreiche sich aus der Fachsprachlichkeit dieses Rechts ergebende Schwierigkeiten überwinden müsse, da es nicht immer Zugang zu sämtlichen die Gemeinschaftsrechtsordnung ausmachenden Quellen habe; darüber hinaus müsse es die Unsicherheiten bewältigen, die sich aus dem nicht immer leicht zu beurteilenden Zusammentreffen von innerstaatlichem Recht und Gemeinschaftsrecht ergäben.

Diese Schwierigkeiten hätten zur Folge, daß für das in Artikel 177 Absatz 3 genannte Gericht eine Vorlagepflicht immer dann bestehe, wenn die Auslegung einer gemeinschaftsrechtlichen Vorschrift erforderlich sei, auch wenn ihre Bedeutung klar zu sein scheine.

c) Muß sich die Auslegungsfrage auf den ersten Blick als begründet, berechtigt und plausibel darstellen?

Nach Artikel 177 Absatz 3 seien die Gerichte letzter Instanz zur Anrufung des Gerichtshofes dann und nur dann verpflichtet, wenn in einem bei ihnen schwebenden Verfahren „eine Frage” gestellt werde.

Der Begriff der Frage sei in einem weiten Sinne, d. h. nicht notwendig als eine zwischen den Parteien bestehende Meinungsverschiedenheit, zu verstehen; vielmehr besage er, daß ein im Verfahren aufgeworfener Auslegungszweifel eine notwendige und hinreichende Voraussetzung für das Entstehen der Pflicht zur Vorlage beim Gerichtshof bilde.

Der Gegenstand der Frage der Corte suprema di cassazione betreffe allerdings weniger die Bedeutung des betreffenden Begriffs als vielmehr das Problem der „Begründetheit” der Vorlagefrage. Eine erste Antwort auf diese Frage lasse sich dem Wortlaut von Artikel 177 Absatz 3 entnehmen, der nicht zwischen begründeten oder unbegründeten Fragen unterscheide.

Diese erste Antwort werde durch eine vergleichende Prüfung der Absätze 2 und 3 von Artikel 177 bestätigt, die zu einer Auslegung führe, welche darauf gerichtet sei, die Vorlagepflicht auszuweiten, d. h. dem in Absatz 3 genannten vorlegenden Gericht keinerlei Spielraum zu belassen.

Für diese Ansicht spreche auch der Zweck von Artikel 177, der darin bestehe, die einheitliche Anwendung des Gemeinschaftsrechts in den Mitgliedstaaten sicherzustellen; das gelte um so mehr, als diesem Ziel eine unaufhörlich wachsende Bedeutung zukomme und die Rolle der Corte suprema di cassazione unter anderem darin bestehe, für die einheitliche Anwendung des Gesetzes Sorge zu tragen.

Im übrigen habe sich auch der Gerichtshof im Sinne einer weiten Auslegung von Artikel 177 ausgesprochen; unter anderem in seinem Urteil vom in den Rechtssachen 28 bis 30/62 (Da Costa en Schaake, Slg. 1963, 63) habe der Gerichtshof festgestellt, daß „Artikel 177 letzter Absatz nationale Gerichte …, deren Entscheidungen nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, ohne jede Einschränkung dazu verpflichtet, dem Gerichtshof alle sich in bei ihnen anhängigen Verfahren stellenden Fragen der Auslegung des Vertrages vorzulegen”.

In diesem Sinne äußerten sich auch die bedeutendsten Stimmen in der Lehre. In rechtspolitischer Hinsicht schließlich sei es sehr gefährlich, den obersten innerstaatlichen Gerichten zu erlauben, die Begründetheit der vor ihnen aufgeworfenen Fragen nachzuprüfen, da sie den Prozeß der Integration von Gemeinschaftsrecht und innerstaatlichem Recht bremsen oder verzerren könnten. Diesen obersten innerstaatlichen Gerichten einen solchen Beurteilungsspielraum einzuräumen, berge in sich bereits die Gefahr, daß zwischen innerstaatlichen Gerichten und Gemeinschaftsorganen ein ungünstiges Klima geschaffen werde, und könne auseinanderstrebende Tendenzen fördern.

B – Erklärungen der italienischen Regierung

Bei der Darstellung des Sachverhalts des Ausgangsverfahrens weist die italienische Regierung darauf hin, daß sie im Verfahren vor der Corte suprema di cassazione erklärt habe, im vorliegenden Fall sei. der Tatbestand der in Rede stehenden Norm so eindeutig, daß selbst die Möglichkeit eines Auslegungszweifels und folglich die Notwendigkeit einer Vorlage beim Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften ausgeschlossen seien.

Trotz der zwischen Absatz 2 und Absatz 3 von Artikel 177 bestehenden Unterschiede im Wortlaut habe Absatz 3 keinen anderen Regelungszweck und solle den innerstaatlichen Gerichten letzter Instanz nicht die Befugnis nehmen, die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung zu beurteilen.

Die Verfasser des Vertrages hätten es für angebracht gehalten, dadurch für eine Auslese der dem Gerichtshof vorgelegten Auslegungsfragen zu sorgen, daß sie das gewöhnliche Verfahren der Vorlage beim Gerichtshof auch für die Rechtsstreitigkeiten beibehalten hätten, die bei den innerstaatlichen Gerichten letzter Instanz anhängig seien.

Im Urteil in der Rechtssache Da Costa en Schaake (a. a. O.) habe der Gerichtshof festgestellt, daß die Wirkung, die von einer durch eine frühere Vorabentscheidung in einem gleichgelagerten Fall gegebenen Auslegung ausgehe, den Grund der Verpflichtung, die sich für die innerstaatlichen Gerichte letzter Instanz aus Artikel 177 Absatz 3 ergebe, entfallen und sie somit sinnlos. erscheinen lassen könne. Damit habe der Gerichtshof anerkannt, daß ein innerstaatliches Gericht letzter Instanz befugt sei, die Streitfrage abzugrenzen und somit unter Berufung auf die vom Gerichtshof auf die gleiche Frage erteilte Antwort das Vorliegen einer Auslegungsfrage oder eines Auslegungsproblems hinsichtlich der gemeinschaftsrechtlichen Vorschrift zu verneinen.

Da die Gemeinschaftsrechtsnorm in die Rechtsordnung des einzelnen Mitgliedstaats eingegliedert sei, sei die Annahme absurd, daß es einem innerstaatlichen Gericht verwehrt sei, eine Bestimmung auszulegen, die es anzuwenden habe. Diese Überlegung widerlege die These, daß sich ein innerstaatliches Gericht letzter Instanz darauf beschränken müsse, ein auf das Gemeinschaftsrecht gestütztes Verteidigungsvorbringen zur Kenntnis zu nehmen und dem Gerichtshof zur Prüfung vorzulegen. Dieses Gericht müsse daher die Frage festlegen, die Gegenstand eines Auslegungsersuchens an den Gerichtshof sein könne. Hierzu habe es zu prüfen, ob tatsächlich ein Auslegungszweifel bestehe; das werde durch die Schlußanträge von Generalanwalt Lagrange in der Rechtssache Da Costa en Schaake (a. a. O.) bestätigt, in denen dieser ausgeführt habe: „Das Verfahren der Vorlegung zur Vorabentscheidung über eine Auslegungsfrage ist selbstverständlich nur einzuleiten, wenn eine Frage vorliegt …”.

Somit könne eine Norm nicht nur dann als „klar” bezeichnet werden, wenn der Gerichtshof sie bereits auf eine vergleichbare Frage hin ausgelegt habe, sondern auch dann, wenn sie vernünftigerweise nur eine wörtliche, logische und systematische Bedeutung haben könne.

Die italienische Regierung hält es für kaum wahrscheinlich, daß ein letztinstanzliches innerstaatliches Gericht im gemeinschaftsrechtlichen Bereich eines Teils seiner gewöhnlichen Auslegungsinstrumente beraubt sei, daß es sich folglich nur an den Wortlaut zu halten habe, um festzustellen, ob die Bedeutung einer Norm unklar sei oder nicht, und von vornherein darauf verzichten müsse, durch einen einfachen Vergleich der Egebnisse der wörtlichen Auslegung mit jenen der logischen und systematischen Auslegung zu prüfen, ob der Zweifel fortbestehe.

Daher sei davon auszugehen, daß sich der Nutzen eines wirksamen Filters für die Vorlage von Auslegungsfragen beim Gerichtshof aus dem Sinn und Zweck von Artikel 177 ergebe. Daraus folge zwingend, daß das innerstaatliche Gericht letzter Instanz das Vorliegen eines echten Zweifels in angemessener Weise zu beurteilen habe.

Sonach blieben die Grenzen dieses Beurteilungsermessens zu bestimmen. Diese Frage sei zumindest beim gegenwärtigen Stand der Ausprägung des Gemeinschaftsrechts und angesichts des in den einzelnen Mitgliedstaaten nunmehr erreichten Grades von „Gemeinschaftsbewußtsein” in theoretischer Hinsicht schwieriger zu beantworten als in praktischer. In Anbetracht des in Artikel 177 aufgestellten Ziels der einheitlichen Auslegung des Gemeinschaftsrechts und angesichts des Gedankens, daß die Kraft des Rechts auf lange Sicht schließlich jeden Widerstand überwinde, lasse sich zudem fragen, bis zu welchem Punkt ein innerstaatliches Gericht letzter Instanz in der Praxis das Vorliegen einer wirklichen Vorabentscheidungsfrage guten Glaubens verneinen könne.

Im Ergebnis schlägt die italienische Regierung vor, die Vorlagefrage dahin gehend zu beantworten, daß die innerstaatlichen Gerichte letzter Instanz nach dem Vertrag verpflichtet sind, den Gerichtshof in den Fällen um eine Vorabentscheidung zu ersuchen, in denen sie nach angemessener Prüfung zu der Überzeugung gelangen, daß die im Verfahren vor ihnen aufgeworfene Auslegungsfrage nicht offensichtlich unbegründet ist.

C – Erklärungen der dänischen Regierung

Nach einem Hinweis auf den Zweck und die Funktionsweise von Artikel 177 führt die dänische Regierung aus, Absatz 3 dieser Vorschrift könne nicht in dem Sinne verstanden werden, daß ein innerstaatliches Gericht, dessen Entscheidungen nicht mehr mit Rechtsmitteln angefochten werden könnten, nur deshalb verpflichtet sei, dem Gerichtshof jede beliebige Frage nach der Auslegung oder der Gültigkeit einer Vorschrift des Gemeinschaftsrechts vorzulegen, weil die Parteien einen dahin gehenden Wunsch geäußert hätten.

Eine solche Auffassung mache aus diesem Artikel einen Privatpersonen zur Verfügung stehenden Rechtsbehelf, was keineswegs Zweck dieser Bestimmung sei.

Wie sich aus dem Urteil des Gerichtshofes vom in der Rechtssache 93/78 (Mattheus, Slg. 1978, 2203) ergebe, seien die innerstaatlichen Gerichte verpflichtet, die Erforderlichkeit der Vorlage beim Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften zu prüfen. Es sei daher Sache des innerstaatlichen Gerichts zu entscheiden, ob tatsächlich ein Zweifel vorliege, der ein Vorabentscheidungsersuchen rechtfertige; diese Auffassung werde durch das Urteil des Gerichtshofes vom in der Rechtssache 244/80 (Foglia/Novello, Slg. 1981, 3045) bestätigt.

Wie die italienische Regierung führt die dänische Regierung sodann aus, die Rechtsprechung des Gerichtshofes, unter anderem im Urteil in der Rechtssache Da Costa en Schaake (a. a. O.), habe bestätigt, daß die Vorlagepflicht nach Artikel 177 Absatz 3 nicht absolut sei.

Selbst wenn noch keine einschlägige Rechtsprechung des Gerichtshofes vorliege, könne das innerstaatliche Gericht dennoch unmittelbar ohne Ersuchen um Vorabentscheidung entscheiden, wenn die in Rede stehende Vorschrift des Gemeinschaftsrechts keine Auslegungsprobleme aufwerfe.

Zur Lehre vom „acte clair” bemerkt die dänische Regierung, daß die Kommission in Beantwortung der schriftlichen Anfrage Nr. 608/78 (ABl. C 28, 1978, S. 8 und 9) erklärt habe, die Gerichte könnten von einer Vorlage „absehen und unmittelbar entscheiden, wenn diese Fragen vollkommen eindeutig sind, und der Sinn der Antwort, die auf sie erteilt werden muß, jedem Juristen auch ohne einschlägige Kenntnisse der Materie offensichtlich erscheint”.

Die dänische Regierung weist den Gerichtshof darauf hin, daß dieses Kriterium auch von den dänischen Gerichten, und zwar auch den in letzter Instanz entscheidenden Gerichten, angewandt werde.

Nach Auffassung der dänischen Regierung rechtfertigt ein theoretischer Auslegungszweifel allein noch keine systematische Inanspruchnahme des Vorabentscheidungsverfahrens. Vielmehr müsse ein wirklicher Auslegungszweifel vorliegen.

Dieses Kriterium des „acte clair” müsse allerdings mit Vorsicht angewandt werden; das oberste innerstaatliche Gericht habe eine Reihe von Gegebenheiten zu berücksichtigen, und zwar unter anderem den Umstand, daß die Vorschriften des Gemeinschaftsrechts in mehreren Sprachfassungen verbindlich seien, und den Umstand, daß das Ziel von Artikel 177 die einheitliche Anwendung des Gemeinschaftsrechts sei. Das innerstaatliche Gericht könne eine gemeinschaftsrechtliche Vorschrift nicht aus eigener Befugnis für ungültig erklären, wie es auch eine bereits vom Gerichtshof vorgenommene Auslegung nicht unbeachtet lassen könne.

Im Ergebnis ersucht die dänische Regierung den Gerichtshof, die Vorlagefrage wie folgt zu beantworten:

„Innerstaatliche Gerichte, deren Entscheidungen nicht mehr mit Rechtsmitteln angefochten werden können, sind verpflichtet, dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften Fragen nach der Gültigkeit oder der Auslegung des Gemeinschaftsrechts zur Vorabentscheidung vorzulegen, wenn sie eine Entscheidung über diese Frage für den Erlaß der Entscheidung in dem bei ihnen anhängigen Rechtsstreit für erforderlich halten. Für das Bestehen dieser Verpflichtung ist es weder erforderlich noch ausreichend, daß eine Partei ein dahin gehendes Ersuchen an das Gericht richtet. Ein Gericht, dessen Entscheidungen nicht mehr mit Rechtsmitteln angefochten werden und Bindungswirkungen für die übrigen Gerichte entfalten können, hat es daher wegen des Erfordernisses der einheitlichen Anwendung des Gemeinschaftsrechts soweit wie möglich zu vermeiden, derartige Fragen selbst zu entscheiden.”

D – Erklärungen der Kommission

Einleitend bezeichnet die Kommission die dem Gerichtshof von der Corte suprema di cassazione vorgelegte Frage als grundlegend.

Die Kommission verweist zunächst auf die Lehre vom „acte clair”, nach der eine von den Parteien aufgeworfene oder vom Gericht selbst erkannte wirkliche Schwierigkeit vorliegen müsse, die bei vernünftiger Betrachtungsweise einen Zweifel hervorrufen könne. Eine ähnliche Vorstellung gebe es in Italien und in der Bundesrepublik Deutschland hinsichtlich der Verpflichtung der Gerichte, dem Verfassungsgericht Fragen nach der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen vorzulegen. Weder in Italien noch in der Bundesrepublik Deutschland sei das Gericht zur Anrufung des Verfassungsgerichts verpflichtet, wenn es der Ansicht sei, daß das Vorbringen hinsichtlich der Verfassungswidrigkeit offenkundig unbegründet sei.

Nach einer Darstellung der wesentlichen Argumente, die gegen bzw. für die Ansicht vorgetragen werden, daß die letztinstanzlichen Gerichte im Rahmen der Gemeinschaftsrechtsordnung über ein Beurteilungsermessen verfügen, spricht sich die Kommission für diese Ansicht aus.

In diesem Zusammenhang weist sie darauf hin, daß sie bereits in ihrer Antwort auf die schriftliche Anfrage Nr. 608/78 von Herrn Krieg (ABl. C 28 vom ) ausgeführt habe:

„Nach Auffassung der Kommission sind die nationalen Gerichte nicht aufgrund von Artikel 177 EWG-Vertrag verpflichtet, eine Entscheidung zurückzustellen und systematisch den Gerichtshof mit allen ihnen gestellten Fragen der Auslegung des Gemeinschaftsrechts zu befassen. Sie können davon absehen und unmittelbar entscheiden, wenn diese Fragen vollkommen eindeutig sind, und der Sinn der Antwort, die auf sie erteilt werden muß, jedem Juristen auch ohne einschlägige Kenntnisse der Materie offensichtlich erscheint.”

Nach einer Analyse von Artikel 177 Absatz 3 äußert die Kommission die Überzeugung, daß ihr früherer Standpunkt richtig sei. Eine Vorlagepflicht bestehe nämlich nur, wenn sich das letztinstanzliche innerstaatliche Gericht einer Frage gegenübersehe und wenn diese Frage die Auslegung einer Rechtsvorschrift betreffe. Der Begriff der „Frage” sei jedoch gleichbedeutend mit Problem; der Begriff der „Auslegung” bedeute Verständnis und Erläuterung des Wortlauts eines geschriebenen oder gesprochenen Textes, dessen Sinn unklar sei und zu Zweifeln Anlaß gebe.

Sei eine Bestimmung völlig eindeutig, fehle es somit an einer Frage, und es bedürfe keiner Auslegung.

Es treffe zwar zu, daß es immer zu einer Auslegungstätigkeit komme, und zwar auch im Hinblick auf eindeutige und damit unmittelbar verständliche Bestimmungen, doch sei offenkundig, daß unter den Auslegungsfragen, auf die sich Artikel 177 Absatz 3 beziehe, nur echte Probleme im Sinne intellektueller Schwierigkeiten zu verstehen seien.

Dieses Beurteilungsermessen, das die Kommission dem im Ausgangsverfahren entscheidenden Gericht zuerkenne, liege auf derselben Linie wie die ihm bereits eingeräumten Beurteilungsbefugnisse. Die innerstaatlichen Gerichte müßten die bei ihnen anhängigen Rechtsstreitigkeiten entscheiden und das Gemeinschaftsrecht anwenden, dabei jedoch die Befugnisse des Gerichtshofes zur Auslegung dieses Rechts beachten. Die Tatsache, daß der Gerichtshof den innerstaatlichen Gerichten ein Beurteilungsermessen zugebilligt habe, sei ein Beweis seines Vertrauens in die innerstaatlichen Gerichte; im übrigen könnten die Verfahren nach Artikel 177 nur in einem Klima gegenseitigen Vertrauens erfolgreich durchgeführt werden.

Selbstverständlich könnten den innerstaatlichen Gerichten Irrtümer bei der Auslegung einer gemeinschaftsrechtlichen Bestimmung unterlaufen, doch seien die nachteiligen Folgen solcher Irrtümer begrenzt und würden durch die Vorteile aufgewogen, die sich insbesondere für die Rechtspflege daraus ergäben, daß die letztinstanzlichen Gerichte der Mitgliedstaaten nicht verpflichtet würden, dem Gerichtshof alle das Gemeinschaftsrecht betreffende Fragen vorzulegen.

Es müsse jedoch deutlich gemacht werden, daß diese Befugnis in Anbetracht der Besonderheiten der Gemeinschaftsrechtsordnung im Rahmen dieser Rechtsordnung nur mit äußerster Zurückhaltung ausgeübt werden dürfe.

In diesem Zusammenhang weist die Kommission darauf hin, daß die Vorschriften des Gemeinschaftsrechts in sieben Sprachen abgefaßt und häufig Ausdruck politischer Kompromisse seien. Daher erfordere die Ausübung eines Beurteilungsermessens im Hinblick auf eine gemeinschaftsrechtliche Bestimmung durch ein innerstaatliches Gericht weitaus größere Zurückhaltung als die Anwendung der Lehre vom „acte clair” im innerstaatlichen Bereich. Vor der Ausübung seines Beurteilungsermessens müsse sich das nationale Gericht daher vor allem über die Rechtsprechung des Gerichtshofes informieren; falls der geringste Zweifel bestehen bleibe, müsse ein in letzter Instanz entscheidendes Gericht den Gerichtshof um Vorabentscheidung ersuchen.

Daraus folge, daß die Fälle, in denen es zulässig sei, den Gerichtshof nicht anzurufen, praktisch sehr begrenzt seien.

Die Kommission schlägt daher vor, die dem Gerichtshof vorgelegte Frage wie folgt zu beantworten:

„Nach Artikel 177 Absatz 3 EWG-Vertrag sind die Gerichte, deren Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, verpflichtet, dem Gerichtshof alle vor ihnen aufgeworfenen Fragen nach der Bedeutung einer gemeinschaftsrechtlichen Bestimmung vorzulegen, es sei denn, sie hätten festgestellt, daß diese Bestimmung keinen vernünftigen Auslegungszweifel aufwirft.”

III – Mündliche Verhandlung

In der Sitzung vom haben die Klägerinnen im Ausgangsverfahren, vertreten durch die Rechtsanwälte Ubertazzi und Capelli, die italienische Regierung, vertreten durch Avvocato dello Stato Laporta, und die Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch den stellvertretenden Generaldirektor ihres Juristischen Dienstes Olmi und das Mitglied ihres Juristischen Dienstes Mary Minch als Bevollmächtigte, mündliche Ausführungen gemacht und Fragen des Gerichtshofes beantwortet.

Der Generalanwalt hat seine Schlußanträge in der Sitzung vom vorgetragen.

Entscheidungsgründe

1 Die Corte suprema di cassazione hat mit Beschluß vom , beim Gerichtshof eingegangen am , gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag eine Frage nach der Auslegung von Artikel 177 Absatz 3 EWG-Vertrag zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Frage stellt sich in einem Rechtsstreit zwischen Wollimportfirmen und dem italienischen Gesundheitsministerium über die Zahlung von Gebühren für die gesundheitspolizeiliche Untersuchung von Wolle, die aus nicht der Gemeinschaft angehörenden Ländern eingeführt wurde. Die Unternehmen beriefen sich auf die Verordnung Nr. 827/68 vom über die gemeinsame Marktorganisation für bestimmte in Anhang II des Vertrages aufgeführte Erzeugnisse (ABl. L 151, S. 16), nach deren Artikel 2 Absatz 2 es den Mitgliedstaaten untersagt ist, auf eingeführte, unter der Tarifnummer 05.15 des Gemeinsamen Zolltarifs aufgeführte und anderweit nicht genannte „Waren tierischen Ursprungs” Abgaben mit gleicher Wirkung wie Zölle zu erheben. Das Gesundheitsministerium hielt dem entgegen, daß Wolle nicht unter Anhang II des Vertrages falle. Sie werde daher nicht von einer gemeinsamen Marktorganisation erfaßt.

3 Aus diesen Umständen folgert das Gesundheitsministerium, die Beantwortung der Frage nach der Auslegung des Rechtsaktes der Gemeinschaftsorgane sei so offenkundig, daß nicht einmal die Möglichkeit eines Auslegungszweifels in Betracht komme und daß daher ein Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof nicht erforderlich sei. Demgegenüber machen die betroffenen Unternehmen geltend, da vor der Corte suprema di cassazione, deren Entscheidungen nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angegriffen werden könnten, eine Frage bezüglich der Auslegung einer Verordnung aufgeworfen worden sei, dürfe sich das Gericht gemäß dem Wortlaut von Artikel 177 Absatz 3 seiner Verpflichtung zur Anrufung des Gerichtshofes nicht entziehen.

4 Angesichts dieser gegensätzlichen Auffassungen hat die Corte suprema di cassazione dem Gerichtshof folgende Frage vorgelegt:

„Begründet Artikel 177 Absatz. 3 EWG-Vertrag, nach dem ein einzelstaatliches Gericht, dessen Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, zur Anrufung des Gerichtshofes verpflichtet ist, wenn eine Frage der in Absatz 1 dieses Artikels genannten Art in einem bei ihm anhängigen Verfahren gestellt wird, eine Pflicht zur Vorlage, die es dem einzelstaatlichen Gericht nicht erlaubt, über die Erforderlichkeit einer Vorlage der Frage zu entscheiden, oder hängt diese Verpflichtung – gegebenenfalls inwieweit – davon ab, daß ein vernünftiger Auslegungszweifel besteht?”

5 Zur Lösung dieses Problems ist der Systematik von Artikel 177 Rechnung zu tragen, nach dem der Gerichtshof unter anderem über die Auslegung des Vertrages und der Handlungen der Organe der Gemeinschaft entscheidet.

6 Gemäß Absatz 2 dieses Artikels „kann” jedes Gericht eines Mitgliedstaats dem Gerichtshof eine Auslegungsfrage zur Entscheidung vorlegen, wenn es eine solche Entscheidung zum Erlaß seines Urteils für erforderlich hält. Wird eine Auslegungsfrage in einem schwebenden Verfahren bei einem einzelstaatlichen Gericht gestellt, dessen Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, so ist dieses Gericht nach Absatz 3 zur Anrufung des Gerichtshofes „verpflichtet”.

7 Diese Vorlagepflicht fügt sich in den Rahmen der Zusammenarbeit zwischen den innerstaatlichen Gerichten als mit der Anwendung des Gemeinschaftsrechts betrauten Gerichten und dem Gerichtshof ein, durch die die ordnungsgemäße Anwendung und die einheitliche Auslegung des Gemeinschaftsrechts in allen Mitgliedstaaten sichergestellt werden sollen. Artikel 177 Absatz 3 soll insbesondere verhindern, daß es innerhalb der Gemeinschaft zu voneinander abweichenden Gerichtsentscheidungen über Fragen des Gemeinschaftsrechts kommt. Wird eine solche Auslegungsfrage im Sinne von Artikel 177 gestellt, ist die Tragweite der Verpflichtung daher anhand dieser Ziele nach Maßgabe der jeweiligen Befugnisse der innerstaatlichen Gerichte und des Gerichtshofes zu beurteilen.

8 In diesem Rahmen ist die gemeinschaftsrechtliche Bedeutung der Wendung „wird eine derartige Frage … gestellt” zu bestimmen, um festzustellen, unter welchen Voraussetzungen ein innerstaatliches Gericht, dessen Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, zur Anrufung des Gerichtshofes verpflichtet ist.

9 Hierzu ist zunächst darauf hinzuweisen, daß Artikel 177 keinen Rechtsbehelf für die Parteien eines bei einem innerstaatlichen Gericht anhängigen Rechtsstreits eröffnet. Das betreffende Gericht muß also nicht schon allein deshalb, weil eine Partei geltend macht, der Rechtsstreit werfe eine Frage nach der Auslegung des Gemeinschaftsrechts auf, davon ausgehen, daß eine Frage im Sinne von Artikel 177 gestellt wird. Es obliegt ihm vielmehr gegebenenfalls, den Gerichtshof von Amts wegen anzurufen.

10 Zweitens ergibt sich aus dem Verhältnis zwischen den Absätzen 2 und 3 des Artikels 177, daß die in Absatz 3 genannten Gerichte ebenso wie alle anderen innerstaatlichen Gerichte die Frage, ob für den Erlaß ihrer eigenen Entscheidung eine Entscheidung über eine gemeinschaftsrechtliche Frage erforderlich ist, in eigener Zuständigkeit beurteilen. Diese Gerichte sind somit nicht zur Vorlage einer vor ihnen aufgeworfenen Frage nach der Auslegung des Gemeinschaftsrechts verpflichtet, wenn die Frage nicht entscheidungserheblich ist, d. h., wenn die Antwort auf diese Frage, wie auch immer sie ausfällt, keinerlei Einfluß auf die Entscheidung des Rechtsstreits haben kann.

11 Stellen sie dagegen fest, daß das Gemeinschaftsrecht herangezogen werden muß, um eine Entscheidung des bei ihnen anhängigen Rechtsstreits zu ermöglichen, sind sie nach Artikel 177 verpflichtet, dem Gerichtshof jede sich stellende Auslegungsfrage vorzulegen.

12 Die von der Corte di cassazione vorgelegte Frage geht dahin, ob der Verpflichtung nach Artikel 177 Absatz 3 unter bestimmten Umständen gleichwohl Grenzen gezogen sind.

13 Hierzu ist auf das Urteil des Gerichtshofes vom in den verbundenen Rechtssachen 28 bis 30/62 (Da Costa, Slg. 1963, 63, 80, 81) hinzuweisen, in dem es heißt: „Wenn auch Artikel 177 letzter Absatz nationale Gerichte …, deren Entscheidungen nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, ohne jede Einschränkung dazu verpflichtet, dem Gerichtshof alle sich in bei ihnen anhängigen Verfahren stellenden Fragen der Auslegung des Vertrages vorzulegen, so kann die Wirkung, die von einer durch den Gerichtshof gemäß Artikel 177 in einem früheren Verfahren gegebenen Auslegung ausgeht, doch im Einzelfall den inneren Grund dieser Verpflichtung entfallen und sie somit sinnlos erscheinen lassen. Dies gilt insbesondere dann, wenn die gestellte Frage tatsächlich bereits in einem gleichgelagerten Fall Gegenstand einer Vorabentscheidung gewesen ist.”

14 Die gleiche Wirkung kann sich für die Grenzen der in Artikel 177 Absatz 3 aufgestellten Verpflichtung ergeben, wenn bereits eine gesicherte Rechtsprechung des Gerichtshofes vorliegt, durch die die betreffende Rechtsfrage gelöst ist, gleich in welcher Art von Verfahren sich diese Rechtsprechung gebildet hat, und selbst dann, wenn die strittigen Fragen nicht vollkommen identisch sind.

15 Dennoch bleibt es den innerstaatlichen Gerichten, einschließlich der in Artikel 177 Absatz 3 genannten Gerichte, in all diesen Fällen unbenommen, den Gerichtshof anzurufen, wenn sie es für angebracht halten.

16 Schließlich kann die richtige Anwendung des Gemeinschaftsrechts derart offenkundig sein, daß keinerlei Raum für einen vernünftigen Zweifel an der Entscheidung der gestellten Frage bleibt. Das innerstaatliche Gericht darf jedoch nur dann davon ausgehen, daß ein solcher Fall vorliegt, wenn es überzeugt ist, daß auch für die Gerichte der übrigen Mitgliedstaaten und den Gerichtshof die gleiche Gewißheit bestünde. Nur wenn diese Voraussetzungen erfüllt sind, darf das innerstaatliche Gericht davon absehen, diese Frage dem Gerichtshof vorzulegen, und sie stattdessen in eigener Verantwortung lösen.

17 Ob diese Möglichkeit besteht, ist jedoch unter Berücksichtigung der Eigenheiten des Gemeinschaftsrechts und der besonderen Schwierigkeiten seiner Auslegung zu beurteilen.

18 Zunächst ist dem Umstand Rechnung zu tragen, daß die Vorschriften des Gemeinschaftsrechts in mehreren Sprachen abgefaßt sind und daß die verschiedenen sprachlichen Fassungen gleichermaßen verbindlich sind; die Auslegung einer gemeinschaftsrechtlichen Vorschrift erfordert somit einen Vergleich ihrer sprachlichen Fassungen.

19 Sodann ist auch bei genauer Übereinstimmung der sprachlichen Fassungen zu beachten, daß das Gemeinschaftsrecht eine eigene, besondere Terminologie verwendet. Im übrigen ist hervorzuheben, daß Rechtsbegriffe im Gemeinschaftsrecht und in den verschiedenen nationalen Rechten nicht unbedingt den gleichen Gehalt haben müssen.

20 Schließlich ist jede Vorschrift des Gemeinschaftsrechts in ihrem Zusammenhang zu sehen und im Lichte des gesamten Gemeinschaftsrechts, seiner Ziele und seines Entwicklungsstands zur Zeit der Anwendung der betreffenden Vorschrift auszulegen.

21 Nach alledem ist auf die Frage der Corte suprema di cassazione zu antworten, daß Artikel 177 Absatz 3 EWG-Vertrag dahin auszulegen ist, daß ein Gericht, dessen Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, seiner Vorlagepflicht nachkommen muß, wenn in einem bei ihm schwebenden Verfahren eine Frage des Gemeinschaftsrechts gestellt wird, es sei denn, es hat festgestellt, daß die gestellte Frage nicht entscheidungserheblich ist, daß die betreffende gemeinschaftsrechtliche Bestimmung bereits Gegenstand einer Auslegung durch den Gerichtshof war oder daß die richtige Anwendung des Gemeinschaftsrechts derart offenkundig ist, daß für einen vernünftigen Zweifel keinerlei Raum bleibt; ob ein solcher Fall gegeben ist, ist unter Berücksichtigung der Eigenheiten des Gemeinschaftsrechts, der besonderen Schwierigkeiten seiner Auslegung und der Gefahr voneinander abweichender Gerichtsentscheidungen innerhalb der Gemeinschaft zu beurteilen.

Kosten

22 Die Auslagen der Regierung der Italienischen Republik, der Regierung des Königreichs Dänemark und der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig.

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren vor dem Gerichtshof ein Zwischenstreit in dem vor der Corte suprema di cassazione anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:



Fundstelle(n):
HAAAE-48128