Zu den Anforderungen und Folgen einer fehlerhaften Befreiung von einer nachbarschützenden Festsetzung
Gesetze: § 31 Abs 2 BauGB, § 3 BauNVO
Instanzenzug: Sächsisches Oberverwaltungsgericht Az: 1 A 247/12 Urteil
Gründe
1Die auf § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO gestützte Beschwerde hat keinen Erfolg. Die Rechtssache hat nicht die grundsätzliche Bedeutung, die ihr der Beklagte beimisst.
2Das Oberverwaltungsgericht hat die bauaufsichtliche Zustimmung nach § 77 SächsBO nebst Befreiung nach § 34 Abs. 2 i.V.m. § 31 Abs. 2 BauGB für die Änderung der Nutzung eines ehemaligen Wohnheims für Justizbedienstete in ein Freigängerhaus für Strafgefangene aus zwei Gründen aufgehoben. Zum einen verletze die Befreiung den Gebietserhaltungsanspruch der Klägerin aus § 34 Abs. 2 BauGB, weil Justizvollzugsanstalten in faktischen allgemeinen Wohngebieten unzulässig seien (UA Rn. 28 ff.). Zum anderen seien Justizvollzugsanstalten mit - wie hier - 60 Strafgefangenen mit der allgemeinen Zweckbestimmung eines allgemeinen Wohngebiets nicht vereinbar und berührten deshalb die Grundzüge der Planung (UA Rn. 41 ff.). Ist die vorinstanzliche Entscheidung auf mehrere selbständig tragende Begründungen gestützt, so kann die Revision nur zugelassen werden, wenn hinsichtlich jeder dieser Begründungen ein Revisionszulassungsgrund aufgezeigt wird und vorliegt (vgl. BVerwG 11 PKH 28.94 - Buchholz 310 § 132 Abs. 2 Ziff. 1 VwGO Nr. 4; stRspr). Wenn nur bezüglich einer Begründung ein Zulassungsgrund gegeben ist, kann diese Begründung nämlich hinweggedacht werden, ohne dass sich der Ausgang des Verfahrens ändert. Vorliegend scheitert die Beschwerde schon daran, dass der Beklagte zur ersten Begründung keinen Grund für die Zulassung der Grundsatzrevision aufzeigt.
3In der Rechtsprechung des Senats ist geklärt, dass - erstens - bei einer fehlerhaften Befreiung von einer nachbarschützenden Festsetzung eines Bebauungsplans ein nachbarlicher Abwehranspruch gegeben ist, also bei nachbarschützenden Festsetzungen jeder Fehler bei der Anwendung des § 31 Abs. 2 BauGB zur Aufhebung der Baugenehmigung führen muss ( BVerwG 4 C 8.84 - Buchholz 406.19 Nachbarschutz Nr. 71 und BVerwG 4 B 64.98 - Buchholz 406.19 Nachbarschutz Nr. 153), dass - zweitens - Festsetzungen zur Art der baulichen Nutzung unabhängig davon nachbarschützend sind, ob der Nachbar durch die gebietswidrige Nutzung unzumutbar oder auch nur tatsächlich spür- und nachweisbar beeinträchtigt wird ( BVerwG 4 C 28.91 - BVerwGE 94, 151 <161> und vom - BVerwG 4 C 13.94 - BVerwGE 101, 364 <374 f.>; BVerwG 4 B 55.07 - Buchholz 406.12 § 1 BauNVO Nr. 32 Rn. 5), und dass sich - drittens - aus der Gleichstellung geplanter und faktischer Baugebiete im Sinne der Baunutzungsverordnung hinsichtlich der Art der baulichen Nutzung durch § 34 Abs. 2 BauGB ergibt, dass ein identischer Nachbarschutz schon vom Bundesgesetzgeber festgelegt worden ist (Urteil vom a.a.O. S. 156 und BVerwG 4 B 32.11 - BRS 78 Nr. 171).
4In der Rechtsprechung des Senats ist ferner geklärt, dass der Abwehranspruch grundsätzlich bereits durch die Zulassung eines mit der Gebietsfestsetzung unvereinbaren Vorhabens ausgelöst wird, weil hierdurch das nachbarliche Austauschverhältnis gestört und eine Verfremdung des Gebiets eingeleitet wird (Urteil vom a.a.O.). Die von dem Beklagten aufgeworfene Frage, ob das auch gilt, wenn das Vorhaben ein Solitär ist, das keine Gefahr einer schleichenden Umwandlung des Baugebiets in sich trägt, oder ob in einem solchen Fall der Abwehranspruch einen spürbaren oder störenden Eingriff in den nachbarlichen Interessenausgleich voraussetzt (Beschwerdebegründung S. 2), führt nicht zur Zulassung der Revision, weil sie von einer unzutreffenden Prämisse ausgeht. Nach Auffassung des Beklagten besteht die Gefahr des Beginns der Verfremdung eines Baugebiets und entsteht der Gebietserhaltungsanspruch nur dann, wenn das Vorhaben gleichgelagerte Bauwünsche anderer Nutzungsinteressenten erzeugen kann (Beschwerdebegründung S. 4 f.). Das trifft nicht zu. Der Gebietserhaltungsanspruch ist nicht davon abhängig, dass die Zulassung weiterer Vorhaben derselben Art droht. Es genügt die abstrakte Gefahr, dass ein gebietsfremdes Vorhaben weitere gebietsfremde Vorhaben gleich welcher Art nach sich zieht.
Fundstelle(n):
WAAAE-44653