Sozialplanabfindung - Altersdiskriminierung
Gesetze: § 112 BetrVG, § 75 Abs 1 BetrVG, § 10 S 3 Nr 6 AGG
Instanzenzug: Az: 8 Ca 10396/10 Urteilvorgehend Landesarbeitsgericht Köln Az: 4 Sa 246/11 Urteil
Tatbestand
1Die Parteien streiten über die Höhe einer Sozialplanabfindung.
2Die im Mai 1949 geborene Klägerin war bei der Beklagten seit Oktober 1986 in Köln zu einem Bruttomonatsverdienst von zuletzt 3.228,00 Euro beschäftigt. Die Beklagte schloss den dortigen Betrieb und kündigte der Klägerin betriebsbedingt zum .
3Aus Anlass der Stilllegung des Betriebs schlossen die Beklagte und der Betriebsrat am einen Sozialplan. Darin ist bestimmt:
4Die Klägerin hat eine Abfindung in Höhe von 13.200,00 Euro erhalten. Das entspricht dem pauschalen Ausgleich von monatlich 300,00 Euro für die Zeit vom bis zum . Die Regelabfindung hätte 61.881,60 Euro betragen.
5Die Klägerin hat gemeint, sie werde bei der Berechnung der Sozialplanabfindung wegen ihres Alters unzulässig benachteiligt.
6Die Klägerin hat beantragt,
7Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt.
8Die Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen. Mit ihrer Revision verfolgt die Klägerin ihren Zahlungsantrag weiter.
Gründe
9Die Revision ist unbegründet. Die Vorinstanzen haben die Klage zu Recht abgewiesen.
10I. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf eine weitergehende Abfindung nach dem betriebsverfassungsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz (§ 75 Abs. 1 BetrVG). Die unterschiedliche Berechnung der Abfindung für Beschäftigte, die im Anschluss an Leistungen der Arbeitslosenversicherung vorgezogenes Altersruhegeld in Anspruch nehmen können, und jüngeren Arbeitnehmern ist wirksam. Hierin liegt keine mittelbare Benachteiligung dieser Arbeitnehmergruppe iSd. § 3 Abs. 2 AGG.
111. Sozialpläne unterliegen, wie andere Betriebsvereinbarungen, der gerichtlichen Rechtmäßigkeitskontrolle. Sie sind daraufhin zu überprüfen, ob sie mit höherrangigem Recht, wie insbesondere dem betriebsverfassungsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz, vereinbar sind.
12a) Arbeitgeber und Betriebsrat haben nach § 75 Abs. 1 BetrVG darüber zu wachen, dass jede Benachteiligung von Personen aus den in der Vorschrift genannten Gründen unterbleibt. § 75 Abs. 1 BetrVG enthält nicht nur ein Überwachungsgebot, sondern verbietet zugleich Vereinbarungen, durch die Arbeitnehmer aufgrund der dort aufgeführten Merkmale benachteiligt werden. Der Gesetzgeber hat die in § 1 AGG geregelten Benachteiligungsverbote in § 75 Abs. 1 BetrVG übernommen. Die unterschiedliche Behandlung der Betriebsangehörigen aus einem in § 1 AGG genannten Grund ist daher nur unter den im AGG normierten Voraussetzungen zulässig. Sind diese erfüllt, ist auch der betriebsverfassungsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz gewahrt.
13b) Nach § 7 Abs. 1 AGG dürfen Beschäftigte nicht wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes benachteiligt werden. Bestimmungen in Vereinbarungen, die gegen dieses Benachteiligungsverbot verstoßen, sind nach § 7 Abs. 2 AGG unwirksam. Der Begriff der Benachteiligung bestimmt sich nach § 3 AGG. Eine unmittelbare Benachteiligung liegt nach § 3 Abs. 1 Satz 1 AGG vor, wenn eine Person wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes eine weniger günstige Behandlung erfährt, als eine andere Person in einer vergleichbaren Situation erfährt, erfahren hat oder erfahren würde. Eine mittelbare Benachteiligung ist nach § 3 Abs. 2 AGG gegeben, wenn dem Anschein nach neutrale Vorschriften, Kriterien oder Verfahren Personen wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes gegenüber anderen Personen in besonderer Weise benachteiligen können, es sei denn, die betreffenden Vorschriften, Kriterien oder Verfahren sind durch ein rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt und die Mittel sind zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich. Sind diese Voraussetzungen erfüllt, liegt schon tatbestandlich keine Benachteiligung iSd. § 7 Abs. 1 AGG vor.
14c) Die Betriebsparteien können nach § 10 Satz 3 Nr. 6 AGG eine nach Alter oder Betriebszugehörigkeit gestaffelte Abfindungsregelung vorsehen, in der sie die wesentlich vom Alter abhängenden Chancen auf dem Arbeitsmarkt durch eine verhältnismäßig starke Betonung des Lebensalters erkennbar berücksichtigen, oder auch Beschäftigte von den Leistungen des Sozialplans ausschließen, weil diese, gegebenenfalls nach Bezug von Arbeitslosengeld I, rentenberechtigt sind. Mit dieser Vorschrift hat der Gesetzgeber den Betriebsparteien einen Gestaltungs- und Beurteilungsspielraum eröffnet, der es ihnen unter den in der Vorschrift bestimmten Voraussetzungen ermöglicht, das Lebensalter als Bemessungskriterium für die Sozialplanabfindung heranzuziehen.
15aa) Die Begrenzung der Abfindungshöhe für wirtschaftlich abgesicherte Arbeitnehmer ist ein rechtmäßiges Ziel iSd. § 3 Abs. 2 AGG. Sie bewirkt die gerechte Verteilung der nur begrenzt zur Verfügung stehenden Sozialplanleistungen. Mit der Regelung in § 10 Satz 3 Nr. 6 Alt. 2 AGG wollte der Gesetzgeber den Betriebsparteien entsprechend dem zukunftsgerichteten Entschädigungscharakter von Sozialplanleistungen ermöglichen, diese bei Arbeitnehmern, die sofort oder im Anschluss an den Arbeitslosengeldbezug vorgezogenes Altersruhegeld beanspruchen können (rentennahe Arbeitnehmer), stärker an den tatsächlich eintretenden wirtschaftlichen Nachteilen zu orientieren, die ihnen durch den bevorstehenden Arbeitsplatzverlust und eine darauf zurückgehende Arbeitslosigkeit drohen. Durch diese Gestaltungsmöglichkeit kann das Anwachsen der Abfindungshöhe, das mit der Verwendung der Parameter Betriebszugehörigkeit und/oder Lebensalter bei der Bemessung der Abfindung zwangsläufig verbunden ist, bei abnehmender Schutzbedürftigkeit im Interesse der Verteilungsgerechtigkeit zu Gunsten der jüngeren Arbeitnehmer begrenzt werden ( - Rn. 17).
16bb) Die Ausgestaltung des durch § 10 Satz 3 Nr. 6 Alt. 2 AGG eröffneten Gestaltungs- und Beurteilungsspielraums unterliegt allerdings der durch § 3 Abs. 2 AGG vorgegebenen Verhältnismäßigkeitsprüfung. Die von den Betriebsparteien gewählte Sozialplangestaltung muss geeignet sein, das mit § 10 Satz 3 Nr. 6 Alt. 2 AGG verfolgte Ziel tatsächlich zu fördern und darf die Interessen der benachteiligten (Alters-)Gruppe nicht unverhältnismäßig stark vernachlässigen.
172. Die mittelbar an das Lebensalter anknüpfende Abfindungsberechnung im Sozialplan vom stellt keine mittelbare Benachteiligung iSd. § 3 Abs. 2 AGG dar.
18a) Die Regelungen des Sozialplans vom sind nach dem am in Kraft getretenen AGG idF des Gesetzes zur Änderung des Betriebsrentengesetzes und anderer Gesetze vom (BGBl. I S. 2742) und nach § 75 Abs. 1 BetrVG in der seit dem geltenden Fassung zu beurteilen.
19b) Die in § 4 des Sozialplans enthaltene Abfindungsregelung führt zu einer mittelbar auf dem Merkmal des Alters beruhenden Ungleichbehandlung der von den Entlassungen betroffenen Arbeitnehmer. Diese Bestimmung knüpft nicht allein an die Vollendung des 59. Lebensjahres an, sondern setzt zusätzlich das Bestehen eines Anspruchs auf eine gesetzliche Altersrente voraus. Dieser erfordert die Erfüllung der für die jeweilige Rente erforderlichen Mindestversicherungszeit und das Vorliegen der jeweiligen besonderen versicherungsrechtlichen und persönlichen Voraussetzungen (§ 34 Abs. 1 SGB VI). Zu diesen gehören die Anerkennung nach § 2 Abs. 2 SGB IX (§ 37 SGB VI), die Beschäftigung im Bergbau (§ 40 SGB VI), der Bezug von Anpassungsgeld für entlassene Arbeitnehmer des Bergbaus (§ 237 Abs. 1 Nr. 3 Buchst. a Alt. 2 SGB VI), das Vorliegen von Arbeitslosigkeit (§ 237 Abs. 1 Nr. 3 Buchst. a Alt. 1 SGB VI) oder die Beschäftigung in Altersteilzeitarbeit (§ 237 Abs. 1 Nr. 3 Buchst. b SGB VI) sowie die Zugehörigkeit zum weiblichen Geschlecht (§ 237a Abs. 1 SGB VI). Zusätzlich knüpft die Bezugsberechtigung einer Altersrente stets an das Erreichen eines bestimmten Lebensalters an. Die frühestmögliche Inanspruchnahme einer gesetzlichen Altersrente setzt die Vollendung des 60. Lebensjahres voraus (§ 236a Abs. 1 Satz 2, § 237 Abs. 1 Nr. 2 SGB VI; § 237a Abs. 1 Nr. 2, Abs. 3 SGB VI). Andere können frühestens nach Vollendung des 63. Lebensjahres vorzeitig bezogen werden (§ 236 Abs. 1 Satz 2 SGB VI), während für die Rente für langjährig Versicherte und die Regelaltersrente eine vorzeitige Inanspruchnahme ausgeschlossen ist.
20c) Die Voraussetzungen des § 10 Satz 3 Nr. 6 Alt. 2 AGG liegen vor. Von den Regelungen in § 4 des Sozialplans sind nur Arbeitnehmer erfasst, die nach ihrem Ausscheiden aus dem Arbeitsverhältnis und einem sich daran anschließenden Bezug von Arbeitslosengeld einen Anspruch auf eine ggf. auch gekürzte Altersrente haben.
21d) Die Begrenzung der den rentennahen Jahrgängen gewährten Sozialplanleistungen ist angemessen und erforderlich iSd. § 10 Satz 2 AGG.
22aa) Nach der Senatsrechtsprechung haben Sozialpläne eine zukunftsbezogene Ausgleichs- und Überbrückungsfunktion. Geldleistungen in Form einer Abfindung stellen kein zusätzliches Entgelt für die in der Vergangenheit erbrachten Dienste dar, sondern sollen die voraussichtlich entstehenden wirtschaftlichen Folgen eines durch Betriebsänderung verursachten Arbeitsplatzverlustes ausgleichen oder zumindest abmildern. Die Betriebsparteien können diese Nachteile aufgrund ihres Beurteilungs- und Gestaltungsspielraums in typisierter und pauschalierter Form ausgleichen (vgl. - Rn. 31, BAGE 138, 107). Dazu können sie die übermäßige Begünstigung, die ältere Beschäftigte mit langjähriger Betriebszugehörigkeit bei einer am Lebensalter und an der Betriebszugehörigkeit orientierten Abfindungsberechnung erfahren, durch eine Kürzung für rentennahe Jahrgänge zurückführen, um eine aus ihrer Sicht verteilungsgerechte Abmilderung der wirtschaftlichen Folgen der Betriebsänderung zu Gunsten der jüngeren Arbeitnehmer zu ermöglichen ( - Rn. 29).
23bb) Die Gewährung einer ungekürzten Abfindung an die rentennahen Arbeitnehmer hätte diese Beschäftigtengruppe überproportional begünstigt. Die Betriebsparteien konnten bei den betroffenen Jahrgängen davon ausgehen, dass diese selbst bei fortbestehender Arbeitslosigkeit nach dem Bezug von Arbeitslosengeld I durch die Inanspruchnahme einer vorgezogenen Altersrente weitgehend wirtschaftlich abgesichert sind. Eine vergleichbare Absicherung konnten die Betriebsparteien bei den rentenfernen Jahrgängen nicht prognostizieren. Selbst wenn diese eine Anschlussbeschäftigung finden, verlieren die entlassenen Arbeitnehmer ihre bisherige kündigungsschutzrechtliche Stellung und gehören bei künftigen Personalreduzierungen regelmäßig zu den Beschäftigten, denen wegen ihrer kurzen Betriebszugehörigkeit vorrangig gekündigt wird. Überdies können sie regelmäßig bei der Neubegründung eines Arbeitsverhältnisses nicht ihr bisheriges Arbeitsentgelt erzielen, was, ebenso wie die vorangehenden Zeiten einer Arbeitslosigkeit, zu Nachteilen in ihrer Rentenbiografie führt.
24cc) Die Interessen der rentennahen Jahrgänge sind im Sozialplan vom bei der Ausgestaltung der sie betreffenden Ausgleichsregelungen angemessen beachtet worden. Die Betriebsparteien haben diese Beschäftigtengruppe nicht von Sozialplanleistungen ausgeschlossen, sondern ihnen für jeden Monat zwischen der Beendigung des Arbeitsverhältnisses und dem frühesten Zeitpunkt, zu dem ein Anspruch auf eine ggf. gekürzte Altersrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung besteht, eine Abfindung in Höhe von 20 % des sich aus dem Bruttomonatsentgelt ergebenden individuellen Nettoentgelts gewährt. Darüber hinaus erhalten Arbeitnehmer, die - wie die Klägerin - die gesetzliche Rente vorzeitig in Anspruch nehmen, für jeden Monat der vorzeitigen Inanspruchnahme, der mit einer Kürzung der Rentenleistung verbunden ist, einen pauschalen Ausgleich von 300,00 Euro. Dies sind durchaus substantielle Leistungen, die dazu beitragen, eintretende wirtschaftliche Nachteile zu mildern. Eine darüber hinausgehende Entschädigung für die vorzeitige Inanspruchnahme der Altersrente mussten die Betriebsparteien angesichts der nur begrenzt zur Verfügung stehenden Sozialplanmittel und der den anderen Arbeitnehmern voraussichtlich entstehenden Nachteile nicht vorsehen.
253. Ob die Sozialplanregelung zu einer Geschlechtsdiskriminierung führt, bedarf keiner Entscheidung. Eine solche ist weder offensichtlich noch von der Klägerin geltend gemacht worden. Mit ihrem Verweis auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union zu den sog. „Unisextarifen“ ( - C-236/09 - Slg. 2011, I-773) hat sie lediglich versucht, diese Rechtsprechung zur Benachteiligung wegen des Geschlechts auf das Differenzierungsmerkmal Alter zu übertragen und einen ähnlich strengen Maßstab zur Anwendung zu bringen. Dem steht jedoch entgegen, dass sowohl das Unionsrecht als auch das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz an die Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung wegen des Alters andere Anforderungen stellen als an eine solche wegen des Geschlechts.
26II. Der Durchführung eines Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 Abs. 3 AEUV bedarf es nicht.
271. Der Senat hat bereits in seinen Entscheidungen vom (- 1 AZR 832/08 - Rn. 18) und vom (- 1 AZR 198/08 - Rn. 41, BAGE 131, 61) eingehend begründet, dass die zum Verständnis und zur Anwendung von Art. 6 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf (Richtlinie 2000/78/EG) heranzuziehenden Grundsätze offenkundig, jedenfalls aber durch die jüngere Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ( - C-388/07 - [Age Concern England] Slg. 2009, I-1569; - C-411/05 - [Palacios de la Villa] Slg. 2007, I-8531; - C-144/04 - [Mangold] Slg. 2005, I-9981) als geklärt anzusehen sind, so dass ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 Abs. 3 AEUV zur Zulässigkeit einer auf dem Alter beruhenden Ungleichbehandlung bei Sozialplanabfindungen nicht geboten ist.
282. Die Vereinbarkeit der Senatsrechtsprechung mit Unionsrecht wird überdies durch das Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom (- C-152/11 - [Odar]) vollumfänglich bestätigt. In diesem hat der Gerichtshof über die Vereinbarkeit einer Sozialplanregelung mit Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78/EG entschieden. Auch der Gerichtshof geht davon aus, dass eine Ungleichbehandlung von älteren Arbeitnehmern bei der Berechnung der Sozialplanabfindung durch ein legitimes Ziel iSv. Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 2000/78/EG gerechtfertigt sein kann, wenn der Sozialplan die Gewährung eines Ausgleichs für die Zukunft, den Schutz der jüngeren Arbeitnehmer sowie die Unterstützung bei ihrer beruflichen Wiedereingliederung und eine gerechte Verteilung der begrenzten finanziellen Mittel bezweckt ( - [Odar] Rn. 42 f., 45). Eine in Abhängigkeit von Lebensalter und Betriebszugehörigkeit berechnete Abfindung könne bei Arbeitnehmern, die im Zeitpunkt der Entlassung durch den möglichen Bezug einer vorgezogenen gesetzlichen Altersrente wirtschaftlich abgesichert sind, gemindert werden ( - [Odar] Rn. 48). Diese Grundsätze entsprechen der Senatsrechtsprechung.
293. Entgegen der Auffassung der Klägerin ist es unionsrechtlich nicht geboten, ihr als Abfindung zumindest einen Betrag in Höhe der Hälfte der Regelabfindung zuzusprechen. Die Ausführungen des Europäischen Gerichtshofs in der Rechtssache Odar lassen ein solches Verständnis von Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 2000/78/EG nicht zu.
30a) Das Arbeitsgericht München hat den Gerichtshof im Verfahren nach Art. 267 AEUV ua. nach der Vereinbarkeit der im Ausgangsrechtsstreit maßgeblichen Regelung einer als „Vorsorglicher Sozialplan“ bezeichneten Vereinbarung mit den Vorgaben der Richtlinie 2000/78/EG gefragt ( - [Odar] Rn. 30). Nach dieser berechnet sich die Abfindung nach den Faktoren Lebensalter, Betriebszugehörigkeit und Bruttomonatsentgelt (Standardformel). Für Mitarbeiter nach Vollendung des 55. Lebensjahres sieht der „Vorsorgliche Sozialplan“ eine geänderte Berechnung vor, die von der Zeit bis zum frühestmöglichen Renteneintritt abhängig ist (Sonderformel). Sollte die nach der Standardformel berechnete Abfindung größer sein als diejenige nach der Sonderformel, kommt die geringere Summe zur Auszahlung. Diese darf jedoch die Hälfte der Standardformelabfindung nicht unterschreiten.
31b) Der Gerichtshof hat zwar die im „Vorsorglichen Sozialplan“ vorgenommene Berechnung der Abfindung auf der Grundlage des frühestmöglichen Rentenbeginns als mit Unionsrecht für vereinbar gehalten ( - [Odar] Rn. 54). Hierauf kann die Klägerin ihren Anspruch jedoch nicht stützen. Der Gerichtshof hat nicht verlangt, dass die Abfindung von rentennahen Arbeitnehmern stets die Hälfte der für andere Arbeitnehmer geltenden Abfindungsformel betragen muss. Eine solche Aussage enthält die Entscheidung nicht. Die vorgenannten Ausführungen des Europäischen Gerichtshofs sind einzelfallbezogen und beschränken sich auf die Vereinbarkeit einer bestimmten nationalen Sozialplanregelung mit Unionsrecht. Sie enthalten lediglich einen Hinweis des Gerichtshofs an das vorlegende Gericht, mit dem diesem eine sachdienliche Antwort auf seine Vorlagefrage gegeben werden sollte (vgl. - [Sandström] Rn. 35, Slg. 2010, I-2885).
32c) Der Durchführung eines Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 Abs. 3 AEUV bedarf es insoweit nicht. Es ist offensichtlich, dass die von der Klägerin vertretene Sichtweise durch das Unionsrecht nicht vorgegeben wird. Sie würde zu inkohärenten und systemwidrigen Ergebnissen führen. Der Europäische Gerichtshof hat die Minderung der nach der Standardformel berechneten Abfindung bei rentennahen Arbeitnehmern als legitimes Ziel anerkannt. Könnten diese unabhängig von der Zeit bis zu einer vorzeitigen Bezugsmöglichkeit einer vorzeitigen Altersrente stets die Hälfte der nach der Standardformel zu berechnenden Abfindung beanspruchen, erhielten Arbeitnehmer, die bei ihrem Ausscheiden aus dem Arbeitsverhältnis nur noch kurze Zeit vor dem Erreichen der vorzeitigen Altersgrenze stehen, die gleiche Abfindung wie solche Arbeitnehmer, die diesen Zeitpunkt erst nach Ablauf von mehreren Jahren erreichen. Eine solche pauschale Abfindungsberechnung widerspräche der Überbrückungsfunktion von Sozialplänen.
Fundstelle(n):
NAAAE-41876