Leitsatz
1. Im Anwendungsbereich des
Art 23 GG schließt
Art 38 GG aus, die durch die Wahl
bewirkte Legitimation und Einflußnahme auf die Ausübung von Staatsgewalt durch
die Verlagerung von Aufgaben und Befugnissen des Bundestages so zu entleeren,
daß das demokratische Prinzip, soweit es Art 79 Abs 3 in Verbindung
mit Art 20
Abs 1 und
2 GG für
unantastbar erklärt, verletzt wird.
2. Das Demokratieprinzip hindert
die Bundesrepublik Deutschland nicht an einer Mitgliedschaft in einer
– supranational organisierten – zwischenstaatlichen
Gemeinschaft. Voraussetzung der Mitgliedschaft ist aber, daß eine vom Volk
ausgehende Legitimation und Einflußnahme auch innerhalb des Staatenverbundes
gesichert ist.
3. a) Nimmt ein Verbund
demokratischer Staaten hoheitliche Aufgaben wahr und übt dazu hoheitliche
Befugnisse aus, sind es zuvörderst die Staatsvölker der Mitgliedstaaten, die
dies über die nationalen Parlamente demokratisch zu legitimieren haben. Mithin
erfolgt demokratische Legitimation durch die Rückkopplung des Handelns
europäischer Organe an die Parlamente der Mitgliedstaaten; hinzu tritt
– im Maße des Zusammenwachsens der europäischen Nationen
zunehmend – innerhalb des institutionellen Gefüges der Europäischen
Union die Vermittlung demokratischer Legitimation durch das von den Bürgern der
Mitgliedstaaten gewählte Europäische Parlament.
b) Entscheidend ist, daß die
demokratischen Grundlagen der Union schritthaltend mit der Integration
ausgebaut werden und auch im Fortgang der Integration in den Mitgliedstaaten
eine lebendige Demokratie erhalten bleibt.
4. Vermitteln – wie
gegenwärtig – die Staatsvölker über die nationalen Parlamente
demokratische Legitimation, sind der Ausdehnung der Aufgaben und Befugnisse der
Europäischen Gemeinschaften vom demokratischen Prinzip her Grenzen gesetzt. Dem
Deutschen Bundestag müssen Aufgaben und Befugnisse von substantiellem Gewicht
verbleiben.
5. Art 38 GG wird verletzt, wenn ein
Gesetz, das die deutsche Rechtsordnung für die unmittelbare Geltung und
Anwendung von Recht der – supranationalen – Europäischen
Gemeinschaften öffnet, die zur Wahrnehmung übertragenen Rechte und das
beabsichtigte Integrationsprogramm nicht hinreichend bestimmbar festlegt (vgl
BVerfG, 1981-06-23, 2 BvR 1107/77,
BVerfGE 58, 1 <37>). Das bedeutet zugleich, daß
spätere wesentliche Änderungen des im Unions-Vertrag angelegten
Integrationsprogramms und seiner Handlungsermächtigungen nicht mehr vom
Zustimmungsgesetz zu diesem Vertrag gedeckt sind. Das Bundesverfassungsgericht
prüft, ob Rechtsakte der europäischen Einrichtungen und Organe sich in den
Grenzen der ihnen eingeräumten Hoheitsrechte halten oder aus ihnen ausbrechen
(vgl BVerfG, 1987-04-08, 2 BvR 687/85,
BVerfGE 75,
223).
6. Bei der Auslegung von
Befugnisnormen durch Einrichtungen und Organe der Gemeinschaften ist zu
beachten, daß der Unions-Vertrag grundsätzlich zwischen der Wahrnehmung einer
begrenzt eingeräumten Hoheitsbefugnis und der Vertragsänderung unterscheidet,
seine Auslegung deshalb in ihrem Ergebnis nicht einer Vertragserweiterung
gleichkommen darf; eine solche Auslegung von Befugnisnormen würde für
Deutschland keine Bindungswirkung entfalten.
7. Auch Akte einer besonderen,
von der Staatsgewalt der Mitgliedstaaten geschiedenen öffentlichen Gewalt einer
supranationalen Organisation betreffen die Grundrechtsberechtigten in
Deutschland. Sie berühren damit die Gewährleistungen des Grundgesetzes und die
Aufgaben des Bundesverfassungsgerichts, die den Grundrechtsschutz in
Deutschland und insoweit nicht nur gegenüber deutschen Staatsorganen zum
Gegenstand haben (Abweichung von
BVerfGE 58, 1 <27>). Allerdings übt das
Bundesverfassungsgericht seine Rechtsprechung über die Anwendbarkeit von
abgeleitetem Gemeinschaftsrecht in Deutschland in einem
„Kooperationsverhältnis” zum Europäischen Gerichtshof
aus.
8. Der Unionsvertrag begründet
einen Staatenverbund zur Verwirklichung einer immer engeren Union der
– staatlich organisierten – Völker Europas (Art A
EUV, juris = EUVtr), keinen sich auf
ein europäisches Staatsvolk stützenden Staat.
9. a) Art F Abs 3
EUV ermächtigt die Union nicht, sich aus
eigener Macht die Finanzmittel oder sonstige Handlungsmittel zu verschaffen,
die sie zur Erfüllung ihrer Zwecke für erforderlich erachtet.
b) Art L
EUV schließt die Gerichtsbarkeit des
Europäischen Gerichtshofs nur für solche Vorschriften des Unions-Vertrags aus,
die nicht zu Maßnahmen der Union mit Durchgriffswirkung auf den
Grundrechtsträger im Hoheitsbereich der Mitgliedstaaten ermächtigen.
c) Die Bundesrepublik
Deutschland unterwirft sich mit der Ratifikation des Unions-Vertrags nicht
einem unüberschaubaren, in seinem Selbstlauf nicht mehr steuerbaren
„Automatismus” zu einer Währungsunion; der Vertrag eröffnet den
Weg zu einer stufenweisen weiteren Integration der europäischen
Rechtsgemeinschaft, der in jedem weiteren Schritt entweder von gegenwärtig für
das Parlament voraussehbaren Voraussetzungen oder aber von einer weiteren,
parlamentarisch zu beeinflussenden Zustimmung der Bundesregierung
abhängt.
Orientierungssatz
1. Zu Ls 1: Die Einräumung von
Hoheitsbefugnissen an die Europäische Union und die ihr zugehörigen
Gemeinschaften prüft das BVerfG am Maßstab des Gewährleistungsinhalts von
GG Art 38, der auch das Recht umfaßt,
durch die Wahl an der Legitimation der Staatsgewalt durch das Volk auf
Bundesebene mitzuwirken und auf ihre Ausübung Einfluß zu nehmen.
2. Zu Ls 8: Zu beurteilen ist
das Zustimmungsgesetz zu einer Mitgliedschaft Deutschlands in einem
Staatenverbund, nicht die Frage, ob das
GG eine deutsche Mitgliedschaft in einem
europäischen Staat erlaubt oder ausschließt.
Der Unions-Vertrag nimmt auf die
Unabhängigkeit und Souveränität der Mitgliedstaaten Bedacht, indem er die Union
zur Achtung der nationalen Identität ihrer Mitgliedstaaten verpflichtet (EUVtr
Art F Abs 1). Eine Gründung „Vereinigter Staaten von Europa”
ist derzeit nicht beabsichtigt.
Die BRD ist auch nach dem
Inkrafttreten des Unions-Vertrags Mitglied in einem Staatenverbund, dessen
Gemeinschaftsgewalt sich von den Mitgliedstaaten ableitet und im deutschen
Hoheitsbereich nur kraft des deutschen Rechtsanwendungsbefehls verbindlich
wirken kann.
Deutschland könnte seine
Zugehörigkeit an den „auf unbegrenzte Zeit” geschlossenen
Unions-Vertrag (EUVtr Art Q) mit dem Willen zur langfristigen Mitgliedschaft
aber letztlich durch einen gegenläufigen Akt auch wieder aufheben und somit
wahrt es die Qualität eines souveränen Staates aus eigenem Recht sowie den
Status der souveränen Gleichheit mit anderen Staaten.
3. Der Unions-Vertrag genügt den
Bestimmtheitsanforderungen, weil er den künftigen Vollzugsverlauf
– auch im Hinblick auf die Zuweisung weiterer Aufgaben und
Befugnisse an die EU und die
EG – hinreichend voraussehbar
normiert. Der Vertrag folgt durch eine deutliche Unterscheidung der Art und
Intensität der eingeräumten Befugnisse dem Prinzip der begrenzten
Einzelermächtigung; dieses wird durch EUVtr Art F Abs 3, der keine
Kompetenz-Kompetenz der Union begründet, nicht in Frage gestellt.
Ferner ist die Inanspruchnahme
weiterer Aufgaben und Befugnisse durch die Europäische Union und die
Europäischen Gemeinschaften von Vertragsergänzungen und -änderungen abhängig
gemacht und daher der zustimmenden Entscheidung der nationalen Parlamente
vorbehalten.
4. Die Handhabung des Prinzips
der beschränkten Einzelermächtigung wird durch das Subsidiaritätsprinzip
verdeutlicht und weiter begrenzt. Seine Anwendung darf jedoch die hergebrachten
Grundsätze des Gemeinschaftsrechts nicht berühren, da zu diesen eine
Kompetenz-Kompetenz der Gemeinschaft gerade nicht gehört.
Gemeinschaftskompetenzen müssen jeweils durch den Vertrag eingeräumt sein, wie
dies
EGVtr Art 3b Abs 1
festlegt.
Das Subsidiaritätsprinzip
(EGVtr Art 3b Abs 2) begründet mithin
keine Befugnisse der
EG, sondern begrenzt die Ausübung bereits
anderweitig eingeräumter Befugnisse. Besteht eine vertragliche
Handlungsbefugnis, so bestimmt das Subsidiaritätsprinzip, ob und wie die
EG tätig werden darf. Damit sollen die
nationale Identität gewahrt und ihre Befugnisse erhalten bleiben.
5. Neben dem Prinzip der
beschränkten Einzelermächtigung und der Subsidiarität regelt als drittes
grundlegendes Prinzip der Gemeinschaftsverfassung
EGVtr Art 3b Abs 3 den
Verhältnismäßigkeitsgrundsatz mit dem darin enthaltenen Übermaßverbot, um damit
die Aufgaben und Befugnisse ihrer Parlamente gegen ein Übermaß europäischer
Regelungen zu wahren.
6. Der
Vertrag über die Europäische Union trifft eine
völkerrechtliche Vereinbarung über einen auf Fortentwicklung angelegten
mitgliedstaatlichen Verbund. Vollzug und Entwicklung des Vertrages müssen vom
Willen der Vertragspartner getragen sein. Die in
EGVtr Art 102a ff vorgesehene
Wirtschafts- und Währungsunion läßt sich wegen der wechselseitigen Bedingtheit
von vertraglich vereinbarter Währungsunion und vorausgesetzter Entwicklung auch
zu einer Wirtschaftsunion nur bei der stetigen ernsthaften Vollzugsbereitschaft
aller Mitgliedstaaten verwirklichen.
7. Zu Ls 9c: Die im
Unions-Vertrag vorgesehene Einräumung von Aufgaben und Befugnissen europäischer
Organe beläßt dem Deutschen Bundestag noch hinreichende Aufgaben und Befugnisse
von substantiellem politischem Gewicht. Der Vertrag setzt der in ihm angelegten
Dynamik einer weiteren Integration auch eine hinreichend verläßliche Grenze,
die eine Ausgewogenheit zwischen der Struktur gouvernementaler Entscheidung im
europäischen Staatenverbund und den Entscheidungsvorbehalten sowie
Mitentscheidungsrechten des Deutschen Bundestages wahrt. Soweit die
Einflußmöglichkeiten des Bundestages und damit auf die Wahrnehmung von
Hoheitsrechten durch europäische Organe nahezu vollständig zurückgenommen sind
(Ausstattung der Europäischen Zentralbank mit Unabhängigkeit gegenüber den
Mitgliedstaaten gemäß
EGVtr Art 107), so
ist durch diese Einschränkung der demokratischen Legitimation zwar das
Demokratieprinzip berührt. Die nach dem gesetzgeberischen Willen auf die
Institution der Europäischen Zentralbank begrenzte Einräumung unabhängig
gestellter Befugnisse ist jedoch als eine – im Hinblick auf die
Sicherung des in eine Währung gesetzten Einlösevertrauens –
vertretbare und mit
GG Art 79
Abs 3 vereinbare Modifikation des Demokratieprinzips
zu werten (GG Art 88 S 2).
8. Die Europäische Union achtet
nach EUVtr Art F Abs 1 die nationale Identität ihrer Mitgliedstaaten,
deren Regierungssysteme auf demokratischen Grundlagen beruhen. Entscheidend ist
sowohl aus vertraglicher wie aus verfassungsrechtlicher Sicht, daß diese
schritthaltend mit der Integration ausgebaut werden und auch im Fortgang der
Integration in den Mitgliedstaaten eine lebendige Demokratie erhalten
bleibt.