Instanzenzug: OVG Lüneburg Az: 10 LC 107/10 Urteil
Gründe
I.
1Der Kläger begehrt im Wege des Wiederaufgreifens des Verfahrens höhere Ausgleichs- und Flächenzahlungen nach den Stützungsregelungen für Erzeuger bestimmter landwirtschaftlicher Kulturpflanzen.
2Dem Kläger wurden für die Jahre 1993 bis 2004 Ausgleichs- und Flächenzahlungen bewilligt, deren Höhe auf der Grundlage von Verordnungen des Bundes bestimmt wurde, die das Land Niedersachsen für den Getreideanbau in mehrere Erzeugungsregionen mit unterschiedlichen Durchschnittserträgen unterteilten. Für den Kläger ergab sich daraus ein Fördersatz, der unter dem Durchschnitt im Land Niedersachsen lag. Die Bewilligungsbescheide wurden ohne Weiteres bestandskräftig.
3In seinem BVerwG 3 C 10.06 - (BVerwGE 129, 116 = Buchholz 451.513 Sonst. Marktordnungsrecht Nr. 6) hat der Senat inzident entschieden, dass die in der Flächenzahlungs-Verordnung für die Jahre 2000 bis 2004 vorgenommene Unterteilung des Bundesgebiets in Erzeugungsregionen mit dem allgemeinen Gleichheitssatz nicht vereinbar und deshalb nichtig ist; das Land Niedersachsen sei ohne sachliche Rechtfertigung abweichend zum Gebiet der anderen Länder in mehrere Erzeugungsregionen aufgeteilt worden. Die Kulturpflanzen-Ausgleichszahlungs-Verordnung sah für die Jahre 1993 bis 1999 eine im Wesentlichen gleiche Unterteilung in Erzeugungsregionen vor.
4Den im Dezember 2007 gestellten Antrag des Klägers, ihm im Wege des Wiederaufgreifens des Verfahrens für die Jahre 1993 bis 2004 höhere Zahlungen zu gewähren, hat die Beklagte abgelehnt. Die hiergegen erhobene Klage blieb in beiden Instanzen erfolglos. Ein Wiederaufgreifensgrund im Sinne von § 51 Abs. 1 VwVfG liege nicht vor. Ein Wiederaufgreifen im Ermessenswege habe die Beklagte fehlerfrei abgelehnt; ihr Ermessen sei nicht auf Null reduziert.
II.
5Die Beschwerde bleibt ohne Erfolg. Der geltend gemachte Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO liegt nicht vor.
6Grundsätzliche Bedeutung hat eine Rechtssache nur, wenn sie eine für die Revisionsentscheidung erhebliche Frage des revisiblen Rechts aufwirft, die im Interesse der Einheit oder der Fortbildung des Rechts revisionsgerichtlicher Klärung bedarf.
71. Mit der Frage,
ob eine Anwendung bzw. weitere Rechtsauslegung der EuGH-Rechtsprechung (Urteil vom - Rs. C-453/00, Kühne u. Heitz - Slg. 2004, I-858) im Licht von Art. 4 Abs. 3 EUV (ex-Art. 10 EGV) ausgeschlossen ist, wenn nicht alle im Einzelfall benannten Voraussetzungen vorliegen,
möchte der Kläger sinngemäß geklärt wissen, ob sich aus dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit (Art. 4 Abs. 3 EUV) eine unionsrechtliche Verpflichtung zum Wiederaufgreifen eines Verfahrens nur unter den Voraussetzungen ergeben kann, die vom Gerichtshof der Europäischen Union (im Folgenden: Gerichtshof) in seinem Urteil in der Rechtssache Kühne u. Heitz genannt worden sind. Damit knüpft der Kläger zwar daran an, dass das Oberverwaltungsgericht auf der Grundlage dieses Urteils angenommen hat, es sei unverzichtbare Voraussetzung für eine unionsrechtlich gebotene Bestandskraftdurchbrechung, den nationalen Rechtsweg auszuschöpfen (UA S.17). Eine klärungsbedürftige Frage ist damit gleichwohl nicht dargetan.
8Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ist es mangels einschlägiger Unionsregelungen Sache der innerstaatlichen Rechtsordnung, das Verfahren zu regeln, innerhalb dessen der Schutz der Rechte gewährleistet wird, die sich aus dem Unionsrecht ergeben. Diese Verfahrensautonomie wird allerdings durch den Äquivalenz- und den Effektivitätsgrundsatz begrenzt (, Byankov - juris Rn. 69, vom - Rs. C-432/05, Unibet - Slg. 2007, I-2301 Rn. 39, 43 und vom - Rs. C-392/04 und C-422/04, i-21 Germany und Arcor - Slg. 2006, I-8591 Rn. 57). Der Effektivitätsgrundsatz verlangt, dass die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich gemacht oder übermäßig erschwert wird. Dabei anerkennt der Gerichtshof, dass die Bestandskraft zur Rechtssicherheit beiträgt und das Unionsrecht daher nicht verlangt, dass eine Verwaltungsbehörde grundsätzlich verpflichtet ist, eine bestandskräftig gewordene Entscheidung aufzuheben ( a.a.O. Rn. 76, vom - Rs. C-2/06, Kempter - Slg. 2008, I-411 Rn. 37 f., vom a.a.O. Rn. 51 und vom a.a.O. Rn. 24). Vielmehr sind vom nationalen Recht vorgesehene Ausschlussfristen für die Rechtsverfolgung grundsätzlich mit Unionsrecht vereinbar; sie machen die Verwirklichung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich und erschweren sie nicht übermäßig, selbst wenn ihr Ablauf zur vollständigen oder teilweisen Abweisung der Klage führt (, Fantask u.a. - Slg. 1997, I-6783 Rn. 48).
9Liegen besondere Umstände vor, kann sich aus dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit in Gestalt des Effektivitätsgrundsatzes allerdings die Verpflichtung ergeben, eine bestandskräftig gewordene Entscheidung zu überprüfen. Einen solchen Fall hat der Gerichtshof in der Rechtssache Kühne u. Heitz unter den dort genannten Voraussetzungen angenommen und nachfolgend weiter präzisiert ( a.a.O. und vom - Rs. C-234/04, Kapferer - Slg. 2006, I-2605). Er hat darüber hinaus aber auch in anderen besonders gelagerten Fällen angenommen, dass der Grundsatz der Rechtssicherheit die Aufrechterhaltung einer bestandskräftigen Entscheidung nicht mehr rechtfertigen kann. Eine solche Situation hat der Gerichtshof etwa für die Rückforderung unionsrechtswidriger Beihilfen angenommen ( - Ölmühle, Slg. 1998, I-4782 Rn. 23 f.). Eine Verletzung des Effektivitätsgrundsatzes und des Grundsatzes der loyalen Zusammenarbeit in der Aufrechterhaltung einer bestandskräftigen Entscheidung hat er auch im Falle eines gegen die Freizügigkeit verstoßenden, fortdauernden Ausreiseverbots gesehen ( a.a.O. Rn. 78 ff.; parallel, zur Erstreckung der Rechtskraft auf im Urteil getroffene Feststellungen und einer hieraus folgenden Perpetuierung einer möglicherweise unionsrechtswidrigen (Nicht-)Besteuerung , Olimpiclub - juris Rn. 24 ff.; vgl. auch Urteil vom - Rs. C-224/97, Ciola - Slg. 1999, I-2530).
10Die Frage, ob mit den in der Rechtssache Kühne u. Heitz genannten Voraussetzungen abschließend alle Fälle erfasst werden, in denen aus dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit eine unionsrechtliche Verpflichtung zum Wiederaufgreifen eines Verfahrens folgen kann, lässt sich danach auf der Grundlage der Rechtsprechung des Gerichtshofs verneinend beantworten und bedarf auf der Ebene dieser Abstraktion keiner weiteren Klärung.
112. Die weitere in diesem Zusammenhang aufgeworfene Frage,
ob der Kläger nach einem Urteil des Gerichtshofs bzw. der Entscheidung vom (a.a.O.) einen Anspruch auf Wiederaufgreifen des Verfahrens hat,
weist für sich gesehen weder über den Einzelfall hinaus noch bezieht sie sich unmittelbar auf die Klärung der Voraussetzungen und Rechtsfolgen einer bestimmten Norm oder eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes. Sinngemäß möchte der Kläger mit ihr geklärt wissen, ob sich unter den Umständen seines Falles aus dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit in Verbindung mit den Bestimmungen der §§ 48 ff. des Verwaltungsverfahrensgesetzes ein Anspruch auf Wiederaufgreifen des Verfahrens ergibt. Damit hat der Kläger einen über die Rechtsprechung des Gerichtshofs hinausweisenden Klärungsbedarf jedoch nicht in der gebotenen Weise dargelegt (§ 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO).
12In der Rechtsprechung des Gerichtshofs ist im Übrigen geklärt, dass allein der Umstand eines Urteils, aus dem sich die Rechtswidrigkeit parallel gelagerter, bestandskräftiger Entscheidungen ableiten lässt, nicht dazu verpflichtet, diese Entscheidungen einer erneuten Überprüfung zu unterziehen (, AssiDomän Kraft Products - Slg. 1999, I-5398 Rn. 63). Darüber hinaus gilt, dass die Frage der Gewährleistung des Effektivitätsgrundsatzes auf der Grundlage der jeweils einschlägigen nationalen Verfahrensvorschrift, deren Stellung im Verfahren, des Verfahrensablaufs und deren Besonderheiten zu beantworten ist ( a.a.O. Rn. 75). Entsprechend verweist der Gerichtshof in seinem Urteil vom (a.a.O. Rn. 61) zurück auf die Vorschrift des § 48 Abs. 1 VwVfG und die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu den Fällen, in denen die Aufrechterhaltung eines rechtswidrigen Verwaltungsakts schlechthin unerträglich ist und sich das Rücknahmeermessen zu einem Anspruch verdichtet ( a.a.O. Rn. 50, 63 f.). Im Übrigen überantwortet der Gerichtshof die Beurteilung des Einzelfalls - dort eines Bescheides, dessen Rechtswidrigkeit sich ebenfalls aufgrund einer mit dem Grundgesetz nicht vereinbaren Verordnung und darüber hinaus wegen eines vom Gerichtshof festgestellten klaren Unionsrechtsverstoßes ergab - dem nationalen Gericht ( a.a.O. Rn. 71 f.).
133. Schließlich ergibt sich auch aus der Frage,
ob im Rahmen des § 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG eine Ermessensreduzierung auf Null anzunehmen ist, wenn die den rechtswidrigen Verwaltungsakt erlassende Behörde vorsätzlich verfassungswidrig handelt, indem sie in Kenntnis der Verfassungswidrigkeit einer Rechtsverordnung diese als Rechtsgrundlage für ihren Bescheid annimmt,
nicht die geltend gemachte grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache. Liegen einer Frage tatsächliche Annahmen zugrunde, die die Vorinstanz nicht festgestellt hat, so kann die Revision im Hinblick auf diese Frage nicht wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen werden (stRspr, vgl. Beschlüsse vom - BVerwG 8 B 287.99 - BVerwGE 111, 61, vom - BVerwG 9 B 197.98 - juris Rn. 6 und vom - BVerwG 5 B 99.92 - Buchholz 310 § 132 VwGO Nr. 309).
14So verhält es sich hier. Das Oberverwaltungsgericht hat die "vom Kläger behauptete Kenntnis der Rechtswidrigkeit einer Minderbewilligung" nicht für entscheidungserheblich gehalten und dazu folgerichtig keine Feststellungen getroffen (UA S. 22). Das mit der Beschwerde unterstellte vorsätzlich verfassungswidrige Handeln der Behörde findet daher in dem angegriffenen Urteil keine Grundlage, so dass die als klärungsbedürftig aufgeworfene Frage - worauf auch das Oberverwaltungsgericht ausdrücklich hingewiesen hat (UA S. 23) - sich in einem Revisionsverfahren jedenfalls so nicht stellen würde. Das vermeintlich vorsätzlich verfassungswidrige Handeln lässt sich im Übrigen nicht allein daraus folgern, dass der Behörde die einschlägige Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts bekannt war, mit der die Verfassungswidrigkeit der vorgenommenen Aufteilung in Erzeugungsregionen teilweise inzident festgestellt, teilweise aber auch offen gelassen worden war, zumal das Oberverwaltungsgericht selbst die Erkenntnislage im maßgeblichen Zeitpunkt der Bewilligungen dahin gewürdigt hat, dass deren offensichtliche Rechtswidrigkeit noch nicht aufgedeckt gewesen sei. Entsprechend hat die Bundesregierung die Vereinbarkeit der Kulturpflanzen-Ausgleichszahlungs-Verordnung mit dem allgemeinen Gleichheitssatz noch vor dem Bundesverfassungsgericht verteidigt ( - BVerfGE 115, 81 <89 f.>); Gleiches gilt für die Beklagte im Verfahren vor dem a.a.O. juris Rn. 5, 8 <insoweit nicht in BVerwGE und Buchholz veröffentlicht >).
Fundstelle(n):
TAAAE-39895