Revision im Strafverfahren wegen sexuellen Kindesmissbrauchs: Besetzungsrüge bei fehlerhafter Annahme eines Verhinderungsfalles; Rüge der ungesetzlichen Beschränkung der Öffentlichkeit; Erfordernis eines erneuten Ausschließungsbeschlusses des Tatgerichts bei nochmaliger Vernehmung desselben Zeugen nach vorheriger Entlassung
Gesetze: § 338 Nr 6 StPO, § 174 Abs 1 GVG, § 192 Abs 2 GVG, Art 101 Abs 1 S 2 GG
Instanzenzug: Az: (530) 5 Ju Js 343/07 (37/09)
Gründe
1Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in sieben Fällen und wegen sexuellen Missbrauchs von Jugendlichen in drei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und zwei Monaten verurteilt und hiervon vier Monate wegen rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerung für vollstreckt erklärt. Die gegen dieses Urteil gerichtete Revision des Angeklagten führt mit einer Verfahrensrüge nach § 338 Nr. 6 StPO (siehe 3.) zum Erfolg.
21. Nach den Feststellungen des Landgerichts nahm der Angeklagte im Zeitraum Dezember 2004 bis Januar 2007 bei insgesamt zehn unterschiedlichen Gelegenheiten an zur Tatzeit noch nicht 14 Jahre alten Jungen sexuelle Handlungen bis hin zum Oralverkehr vor. Die Strafkammer hat nicht auszuschließen vermocht, dass der Angeklagte einen der drei Geschädigten dessen Angaben entsprechend für 14 Jahre alt gehalten hat.
32. Zutreffend macht der Beschwerdeführer geltend, durch die fehlerhafte Annahme des Verhinderungsfalls des ordentlichen Vorsitzenden sei der Angeklagte seinem gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) entzogen worden. Entgegen der Ansicht des Generalbundesanwalts stellt sich die Feststellung des Verhinderungsfalls durch die stellvertretende Vorsitzende als unvertretbar und damit willkürlich dar.
4a) Eine Verhinderung des ordentlichen Vorsitzenden war durch dessen an die stellvertretende Vorsitzende gerichtete E-Mail vom nicht ansatzweise dargetan. In dieser hatte er am Tag vor dem Ablauf der dreiwöchigen Frist des § 229 Abs. 1 StPO lediglich darauf hingewiesen, er befinde sich „weit weg von Berlin in alpiner Abgeschiedenheit“, die Frontscheibe seines Autos sei zerbrochen, zudem sei eines der Kinder krank; eine Prognose, wann er in Berlin sein werde, sei „im Moment nicht möglich“. Die E-Mail beschloss er mit dem Satz: „Treffen Sie eine weise Entscheidung!“ Angaben dazu, wo er sich zu diesem Zeitpunkt befand, hat der Vorsitzende weder in dieser E-Mail noch sonst gemacht. Auch war er für die stellvertretende Vorsitzende telefonisch nicht erreichbar und beantwortete eine ihm übersandte E-Mail bis zum Folgetag, dem Tag des Ablaufs der Drei-Wochen-Frist, nicht. Bei diesem Verhalten des Vorsitzenden liegt es fern, einen Verhinderungsfall gemäß § 192 Abs. 2 GVG anzunehmen. Dies gilt namentlich, weil die Strafkammer die Möglichkeit gehabt hätte, die Monatsfrist des § 229 Abs. 2 StPO in Anspruch zu nehmen und hierzu bei der gegebenen Verfahrenslage, in der keine seriösen entgegenstehenden Belange vorlagen, verpflichtet war.
5b) Allerdings erscheint zweifelhaft, ob diese Rüge zum Erfolg zu führen vermag. Ihre Zulässigkeit könnte – etwa unter dem Gesichtspunkt der Verwirkung oder eines fehlenden Rechtsschutzbedürfnisses (vgl. Schneider in KK, StPO, 6. Aufl., § 238 Rn. 33) – letztlich daran scheitern, dass der Beschwerdeführer in der Hauptverhandlung der Feststellung des Verhinderungsfalls nicht widersprochen oder einen Besetzungseinwand erhoben, sondern vielmehr durch ein – in der Sache begründetes, vom Landgericht mit Unrecht verworfenes – Ablehnungsgesuch gegen den abwesenden ordentlichen Vorsitzenden deutlich gemacht hat, gerade nicht länger mit diesem verhandeln zu wollen.
6c) Dies braucht der Senat hier jedoch ebenso wenig zu entscheiden wie die Frage, in welchem Umfang die jedenfalls hinsichtlich der Taten zum Nachteil des Nebenklägers S. durchgreifende Rüge des § 261 StPO, mit der der Beschwerdeführer zu Recht die beweiswürdigende Berücksichtigung der nicht im Strengbeweisverfahren in die Hauptverhandlung eingeführten Angaben der Nebenklagevertreterin beanstandet, zur Urteilsaufhebung führen muss.
73. Denn die Revision des Angeklagten hat jedenfalls mit der Öffentlichkeitsrüge in vollem Umfang Erfolg.
8a) Dieser Rüge liegt folgendes Verfahrensgeschehen zu Grunde:
9Nachdem sich der Angeklagte bereits zur Sache eingelassen hatte, beantragte seine Verteidigerin am ersten Hauptverhandlungstag, während der beabsichtigten Einlassung des Angeklagten zu von ihm im Laufe des Ermittlungsverfahrens geleisteter Aufklärungshilfe, insbesondere zu einer umfänglichen V-Mann-Tätigkeit für das Landeskriminalamt Berlin, die Öffentlichkeit auszuschließen. Zur Begründung bezog sie sich sinngemäß auf die Vorschrift des § 171b GVG. Der öffentlichen Erörterung dieser Umstände stünden, so die Antragsbegründung, schutzwürdige Interessen des Angeklagten entgegen, nämlich das Interesse, „nicht wegen seiner sich aus § 1 VerpflG ergebenden Tätigkeit öffentlichen Anfeindungen, Repressionen oder gar weitergehenden Angriffen ausgesetzt zu sein“. Zudem verwies die Verteidigerin in der Antragsbegründung auf § 172 Nr. 1 Variante 2 GVG. Diesem Antrag gab die Strafkammer mit Beschluss vom statt. Zur Begründung stützte sie sich zusätzlich auf § 172 Nr. 1a GVG und führte aus, dass die seitens des Angeklagten beabsichtigten Angaben womöglich allgemeine Schlüsse über den Einsatz von Vertrauenspersonen zulassen würden. Zudem sei „angesichts des angedeuteten Umfangs der geleisteten Aufklärungshilfe“ eine Gefährdung von Leib oder Leben des Angeklagten durch Personen, die er belastet hat, möglich. Im Rahmen der Ermessenserwägungen stellte die Strafkammer unter anderem darauf ab, dass die Öffentlichkeit „lediglich für die Verhandlung von rechtsfolgerelevanten Vorgängen, nicht aber für die Erörterung der Schuldfrage“ ausgeschlossen werde. Unter Bezugnahme auf diesen Beschluss wurde an diesem und an mehreren weiteren Hauptverhandlungstagen die Öffentlichkeit für die Dauer der Einlassung des Angeklagten zu diesem Themenkomplex ausgeschlossen.
10Am 16. Verhandlungstag, dem , beantragte die Verteidigerin des Angeklagten, die Öffentlichkeit auch während der Vernehmung des Polizeibeamten B. zur vom Angeklagten geleisteten Aufklärungshilfe aus den bereits hinsichtlich der Einlassung des Angeklagten angeführten Gründen auszuschließen. Die Strafkammer gab diesem Antrag durch Beschluss vom gleichen Tage statt, stützte dies auf § 172 Nr. 1a GVG und nahm im Übrigen Bezug auf den Beschluss vom über den Ausschluss der Öffentlichkeit während der Einlassung des Angeklagten. Im weiteren Verlauf der Hauptverhandlung wurden zahlreiche andere Polizeibeamte zur vom Angeklagten geleisteten Aufklärungshilfe vernommen. Bei diesen Zeugen wurde zu Beginn der Vernehmung auf Antrag der Verteidigerin des Angeklagten die Öffentlichkeit aufgrund eines Gerichtsbeschlusses ausgeschlossen, in dessen Begründung wiederum jeweils auf den Beschluss vom Bezug genommen wurde. Einige dieser Vernehmungen wurden am Ende eines Hauptverhandlungstages unterbrochen und an einem späteren Hauptverhandlungstag fortgesetzt; dabei wurde die Öffentlichkeit aufgrund einer Anordnung des Vorsitzenden unter Bezugnahme auf den bereits gefassten Beschluss ausgeschlossen.
11Am 19. Hauptverhandlungstag, dem , wurde der Polizeibeamte H. zu der vom Angeklagten geleisteten Aufklärungshilfe vernommen. Die Strafkammer fasste auch insoweit einen gleichlautenden Beschluss über den Ausschluss der Öffentlichkeit unter Bezugnahme auf den Beschluss vom und vernahm den Zeugen in nichtöffentlicher Sitzung. Am Ende des Hauptverhandlungstages wurde die Vernehmung des Zeugen H. unterbrochen und der Zeuge zum nächsten Verhandlungstag zwecks Fortsetzung der Vernehmung geladen. Bei dieser wurde die Öffentlichkeit unter Bezugnahme auf den bereits gefassten Kammerbeschluss ausgeschlossen. Am Ende dieses Hauptverhandlungstages wurde festgestellt, dass der Zeuge H. unvereidigt bleibe. Er wurde sodann „im allseitigen Einverständnis entlassen“. Anschließend wurde die Öffentlichkeit wiederhergestellt. Am folgenden 21. Hauptverhandlungstag, dem , wurde der Zeuge H. erneut vernommen. Nachdem er in den Saal gerufen worden war, ordnete der Vorsitzende den Ausschluss der Öffentlichkeit an. Eine Bezugnahme auf den bei der vorangegangenen Vernehmung gefassten Gerichtsbeschluss erfolgte nicht. Sodann begann das Landgericht – ohne Belehrungen und Feststellungen zur Person – in nichtöffentlicher Sitzung mit der Vernehmung des Zeugen. Nachdem diese schließlich nach einiger Zeit unterbrochen worden war, wurde die Öffentlichkeit wieder hergestellt. Die Vernehmung des Zeugen H. wurde an einem weiteren Verhandlungstag, dem , wiederum in nichtöffentlicher Verhandlung fortgesetzt, wobei zu Beginn vom Vorsitzenden auf den Beschluss vom Bezug genommen wurde. Anschließend wurde erneut die Nichtvereidigung des Zeugen beschlossen und der Zeuge entlassen. Sodann wurde die Öffentlichkeit wieder hergestellt.
12b) Die auf § 338 Nr. 6 StPO gestützte Rüge ist begründet. Die Ausschließung der Öffentlichkeit bei der Vernehmung des Zeugen H. war jedenfalls am nicht durch einen den Anforderungen des § 174 Abs. 1 GVG entsprechenden Beschluss gedeckt.
13Zwar gilt ein Beschluss, der die Ausschließung der Öffentlichkeit für die Dauer der Vernehmung eines Zeugen anordnet, grundsätzlich bis zur Beendigung der Vernehmung und deckt den Öffentlichkeitsausschluss auch dann, wenn eine Vernehmung unterbrochen und an einem anderen Verhandlungstag fortgesetzt wird. Wenn jedoch derselbe Zeuge nach Beendigung der Vernehmung in der laufenden Hauptverhandlung nochmals unter Ausschluss der Öffentlichkeit vernommen werden soll, ist grundsätzlich gemäß § 174 Abs. 1 GVG ein neuer Gerichtsbeschluss erforderlich und mithin eine Anordnung des Vorsitzenden nicht ausreichend, selbst wenn in dieser, was hier nicht geschehen ist, auf den vorausgegangenen Ausschließungsbeschluss Bezug genommen wird (vgl. , StV 2012, 140 mwN).
14Diesen Anforderungen ist hier nicht Genüge getan. Am 20. Hauptverhandlungstag, dem , wurde am Ende der Vernehmung des Zeugen H. zunächst festgestellt, dass dieser unvereidigt bleibe, und der Zeuge sodann ohne den – bei anderen Vernehmungsunterbrechungen verwendeten – Zusatz „für heute“ entlassen. Damit war die Vernehmung des Zeugen abgeschlossen; für seine nochmalige Vernehmung in nichtöffentlicher Sitzung hätte es somit eines neuen Beschlusses gemäß § 174 Abs. 1 Satz 2 GVG bedurft. Wie sich aus dem Protokoll vom ergibt, ist die Öffentlichkeit bei der an diesem Tag erfolgten erneuten Vernehmung des Zeugen H. indessen lediglich aufgrund einer Anordnung des Vorsitzenden ausgeschlossen worden, die zudem auch ihrerseits nicht etwa – anders als bei anderen fortgesetzten Vernehmungen – begründet worden war.
15Die von der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs anerkannte Ausnahme für Fälle, in denen dem Protokoll zu entnehmen ist, dass die Entlassung des Zeugen sofort zurückgenommen wurde und die für den Ausschließungsgrund maßgebliche Interessenlage fortbestand, so dass sich die zusätzliche Anhörung zusammen mit der vorausgegangenen als eine einheitliche Vernehmung darstellt (vgl. BGH aaO; , StV 2008, 126; , NStZ 1992, 447), liegt nach dem Hauptverhandlungsprotokoll vom , das keine Ladung des Zeugen zu einem weiteren Termin und auch sonst keinen Hinweis auf eine sofortige Rücknahme der Entlassung enthält, nicht vor.
16c) Der Rüge steht hier auch nicht entgegen, dass der Ausschluss der Öffentlichkeit ursprünglich aufgrund eines Antrages der Verteidigerin des Angeklagten erfolgte. Ein insoweit in anderen Konstellationen womöglich denkbarer Rügeverlust infolge Verwirkung (vgl. , BGHR StPO § 338 Nr. 6 Ausschluss 5 mwN) scheidet im vorliegenden Fall bereits deshalb aus, weil der Ausschluss der Öffentlichkeit am ohne Bezugnahme auf den vorherigen Gerichtsbeschluss und den Antrag des Beschwerdeführers erfolgte. Hierdurch fehlt nicht nur der formale Zusammenhang zu dem Antrag des Angeklagten; es bleibt auch offen, ob der Zeuge in der fraglichen Vernehmung nur zu dem von Antrag und Gerichtsbeschluss umfassten Beweisthema oder aber auch zu anderen erheblichen Wahrnehmungen – etwa seinen Erkenntnissen im Rahmen der gegen den Angeklagten geführten Ermittlungen – befragt wurde.
17d) Der Verfahrensfehler führt zur umfassenden Aufhebung des Urteils. Eine nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs denkbare Ausnahme eines auch für einen selbständigen Teil der Entscheidung – etwa den Rechtsfolgenausspruch – möglichen denkgesetzlichen Ausschlusses des Beruhens auf dem absoluten Revisionsgrund (vgl. BGH, Beschlüsse vom – 1 StR 34/12, NStZ 2012, 587, und vom – 3 StR 163/07, BGHR StPO § 338 Beruhen 2, jeweils mwN) kommt hier nicht in Betracht. Ein Einfluss des Verfahrensfehlers ist weder bezogen auf den Strafausspruch noch hinsichtlich des Schuldspruchs denkgesetzlich ausgeschlossen. Für einen dafür notwendigen klar begrenzten Gegenstand der in Frage stehenden Zeugenvernehmung sind hier keine ausreichend deutlichen Anhaltspunkte vorhanden. Daher steht hier einer freibeweislichen Klärung dieser Frage – ebenso wie einer entsprechenden Darlegungsobliegenheit des Revisionsführers – das revisionsrechtliche Rekonstruktionsverbot entgegen.
184. Für die neue Verhandlung weist der Senat darauf hin, dass die Aufklärungspflicht es nicht gebietet, zur Feststellung der Voraussetzungen des § 46b Abs. 1 StGB und der nach § 46b Abs. 2 StGB maßgeblichen Umstände zum Verlauf sich (mittelbar) aus den Angaben des Angeklagten ergebender Ermittlungsverfahren gegen Dritte ausufernd Beweis zu erheben. Solches widerspricht vielmehr dem Gebot zügiger und effektiver Verfahrensgestaltung.
Basdorf Sander Schneider
Dölp Bellay
Diese Entscheidung steht in Bezug zu
Fundstelle(n):
HAAAE-35239