Die besondere Zugangsvoraussetzung in § 69 Abs. 4 Satz 1 FGO gilt auch für Anträge auf Aufhebung der Vollziehung
Leitsatz
Die Regelung in § 69 Abs. 4 Satz 1 FGO, wonach ein beim FG gestellter Antrag auf Aussetzung der Vollziehung grundsätzlich nur zulässig ist, wenn die Finanzbehörde zuvor einen bei ihr gestellten Antrag auf Aussetzung der Vollziehung ganz oder teilweise abgelehnt hat, gilt auch für Anträge auf Aufhebung der Vollziehung.
Gesetze: FGO § 69 Abs. 3 und Abs. 4 Satz 1
Instanzenzug:
Gründe
I.
1 Der Antragsteller und Beschwerdeführer (Antragsteller) führt beim Schleswig-Holsteinischen Finanzgericht (FG) ein Klageverfahren, das die Aufhebung eines geänderten Umsatzsteuerbescheides für das Streitjahr 2000 vom und der hierzu ergangenen Einspruchsentscheidung des Antragsgegners und Beschwerdegegners (Finanzamt —FA—) zum Gegenstand hat. Der Antragsteller hat die aus der angefochtenen Änderung resultierende Umsatzsteuernachforderung entrichtet.
2 Am Tag der Klageerhebung beantragte der Antragsteller beim FG die Aufhebung der Vollziehung des angefochtenen Umsatzsteuerbescheides für 2000 ohne Sicherheitsleistung. Das FG verwarf den Antrag mit Beschluss vom 4 V 184/11 als unzulässig mit der Begründung, dass die besondere Zugangsvoraussetzung des § 69 Abs. 4 der Finanzgerichtsordnung (FGO) nicht erfüllt sei. Denn im Zeitpunkt der Antragstellung beim FG habe das FA einen Antrag auf Aufhebung der Vollziehung des angefochtenen Umsatzsteuerbescheides weder ganz noch teilweise zuvor abgelehnt. Auch die in § 69 Abs. 4 Satz 2 FGO vorgesehene Ausnahmeregelung greife nicht ein.
3 Das FG hat nach § 128 Abs. 3 Satz 2 i.V.m. § 115 Abs. 2 Nr. 2 FGO die Beschwerde gegen seinen Beschluss zugelassen unter Hinweis darauf, dass § 69 Abs. 4 Satz 1 FGO insofern eine Gesetzeslücke enthalte, als die darin geregelte besondere Zugangsvoraussetzung nach dem Gesetzeswortlaut nur für den Antrag auf Aussetzung der Vollziehung, nicht hingegen für den Antrag auf Aufhebung der Vollziehung gelte. Die Frage der entsprechenden Anwendung dieser besonderen Zugangsvoraussetzung auf das Instrument der Aufhebung der Vollziehung scheine höchstrichterlich noch ungeklärt zu sein. Das FG half der Beschwerde des Antragstellers nicht ab (Beschluss vom 4 V 184/11).
4 Zur Begründung der Beschwerde trägt der Antragsteller vor, das FG habe den Antrag auf Aufhebung der Vollziehung zu Unrecht als unzulässig zurückgewiesen. Denn das FG nehme in unzutreffender Weise an, dass besondere Zugangsvoraussetzungen für seine unmittelbare Anrufung bestünden. Die Einschränkung des § 69 Abs. 4 FGO sei nach Wortlaut, Systematik und Zweck allein auf das Aussetzungsverfahren, nicht auf das Aufhebungsverfahren zugeschnitten. Auch für verfahrensrechtliche Prinzipien gelte das Prinzip der Tatbestandsmäßigkeit und Vorhersehbarkeit: Belastende Eingriffe in die Rechtsstellung der Steuerbürger seien nur dort gerechtfertigt, wo sie sich mit der gebotenen Eindeutigkeit dem Gesetz entnehmen ließen.
5 Das FA hat sich nicht am Beschwerdeverfahren beteiligt.
II.
6 Die zulässige Beschwerde ist unbegründet.
7 1. Die Beschwerde ist zulässig.
8 Insbesondere ist sie fristgerecht innerhalb der insoweit geltenden Zweiwochenfrist des § 129 Abs. 1 FGO eingelegt worden. Dem Antragsteller wurde der Beschluss des FG am zugestellt. Er hat die Beschwerde am —und damit rechtzeitig— beim Bundesfinanzhof (BFH) erhoben, was nach § 129 Abs. 2 FGO gleichfalls zulässig ist.
9 2. Die Beschwerde ist aber nicht begründet, weil entgegen der Rechtsauffassung des Antragstellers ein beim FG gestellter Antrag auf Aufhebung der Vollziehung grundsätzlich nur zulässig ist, wenn das FA zuvor einen bei ihm gestellten Antrag auf Aufhebung der Vollziehung abgelehnt hat (vgl. § 69 Abs. 4 Satz 1 FGO).
10 a) Nach § 69 Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 1 FGO kann das Gericht der Hauptsache die Vollziehung des angefochtenen Verwaltungsaktes ganz oder teilweise aussetzen, wobei der Antrag schon vor Erhebung der Klage gestellt werden kann (§ 69 Abs. 3 Satz 2 FGO). Ist der Verwaltungsakt im Zeitpunkt der Entscheidung schon vollzogen, kann das Gericht nach § 69 Abs. 3 Satz 3 FGO ganz oder teilweise die Aufhebung der Vollziehung, auch gegen Sicherheit, anordnen. Der Antrag nach § 69 Abs. 3 FGO ist gemäß § 69 Abs. 4 Satz 1 FGO nur zulässig, wenn die Behörde einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung ganz oder zum Teil abgelehnt hat. Dies gilt nicht, wenn die Finanzbehörde über den Antrag ohne Mitteilung eines zureichenden Grundes in angemessener Frist sachlich nicht entschieden hat (§ 69 Abs. 4 Satz 2 Nr. 1 FGO) oder eine Vollstreckung droht (§ 69 Abs. 4 Satz 2 Nr. 2 FGO).
11 b) Der Wortlaut der Bestimmung des § 69 Abs. 4 Satz 1 FGO verbietet entgegen der Ansicht des Antragstellers nicht die Anwendung dieser Regelung auch auf Anträge zur Aufhebung der Vollziehung.
12 Denn durch die Bezugnahme in § 69 Abs. 4 Satz 1 FGO auf § 69 Abs. 3 FGO —und somit auch auf den in § 69 Abs. 3 Satz 3 FGO genannten Antrag auf Aufhebung der Vollziehung— wird dem Rechtsanwender hinreichend deutlich, dass gesetzestechnisch mit dem lediglich so bezeichneten Antrag auf Aussetzung der Vollziehung in § 69 Abs. 4 Satz 1 FGO auch der Antrag auf Aufhebung der Vollziehung umfasst sein soll.
13 Diese gesetzessystematische Auslegung entspricht auch der Auslegung der Vorschrift nach deren Sinn und Zweck. § 69 Abs. 4 Satz 1 FGO hat das Ziel, die Gerichte dadurch zu entlasten, dass die Finanzbehörde mit den für die Gewährung bzw. Ablehnung der Aussetzung der Vollziehung wesentlichen Gründen befasst worden ist und eine Aussetzung der Vollziehung ganz oder teilweise abgelehnt hat (vgl. z.B. , BFH/NV 2000, 827, unter II.1., sowie Gräber/Koch, Finanzgerichtsordnung, 7. Aufl., § 69 Rz 70, m.w.N.). Dieser Entlastungszweck gilt nicht nur für Anträge auf Aussetzung der Vollziehung, sondern auch für Anträge auf Aufhebung der Vollziehung. Daher erfasst die besondere Zugangsvoraussetzung nach § 69 Abs. 4 Satz 1 FGO nach ständiger Rechtsprechung gleichermaßen auch Anträge auf Aufhebung der Vollziehung (vgl. z.B. BFH-Beschlüsse vom I B 182/02, BFH/NV 2004, 815, unter II.1.; vom VI B 279/99, BFH/NV 2001, 1237, sowie vom V B 60/88, BFHE 155, 503, BStBl II 1989, 396, unter 2.b zur Vorgängerregelung in Art. 3 § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 des Gesetzes zur Entlastung der Gerichte in der Verwaltungs- und Finanzgerichtsbarkeit).
14 Auch in der Literatur wird —soweit ersichtlich— einhellig die Auffassung vertreten, dass die besondere Zugangsvoraussetzung des § 69 Abs. 4 Satz 1 FGO auch für Anträge auf Aufhebung der Vollziehung gilt (vgl. Gräber/Koch, a.a.O., § 69 Rz 70; Birkenfeld in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 69 FGO Rz 1071, 1073; Dumke in Schwarz, FGO § 69 Rz 11; Gosch in Beermann/ Gosch, FGO § 69 Rz 272, und Seer in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 69 FGO Rz 70).
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
Fundstelle(n):
BStBl 2013 II Seite 390
AO-StB 2013 S. 178 Nr. 6
BFH/NV 2013 S. 1035 Nr. 6
BFH/PR 2013 S. 261 Nr. 7
BStBl II 2013 S. 390 Nr. 10
DB 2013 S. 6 Nr. 16
DB 2013 S. 917 Nr. 17
DStRE 2013 S. 757 Nr. 12
HFR 2013 S. 505 Nr. 6
NWB-Eilnachricht Nr. 17/2013 S. 1270
StB 2013 S. 142 Nr. 5
StBW 2013 S. 389 Nr. 9
Ubg 2013 S. 467 Nr. 7
BAAAE-34149