BGH Beschluss v. - 5 StR 39/13

Beweisaufnahme im Strafverfahren: Ablehnung der Einholung eines Sachverständigengutachtens zur Aussagefähigkeit des Zeugen unter Verweis auf die eigene Sachkunde des Gerichts

Gesetze: § 244 Abs 4 S 1 StPO

Instanzenzug: Az: 3 KLs 27/12

Gründe

1Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes in Tateinheit mit sexueller Nötigung in fünf Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt. Gegen das Urteil wendet sich der Angeklagte mit seiner Revision. Er beanstandet das Verfahren und rügt die Verletzung sachlichen Rechts. Das Rechtsmittel führt zur Aufhebung des Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Landgericht.

21. Nach den durch das Landgericht getroffenen Feststellungen vergewaltigte der bislang unbestrafte Angeklagte den am geborenen Nebenkläger zwischen Anfang 1992 und Januar 1993 in mindestens fünf Fällen brutal, wobei er in einem Fall dem Hund des Kindes zur Verstärkung seiner Drohungen das Rückgrat brach und in einem anderen Fall Zigaretten auf der Haut des Kindes ausdrückte. Tatort war ein von den Beteiligten als „Hexenhäuschen“ bezeichnetes Haus in W., in dem der Angeklagte mit seiner damaligen Lebensgefährtin, der Mutter des Nebenklägers, im fraglichen Zeitraum wohnte.

3Der Nebenkläger war schon im Kindesalter verhaltensauffällig. Auf Anraten des behandelnden Psychologen und des Jugendamts wurde er 1992 aus der Familie herausgenommen und in die Obhut der Großmutter gegeben, hielt sich aber auch beim Angeklagten und seiner Mutter auf. Er befand sich mehrfach, auch stationär, in jugendpsychiatrischer Behandlung. So wurde er aus einer psychiatrischen Einrichtung im Kindesalter am entlassen und kehrte in die Obhut der Großmutter zurück. Einzelheiten der sexuellen Übergriffe teilte der Nebenkläger erstmals als Erwachsener seiner damaligen Lebensgefährtin und, nachdem sein Verteidiger solches pauschal in einem gegen ihn gerichteten Strafverfahren thematisiert hatte, im Rahmen einer staatsanwaltschaftlichen Vernehmung vom mit.

42. Die Revision dringt mit einer Verfahrensrüge durch.

5a) Folgendes Geschehen liegt zugrunde:

6Der Verteidiger hatte die Einholung eines Gutachtens zur Glaubhaftigkeit der belastenden Angaben des Nebenklägers beantragt. Dieser leide an einer antisozialen bzw. dissozialen Persönlichkeitsstörung, die sich aus bereits im frühen Kindesalter aufgetretenem aggressiv-dissozialem Verhalten herleite. Hauptmerkmal der Persönlichkeitsstörung sei ein tiefgreifendes Muster von Missachtung und Verletzung der Rechte anderer, das in der Kindheit beginne und bis ins Erwachsenenalter fortdauere. Weil Täuschung und Manipulation zentrale Merkmale dieser Störung seien, müssten die Tatschilderungen zu Lasten des Angeklagten als höchst unzuverlässig gelten.

7Das Landgericht hat den Antrag zurückgewiesen, weil es über die erforderliche Sachkunde selbst verfüge (§ 244 Abs. 4 Satz 1 StPO). Die von der Verteidigung behauptete Persönlichkeitsstörung möge bei dem Nebenkläger vorliegen. Jedoch seien Täuschung und Manipulation gerade keine zentralen Merkmale dieser Störung. Die Hinzuziehung medizinischer Hilfe sei nicht erforderlich, weil die Aussage des Nebenklägers eine Vielzahl von Realkennzeichen aufweise, in hohem Maße konstant sei und im Randbereich durch Bekundungen anderer Zeugen gestützt werde.

8b) Entgegen der Auffassung des Generalbundesanwalts ist die Rüge zulässig im Sinne des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO erhoben. Zwar bedarf es hierfür – was die Revision auch nicht verkennt – grundsätzlich des Vortrags der Einwilligung der zu begutachtenden Person in die beantragte Untersuchung (vgl. zuletzt mwN). Das kann aber dann nicht gelten, wenn einem Sachverständigen ersichtlich unabhängig von einer Einwilligung des Zeugen die erforderlichen Erkenntnisse auch ohne persönliche Begutachtung verschafft werden können (vgl. dazu BGH, Beschlüsse vom – 5 StR 119/90, BGHR StPO § 244 Abs. 3 Satz 2 Ungeeignetheit 7, vom – 5 StR 401/90, BGHR StPO § 244 Abs. 3 Satz 1 Unzulässigkeit 6, vom – 3 StR 364/08, NStZ 2009, 346, 347). So liegt es hier.

9c) Die Rüge hat auch in der Sache Erfolg. Mit der gegebenen Begründung durfte der Beweisantrag nicht abgelehnt werden. Zwar kann sich das Gericht bei der Beurteilung von Zeugenaussagen grundsätzlich eigene Sachkunde zutrauen; etwas anderes gilt aber, wenn besondere Umstände vorliegen, deren Würdigung eine spezielle Sachkunde erfordert, die dem Gericht nicht zur Verfügung steht (vgl. BGH, Beschlüsse vom  – 5 StR 62/94, StV 1994, 634, vom – 4 StR 508/96, NStZ-RR 1997, 106, vom – 3 StR 364/08, NStZ 2009, 346, 347, vom – 5 StR 419/09, NStZ 2010, 100, 101, und vom – 5 StR 174/12, NStZ-RR 2012, 353, 354). Solche Umstände sind hier gegeben. Die Beurteilung einer psychischen Störung des vielfach in psychiatrischen Einrichtungen untergebrachten sowie in seinem Aussageverhalten auffälligen Nebenklägers und von deren Auswirkungen auf die Aussagetüchtigkeit erfordert spezifisches Fachwissen, das nicht Allgemeingut von Richtern ist; demgemäß hätte die eigene Sachkunde näherer Darlegung bedurft (vgl. , BGHSt 12, 18, 20; Beschlüsse vom – 3 StR 437/83, StV 1984, 232, und vom – 5 StR 174/12, aaO). Eine solche ist weder dem Zurückweisungsbeschluss noch den Urteilsgründen zu entnehmen.

10d) Die Ablehnung des Beweisantrags führt auf die Revisionsrüge zur umfassenden Aufhebung des Urteils, weil dieses insgesamt auf dem Rechtsfehler beruhen kann.

113. Der Senat weist darauf hin, dass die im angefochtenen Urteil vorgenommene Beweiswürdigung auch sachlich-rechtlich revisionsrechtlicher Überprüfung nicht standgehalten hätte. Hierzu sowie für die neue Hauptverhandlung ist namentlich zu bemerken:

12a) Angesichts der überaus schwierigen Beweislage betreffend die rund 20 Jahre zurückliegenden Taten hätte es einer eingehenden und zusammenhängenden Darstellung und Bewertung der Bekundungen des Nebenklägers bedurft, wobei auch im angefochtenen Urteil angesprochene Widersprüche zwischen der staatsanwaltschaftlichen Vernehmung und der Aussage in der Hauptverhandlung im Einzelnen zu benennen und zu würdigen gewesen wären. Dem genügen die eher kursorischen Erwägungen des Landgerichts nicht, die jeglichen konkreten Beleg für Aussagekonstanz oder markante Realkennzeichen vermissen lassen. Gänzlich unzulänglich bleiben die Ausführungen zu der für die Einschätzung der Lebensumstände und einer Gewalttätigkeit des Angeklagten zur Tatzeit besonders bedeutsamen Aussage der Mutter des Nebenklägers.

13b) Entsprechend den Ausführungen der Revision sind die Feststellungen zur zeitlichen Einordnung der Taten nicht frei von Widersprüchen. Das Landgericht hat den Tatzeitraum auf Anfang 1992 bis Januar 1993 festgelegt. Dies tritt schon in erhebliche Spannung mit der zugleich zugrunde gelegten Aussage des im November 1983 geborenen Nebenklägers, der Angeklagte habe ihn im Alter von vier bis acht Jahren sexuell missbraucht. Ferner verhält sich das Urteil nicht dazu, dass der Nebenkläger, der das „Hexenhäuschen“ als „Gefängnis“ empfunden hat (UA S. 12), gerade im Jahr 1992 aus der Familie herausgenommen und bei der Großmutter untergebracht wurde und dass eine stationäre psychiatrische Unterbringung am endete, nach der der Nebenkläger zur Großmutter zurückkehrte. Es versteht sich in diesem Zusammenhang auch nicht von selbst, dass die Großmutter, der der Nebenkläger nach seiner Aussage von sexuellen Übergriffen des Angeklagten erzählt hat, gleichwohl und ungeachtet nach den Urteilsgründen aufgrund ständiger Misshandlungen von Seiten des Angeklagten vorhandener multipler Hämatome und anderer Verletzungen des Nebenklägers etwa weitere Besuche im „Hexenhäuschen“ zugelassen hat.

14c) Das Landgericht hat festgestellt, dass der Schließmuskel des Nebenklägers durch die analen Vergewaltigungen geschädigt worden sei, weswegen dieser immer wieder eingekotet habe (UA S. 8). Der Angeklagte hat in diesem Zusammenhang angegeben, dass der Nebenkläger im fraglichen Zeitraum seinen Onkel       S.     sexueller Übergriffe beschuldigt habe, woraufhin der Nebenkläger ohne Befund durch einen in den Urteilsgründen benannten Arzt untersucht worden sei (UA S. 10, 11). Diese Angaben, denen das Landgericht nach den Urteilsgründen nicht nachgegangen ist, finden eine gewisse Bestätigung in der Aussage der Mutter des Nebenklägers, wonach aufgrund der Beschuldigung des Onkels das Jugendamt eingeschaltet worden sei, ohne dass sich der Vorwurf habe erhärten lassen (UA S. 21). Hiermit und namentlich mit Art, Umfang und Ergebnis eingeleiteter Untersuchungen hätte sich das Landgericht im Einzelnen auseinandersetzen müssen.

15d) Eine zentrale Bedeutung misst das Urteil der durch einen Polizeibeamten eingeführten Aussage der – durch das Landgericht wegen einer Erkrankung nicht vernommenen – Tante des Nebenklägers bei. Ihr gegenüber soll sich der Nebenkläger als einziger neben der verstorbenen Großmutter bereits im Kindesalter offenbart haben, indem er bekundete, er müsse am „Pimmel“ des Angeklagten spielen und dieser stecke den „Pimmel“ in seinen Po. Den Urteilsgründen ist jedoch nicht zu entnehmen, wie die Zeugin auf diese Mitteilung reagiert und was sie gegebenenfalls veranlasst hat. Der Mutter des Nebenklägers scheint sie nach deren im Rahmen einer von der Verteidigung erhobenen Aufklärungsrüge wiedergegebenen polizeilichen Aussage hiervon nichts gesagt zu haben. Der Senat weist darauf hin, dass – bei unveränderter Beweissituation – die persönliche Vernehmung der genannten Zeugin in der neuen Hauptverhandlung dringend angezeigt sein wird.

16e) Nach den Feststellungen ist der unbestrafte Angeklagte nunmehr in vierter Ehe verheiratet, wobei in die 1995/1996 eingegangene dritte Ehe durch die Ehefrau Kinder im Alter von vier und sechs Jahren eingebracht worden sind (UA S. 5). Es könnte von indizieller Bedeutung sein, wenn insbesondere diese Ehe – wie nach den Urteilsgründen die Beziehung zur Mutter des Nebenklägers – durch fortwährenden Alkoholmissbrauch, ständige gravierende Gewalttätigkeiten und unter Umständen auch sexuelle Übergriffe des Angeklagten geprägt gewesen wäre.

17f) Das Landgericht ist davon ausgegangen, dass der Angeklagte bei allen Taten beträchtlich alkoholisiert gewesen ist. Anhaltspunkte für einen Ausschluss der Schuldfähigkeit hat es nicht gesehen (UA S. 25). Damit sind indessen die Voraussetzungen der verminderten Steuerungsfähigkeit im Sinne des § 21 StGB nicht rechtsfehlerfrei ausgeschlossen. Zwar zeigte der Angeklagte nach den Feststellungen „keine Ausfallerscheinungen“ (UA S. 8). Im Hinblick darauf, dass für diesen Befund ausschließlich die Wahrnehmung eines Kindes von jedenfalls unter zehn Jahren in Betracht kommt, wären insoweit nähere Ausführungen unabdingbar gewesen.

Basdorf                     Sander                      Schneider

                 Dölp                       König

Fundstelle(n):
WAAAE-33640