Tarifkonkurrenz - Inhaltsnorm - Ausschlussfrist - Auslegung einer Tarifbestimmung als schuldrechtliche Regelung
Gesetze: § 1 Abs 1 TVG
Instanzenzug: Az: 28 Ca 399/09 Urteilvorgehend Landesarbeitsgericht Hamburg Az: 6 Sa 25/10 Urteil
Tatbestand
1Die Parteien streiten über Vergütungsansprüche.
2Die Beklagte ist ein bundesweit tätiges Unternehmen und kraft Verbandsmitgliedschaft an die Tarifverträge der Metall- und Elektroindustrie gebunden. Der Kläger, Mitglied der Industriegewerkschaft Metall, ist seit Jahren bei der Beklagten beschäftigt.
In einem zwischen den Landesverbänden der Metall- und Elektroindustrie und den IG-Metall-Bezirksleitungen für alle Standorte der Beklagten abgeschlossenen Ergänzungstarifvertrag vom ist ua. geregelt:
4Dieselben Tarifvertragsparteien vereinbarten am einen zweiten Ergänzungstarifvertrag (im Folgenden: ErgTV).
In diesem ist geregelt:
Die Protokollnotiz Nr. 1 zum ErgTV lautet:
Am wurde eine Änderung zum Ergänzungstarifvertrag abgeschlossen. Diese sieht in Ziff. 1 Folgendes vor:
Ziff. 3 der Änderung zum Ergänzungstarifvertrag vom lautet:
9Die Beklagte erhöhte die Tabellenentgelte ab dem entsprechend. Die Entgeltlinie lag dabei ca. 1,65 % unter der des hessischen Flächentarifvertrags. Ende 2007 verhandelten die Tarifvertragsparteien erfolglos über eine weitere Heranführung an die für das Land Hessen geltenden Entgelttabellen der Fläche. Die Beklagte wandte deshalb weiter die jeweils abgesenkte Entgeltlinie an. Hierzu errechnete der Arbeitgeberverband Hessen-Metall eine Entgeltlinie und übersandte diese an die Beklagte und die IG-Metall.
102008 fanden über die Gestaltung der Entgelttabellen nach der Einführung von ERA wiederum ergebnislos Tarifverhandlungen statt.
11Die Beklagte führte das Entgeltrahmenabkommen (ERA) gemäß einer Vereinbarung der Tarifvertragsparteien vom zum ein. Daraufhin wurde die Entgeltlinie wie in den Vorjahren vom Arbeitgeberverband errechnet und die Beklagte zahlte lediglich eine im Verhältnis zum Flächentarifvertrag abgesenkte Vergütung.
12Mit Schreiben vom machte der Kläger eine Abwicklung des Arbeitsverhältnisses nach dem ERA geltend, was die Beklagte mit Schreiben vom ablehnte. Mit der Klage und späteren Klageerweiterungen verfolgt er Differenzvergütungsansprüche für die Zeit von April 2009 bis Mai 2010.
13Er hat die Auffassung vertreten, die abgesenkten Entgeltlinien hätten nur bis zur ERA-Einführung gelten sollen. Für die Zeit danach fehle es an einer - die Flächenentgelte verdrängenden - Vereinbarung der Tarifvertragsparteien. Eine einseitige Festsetzung der Entgelte, wie sie die Beklagte vornehme, sei nicht möglich. Deshalb stehe ihm monatlich die Differenzvergütung zum Entgelt des Flächenentgelttarifvertrags zu.
Der Kläger hat zuletzt beantragt,
15Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt. Nach der Protokollnotiz Nr. 1 zum ErgTV finde die flächentarifvertragliche ERA-Entgelttabelle nach wie vor keine Anwendung. Die Entgelte seien vielmehr „entsprechend“ den früheren bei der Beklagten gültigen Tabellen zu zahlen.
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision verfolgt der Kläger sein Klagebegehren weiter.
Gründe
17Die Revision des Klägers ist begründet. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung des Klägers gegen das klageabweisende Urteil des Arbeitsgerichts zu Unrecht zurückgewiesen. Der Kläger hat Anspruch auf Vergütung nach dem Tabellenentgelt der hessischen Entgelttarifverträge. Die Revision führt zur Zurückverweisung der Sache an das Landesarbeitsgericht, § 563 Abs. 1 und Abs. 3 ZPO. Der Senat ist an einer eigenen Sachentscheidung gehindert, weil das Landesarbeitsgericht keine Feststellungen zur Höhe und zu einem möglichen Verfall der Ansprüche getroffen hat.
18I. Auf das Arbeitsverhältnis der Parteien finden kraft beiderseitiger Tarifbindung die Tarifverträge der Metall- und Elektroindustrie für das Tarifgebiet Hessen Anwendung, somit auch die Entgelttarifverträge für die Metall- und Elektroindustrie in Hessen, soweit sich aus dem Ergänzungstarifvertrag als unternehmensbezogenen Verbandstarifvertrag nichts anderes ergibt (vgl. - Rn. 13).
19II. Für die Zeit ab Einführung des ERA enthalten die firmenbezogenen Ergänzungstarifverträge keine spezielleren Inhaltsnormen, die die Entgelttabelle des Flächentarifvertrags verdrängen. Dass die Ergänzungstarifverträge im Klagezeitraum gültig waren, ist entgegen der Auffassung der Beklagten für ihre Auslegung und die Frage, ob sie verdrängende Inhaltsnormen enthalten, unerheblich.
201. Der Ergänzungstarifvertrag vom regelt die Erhöhung der tariflichen Löhne, Gehälter und Ausbildungsvergütungen, die zum stattfand, § 3 Abs. 2 ErgTV vom die Tariferhöhungen bis zum .
21Die Protokollnotiz Nr. 1 zum ErgTV, wonach die Tarifvertragsparteien bei Einführung des Entgeltrahmentarifvertrags für die Beklagte eine Entgeltlinie für die neuen Entgeltgruppen E 1 - E 11 vereinbaren, die den dann bei der Beklagten geltenden Lohn- und Gehaltstabellen entspricht, enthält keine Rechtsnorm iSd. § 1 Abs. 1 TVG, die den Inhalt der Arbeitsverhältnisse der tarifgebundenen Arbeitnehmer hinsichtlich des Entgelts nach der Einführung von ERA selbst regelt (zur Abgrenzung von Inhaltsnormen und schuldrechtlichen Regelungen, vgl. - ZTR 2012, 92; - 4 AZR 903/08 - AP TVG § 1 Tarifverträge: Lufthansa Nr. 46).
22Bereits der Wortlaut steht einer Auslegung, die Tarifvertragsparteien wollten bereits mit der Protokollnotiz eine Inhaltsnorm, dh. einen unmittelbaren Anspruch der normunterworfenen Arbeitnehmer nach den dort festgelegten Bedingungen und damit zugleich eine den Flächenentgelttarifvertrag verdrängende Rechtsnorm schaffen, entgegen. Die Protokollnotiz richtet sich vielmehr an die Tarifvertragsparteien, die eine vom Flächentarifvertrag abweichende Entgeltlinie „vereinbaren“ sollen.
23Gegen die Auslegung der Protokollnotiz als Inhaltsnorm spricht auch die Mehrdeutigkeit des Begriffs „entsprechen“. Zwar haben die Tarifvertragsparteien bereits 2003 einen Rahmen für ihre Vereinbarungen gesteckt, dieser Rahmen war jedoch ausfüllungsbedürftig und sollte nur Eckpunkte für weitere Tarifverhandlungen setzen. Die Entgelttabellen sollten denen der Beklagten bei der ERA-Einführung „entsprechen“. Das Auffinden einer „entsprechenden“ Regelung bedeutet - wie der Streitfall zeigt - mehr als die Durchführung einer reinen Rechenoperation. Es bestehen verschiedene Berechnungsmöglichkeiten, zumal die früheren in verschiedenen Tarifverträgen enthaltenen Lohn- und Gehaltsgruppen auch nicht ohne Weiteres mit den jetzigen ERA-Entgeltgruppen gleichgesetzt werden können. Der Fall des Klägers zeigt jedenfalls, dass bei ihm die Absenkung nicht genau 1,65 % betrug. Die Beklagte hat die Flächenentgelte nur durchschnittlich um „ca. 1,65 Prozent“ gesenkt. Bei der Berechnung ist der Arbeitgeberverband - wie sich aus der E-Mail an die Beklagte vom ergibt - „von der üblichen Schlüsselmethode, also ausgehend vom Ecklohn und von den Eckgehältern“ ausgegangen. Im Weiteren hat der Arbeitgeberverband die Belegschaftsanteile und das Entgeltvolumen pro Beschäftigtengruppe, wie die Beklagte in der Revisionserwiderung erläutert hat, gewichtet. Bei der Ausfüllung des Begriffs „entsprechen“ wären aber auch andere Abstände als die früheren zwischen den Entgeltgruppen und andere Gewichtungen möglich. Die Festlegung der Beklagten führt, worauf die Revision zutreffend hinweist, zu unterschiedlichen Werten für die einzelnen Gruppen und stellt keine schematische Anpassung dar.
24Aus dem Sinn und Zweck der Ergänzungstarifverträge folgt nichts anderes. Zwar sind die Tarifvertragsparteien bei Abschluss des ErgTV davon ausgegangen, dass Abweichungen zum Flächentarifvertrag und den dazu gehörenden Entgelttarifverträgen im Unternehmen der Beklagten geboten sind (vgl. für den Zeitraum vor der ERA-Einführung, -). Mögliche Abweichungen vom Flächentarifvertrag waren, wie sich aus der Protokollnotiz Nr. 1 zum ErgTV ergibt, auch für die Zeit nach der ERA-Einführung geplant. Diese Verdrängung sollte aber auf einer gesonderten Vereinbarung, auf einem Tarifvertrag, beruhen. 2003 konnte die wirtschaftliche Lage der Beklagten bei der Einführung von ERA, die schließlich am stattfand, nicht sicher beurteilt werden. Weder die tarifgebundenen Arbeitnehmer noch die Beklagte konnten annehmen, dass die IG Metall ohne weitere Tarifverhandlungen auf Dauer Absenkungen zu den Entgelten des Flächenentgelttarifvertrags entsprechend der ausfüllungsbedürftigen Eckdaten der Protokollnotiz Nr. 1 zum ErgTV zulassen wollte und dass die Verfahrensweise einer einseitigen Festlegung der Entgelte durch den Arbeitgeberverband und der bloßen Mitteilung an die IG Metall auch für die Zeit nach der Einführung von ERA dauerhaft Bestand haben sollte, falls es zu keiner „Vereinbarung“ im Sinne der Protokollnotiz Nr. 1 zum ErgTV kommen sollte.
252. Die Änderung zum Ergänzungstarifvertrag vom verdrängt die Flächenentgelttarifverträge ebenfalls nicht. Mit Rechtsnormcharakter regelt sie nur die Entgelterhöhungen des Jahres 2007. Zwar vereinbarten die Tarifvertragsparteien in § 4 Abs. 2 der Änderung zum Ergänzungstarifvertrag vom , dass sie im dritten Quartal über eine weitere Heranführung an die für das Land Hessen geltenden Tabellen unter Berücksichtigung der zukünftigen ERA-Einführung beraten würden. Diese Regelung hat aber ebenso wie die Protokollnotiz Nr. 1 zum ErgTV nur schuldrechtliche Wirkung.
263. Zum Abschluss eines Tarifvertrags ist es für den Klagezeitraum nicht gekommen, Verhandlungen vor und anlässlich der ERA-Einführung sind gescheitert. Die Tarifvertragsparteien haben auch nicht im Nachhinein mit Rückwirkung entsprechende Rechtsnormen auf der Grundlage der Protokollnotiz Nr. 1 zum ErgTV geschaffen.
III. Der Kläger hat damit Anspruch auf das monatliche Entgelt nach dem Entgelttarifvertrag für das Tarifgebiet Hessen. Das Landesarbeitsgericht hat zur Höhe der geforderten monatlichen Differenzvergütung, auch im Hinblick auf die Leistungszulage, noch Feststellungen zu treffen. Das Landesarbeitsgericht wird darüber hinaus festzustellen haben, ob und inwieweit die monatlichen Ansprüche nach § 29 MTV für die Metall- und Elektroindustrie des Landes Hessen vom , gültig ab , rechtzeitig geltend gemacht worden sind. Bei der Anwendbarkeit einer Ausschlussfrist handelt es sich um eine rechtsvernichtende Einwendung, die vom Schuldner darzulegen ist ( - Rn. 25, EzA AEntG § 1a Nr. 8). Wenn die Anwendbarkeit - wie im Streitfall - unstreitig ist, hat der Gläubiger die Voraussetzungen der Anspruchserhaltung als anspruchsbegründende Tatsache (wie zB schriftliche Geltendmachung) darzulegen. Unterbleibt dies, ist die Klage unschlüssig. Die Nichteinhaltung der Fristen ist - anders als die Verjährung einer Forderung - eine Einwendung, die „von Amts wegen“ zu beachten ist und auf die sich der Schuldner nicht berufen muss ( - Rn. 51 mwN, AP TVG § 1 Tarifverträge: Großhandel Nr. 22 = EzA TVG § 4 Einzelhandel Nr. 55; - 4 AZR 15/10 - Rn. 46).
Diese Entscheidung steht in Bezug zu
Fundstelle(n):
DB 2012 S. 2756 Nr. 48
YAAAE-18994