Keine Veranlagung nach bestandskräftiger Ablehnung; rückwirkende Anwendung des § 46 Abs. 2 Nr. 1 EStG i.d.F. des JStG 2007; Unvereinbarkeit von § 46 Abs. 2 Nr. 8 EStG a.F. mit dem GG
Leitsatz
1. Ist bei Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit über einen Antrag auf Veranlagung zur Einkommensteuer bestandskräftig abschlägig entschieden, kommt eine Veranlagung weder nach § 46 Abs. 2 Nr. 1 EStG i.d.F. des JStG 2007 noch gemäß § 46 Abs. 2 Nr. 8 i.d.F. des JStG 2008 in Betracht.
2. Die Änderung des § 46 Abs. 2 Nr. 1 EStG durch das JStG 2007 begründet kein weiteres eigenständiges Antragsrecht des Steuerpflichtigen.
3. Kommt eine Veranlagung des Steuerpflichtigen weder nach § 46 Abs. 2 Nr. 1 EStG i.d.F. des JStG 2007 noch gemäß § 46 Abs. 2 Nr. 8 i.d.F. des JStG 2008 in Betracht, können auch Grundlagenbescheide nicht über die Änderungsnorm des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO zu einer solchen führen.
Gesetze: EStG § 46 Abs. 2 Nr. 8 i.d.F. des JStG 2008 i.V.m. § 52 Abs. 55j i.d.F. des StVereinfG 2011EStG § 46 Abs. 2 Nr. 1 i.d.F. des JStG 2007 i.V.m. § 52 Abs. 55j i.d.F. des StVereinfG 2011AO § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1
Instanzenzug: (EFG 2011, 1706) (Verfahrensverlauf), ,
Gründe
I.
1 Die Beteiligten streiten darüber, ob für das Jahr 2001 eine Einkommensteuerveranlagung durchzuführen ist.
2 Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) reichte seine Einkommensteuererklärung für das Streitjahr 2001 am beim Beklagten und Revisionskläger (Finanzamt —FA—) ein. Hierzu war er unter Androhung eines Zwangsgeldes aufgefordert worden. Neben positiven Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit erklärte der Kläger einen Verlust aus Gewerbebetrieb aus der Beteiligung an der T GmbH atypisch still in Höhe von 62.927 DM. Mit Bescheid vom (negativer Feststellungsbescheid 2001) lehnte das FA die einheitliche und gesonderte Feststellung von Einkünften für die T GmbH atypisch still ab. Ferner lehnte das FA mit Bescheid vom die Durchführung einer Einkommensteuerveranlagung für 2001 ab, da die Voraussetzungen für die Durchführung einer Veranlagung von Amts wegen nicht gegeben seien und der Antrag auf Veranlagung nicht fristgerecht gestellt worden sei. Hiergegen legte der Kläger Einspruch ein und verwies auf das noch offene Verfahren hinsichtlich des negativen Feststellungsbescheids in Sachen T GmbH atypisch still. Mit Einspruchsentscheidung vom wurde der Einspruch als unbegründet zurückgewiesen. Eine Klage wurde hiergegen nicht erhoben.
3 Am erging für die T GmbH atypisch still ein Bescheid über die gesonderte und einheitliche Feststellung von Besteuerungsgrundlagen für 2001 (Feststellungsbescheid 2001) unter dem Vorbehalt der Nachprüfung, in dem ein laufender Verlust aus Gewerbebetrieb für den Kläger in Höhe von 47.327 DM festgestellt wurde. Gleichzeitig wurde festgestellt, dass es sich bei der Gesellschaft um eine Gesellschaft i.S. des § 2b des Einkommensteuergesetzes (EStG) handle. Mit Änderungsbescheid vom (Feststellungsänderungsbescheid 2001) wurde der Vorbehalt der Nachprüfung des Feststellungsbescheids 2001 aufgehoben. Die Feststellung des Anteils des Klägers blieb unverändert. Die Gesellschaft wurde nicht länger als Gesellschaft i.S. des § 2b EStG behandelt. In der Folgezeit beantragte der Kläger wiederholt die Durchführung einer Einkommensteuerveranlagung für 2001 und die Berücksichtigung des gesondert festgestellten Verlustes aus Gewerbebetrieb. Dabei wurde lediglich der Antrag des Klägers vom förmlich mit Rechtsbehelfsbelehrung beschieden. Er wurde mit Schreiben vom abgelehnt.
4 Der nach erfolglosem Vorverfahren erhobenen Klage gab das Finanzgericht (FG) hingegen mit den in Entscheidungen der Finanzgerichte 2011, 1706 veröffentlichten Gründen statt.
5 Mit der Revision rügt das FA die Verletzung materiellen und formellen Rechts.
6 Das FA beantragt,
das aufzuheben und die Klage abzuweisen.
7 Der Kläger beantragt,
die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
II.
8 Die Revision des FA ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des vorinstanzlichen Urteils und zur Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung —FGO—). Denn das FG hat zu Unrecht entschieden, dass der Kläger zur Einkommensteuer zu veranlagen ist.
9 1. Besteht das Einkommen ganz oder teilweise aus Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit, von denen ein Steuerabzug vorgenommen worden ist, wird eine Veranlagung nur unter den in § 46 Abs. 2 Nrn. 1 bis 8 EStG genannten Voraussetzungen durchgeführt. Der Steuerpflichtige kann die Veranlagung nach § 46 Abs. 2 Nr. 8 EStG nur beantragen, wenn er nicht bereits nach Abs. 2 Nrn. 1 bis 7 der Vorschrift von Amts wegen zu veranlagen ist (, BFHE 214, 149, BStBl II 2006, 912).
10 a) Nach § 46 Abs. 2 Nr. 1 EStG i.d.F. des Jahressteuergesetzes (JStG) 2007 ist die Amtsveranlagung nur durchzuführen, wenn, was hier nicht der Fall ist, die positive Summe der einkommensteuerpflichtigen Einkünfte, die nicht dem Steuerabzug vom Arbeitslohn zu unterwerfen waren, vermindert um die darauf entfallenden Beträge nach § 13 Abs. 3 und § 24a EStG, mehr als 410 € beträgt (zur früheren Rechtslage s. , BFHE 215, 149, BStBl II 2007, 47; VI R 52/04, BFHE 215, 144, BStBl II 2007, 45). § 46 Abs. 2 Nr. 1 EStG i.d.F. des JStG 2007 ist gemäß § 52 Abs. 55j EStG i.d.F. des Steuervereinfachungsgesetzes (StVereinfG) 2011 (früher § 52 Abs. 55j EStG i.d.F. des JStG 2007) auch auf Veranlagungszeiträume vor 2006 anzuwenden.
11 Zur Frage, ob die rückwirkende Anwendung der Neuregelung verfassungsrechtlichen Vorgaben genügt (Schmidt/Kulosa, EStG, 30. Aufl., § 46 Rz 12, m.w.N.), muss der Senat nicht Stellung beziehen. Denn einer Veranlagung von Amts wegen steht nach Auffassung des Senats bereits der bestandskräftige Bescheid des FA vom entgegen, mit dem das FA die Durchführung einer Veranlagung abgelehnt hat.
12 b) Gemäß § 46 Abs. 2 Nr. 8 EStG i.d.F. des Streitjahres wird eine Veranlagung durchgeführt, wenn sie beantragt wird. Der Antrag ist gemäß Satz 2 der Regelung bis zum Ablauf des auf den Veranlagungszeitraum folgenden 2. Kalenderjahres zu stellen. Zwar ist § 46 Abs. 2 Nr. 8 EStG wegen der sogenannten Zweijahresfrist nach Auffassung des Senats mit dem Grundgesetz unvereinbar. Wegen der Bestandskraft des erwähnten Bescheids vom kann der Kläger daraus nach Auffassung des Senats jedoch keine Rechte herleiten.
13 c) Eine Veranlagung kommt auch nicht gemäß § 46 Abs. 2 Nr. 8 i.d.F. des JStG 2008 in Betracht.
14 Zwar hat danach der Steuerpflichtige in den Fällen, in denen die Voraussetzungen der Pflichtveranlagung nicht vorliegen, einen Anspruch auf Veranlagung ohne Beachtung einer Antragsfrist. Die Neuregelung ist jedoch gemäß § 52 Abs. 55j Satz 4 EStG i.d.F. des StVereinfG 2011 (früher § 52 Abs. 55j Satz 2 i.d.F. des JStG 2008) erstmals für den Veranlagungszeitraum 2005 anzuwenden und in Fällen, in denen am über einen Antrag auf Veranlagung zur Einkommensteuer noch nicht bestandskräftig entschieden ist (s. dazu , BFH/NV 2009, 755; vom VI R 1/09, BFHE 227, 97, BStBl II 2010, 406).
15 Im Streitfall hatte das FA indessen über den Antrag vom vor dem genannten Stichtag bestandskräftig entschieden. Darin unterscheidet sich der Streitfall von dem Sachverhalt, der dem Urteil in BFHE 227, 97, BStBl II 2010, 406 zugrunde liegt. Der erneuten Antragstellung u.a. vom kommt deshalb keine Bedeutung zu. Sie kann weder den Mangel, dass am ein bestandskräftiger Bescheid vorlag, heilen (, BFH/NV 2011, 1504) noch hat der Kläger damit ein eigenständiges Antragsrecht für das Streitjahr 2001 ausgeübt. Denn ein solches ist entgegen der Auffassung des FG durch die Rechtsänderung im JStG 2007 (Wechsel von Pflicht- zur Antragsveranlagung) nicht entstanden. Das FG berücksichtigt bei seiner Auslegung des § 52 Abs. 55j Satz 4 EStG i.d.F. des StVereinfG 2011 nicht, dass der Gesetzgeber dem Kläger mit der Neufassung des § 46 Abs. 2 Nr. 8 EStG keinen zuvor bestehenden Anspruch auf Veranlagung für das Jahr 2001 entzogen hat. Diesen Anspruch hat der Kläger vielmehr verloren, weil der (nach der Rechtsprechung des BFH aus dem Jahr 2005) fehlerhafte Ablehnungsbescheid vom in Gestalt der hierzu ergangenen Einspruchsentscheidung nicht beklagt, sondern bestandskräftig geworden ist. Weder dem Wortlaut der Anwendungsregelung noch dem Willen des Gesetzgebers ist jedoch zu entnehmen, dass der Gesetzgeber in diesen „abgeschlossenen” Fällen den Steuerpflichtigen mit § 52 Abs. 55j Satz 4 EStG i.d.F. des StVereinfG 2011 ein nochmaliges Antragsrecht auf Veranlagung nach § 46 Abs. 2 Nr. 8 EStG eröffnen wollte. Der Senat geht vielmehr davon aus, dass der Gesetzgeber mit der genannten Überleitungsvorschrift lediglich alle noch offenen —zahlenmäßig offenbar nur wenige— Fälle einer umfassenden Erledigung zuführen wollte (BFH-Urteil in BFH/NV 2009, 755; BTDrucks 16/7036, 18 f.).
16 2. Schließlich ist eine Veranlagung auch nicht nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO durchzuführen. Zwar ist danach ein Steuerbescheid zu erlassen, soweit ein Grundlagenbescheid, dem Bindungswirkung für diesen Steuerbescheid zukommt, erlassen, aufgehoben oder geändert wird. Nach der Rechtsprechung des BFH soll aber der Erlass eines Feststellungsbescheids gemäß § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO nicht zu einer Veranlagung von Amts wegen führen und die Bindungswirkung eines Grundlagenbescheids keine Ausweitung der in § 46 Abs. 2 Nrn. 1 bis 8 EStG spezialgesetzlich geregelten Veranlagungstatbestände des EStG zur Folge haben (BFH-Urteile in BFH/NV 2011, 1504, und in BFHE 214, 149, BStBl II 2006, 912, m.w.N.).
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Verwaltungsanweisungen:
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
Fundstelle(n):
BStBl 2012 II Seite 750
AO-StB 2012 S. 200 Nr. 7
BB 2012 S. 1379 Nr. 22
BFH/NV 2012 S. 1214 Nr. 7
BFH/PR 2012 S. 277 Nr. 8
BStBl II 2012 S. 750 Nr. 15
DB 2012 S. 1307 Nr. 23
DStRE 2012 S. 797 Nr. 13
EStB 2012 S. 254 Nr. 7
FR 2013 S. 90 Nr. 2
HFR 2012 S. 741 Nr. 7
KÖSDI 2012 S. 17926 Nr. 6
NWB-Eilnachricht Nr. 22/2012 S. 1803
StB 2012 S. 220 Nr. 7
StBW 2012 S. 548 Nr. 12
StC 2012 S. 11 Nr. 11
XAAAE-09678