BSG Urteil v. - B 13 R 40/11 R

Rentenversicherung - früherer Rentenbeginn und rückwirkende Gewährung einer Rente nach dem ZRBG - Verfassungsmäßigkeit

Leitsatz

Nach Rücknahme eines bestandskräftigen Bescheids, der eine Rente aufgrund von Ghetto- Beitragszeiten zu Unrecht abgelehnt hat, besteht Anspruch auf Rentenleistungen für die Vergangenheit nur für einen Zeitraum von bis zu vier Jahren (§ 44 Abs 4 SGB 10).

Gesetze: § 2 Abs 2 Halbs 2 SGB 1, § 77 Abs 2 S 1 Nr 2 Buchst b SGB 6, § 99 Abs 1 S 2 SGB 6, § 1 Abs 1 S 1 SGB 10, § 40 Abs 1 SGB 10, § 44 Abs 1 S 1 SGB 10, § 44 Abs 4 S 1 SGB 10, § 44 Abs 4 S 2 SGB 10, § 44 Abs 4 S 3 SGB 10, § 48 SGB 10, § 1 Abs 2 ZRBG, § 3 Abs 1 S 1 ZRBG, § 3 Abs 2 ZRBG, § 7 WGSVG, § 17c WGSVG, Art 3 Abs 1 GG, § 77 SGG, § 79 Abs 2 BVerfGG, § 242 BGB

Instanzenzug: Az: S 26 R 1942/10 Urteil

Tatbestand

1Die Beteiligten streiten über einen früheren Beginn der Regelaltersrente der Klägerin.

2Die im Dezember 1924 in Polen geborene Klägerin ist israelische Staatsangehörige und lebt in Israel. Sie ist anerkannte Verfolgte des Nationalsozialismus und hat eine Entschädigung nach dem Bundesentschädigungsgesetz erhalten.

3Die Klägerin hatte im September 2002 einen Antrag auf Regelaltersrente unter Berücksichtigung im Ghetto Ostrowiec zurückgelegter Ghetto-Beitragszeiten von Anfang 1940 bis März 1943 nach dem Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto (ZRBG) gestellt. Die Beklagte hatte mit Bescheid vom den Anspruch mit der Begründung abgelehnt, es sei nicht glaubhaft, dass die Klägerin eine entgeltliche Beschäftigung aus freiem Willensentschluss in einem Ghetto ausgeübt habe; bei den behaupteten Arbeiten habe es sich vielmehr um Zwangsarbeiten gehandelt, die nach dem ZRBG nicht zu berücksichtigen seien. Die hier gegen erhobenen Rechtsbehelfe blieben erfolglos (Widerspruchsbescheid der Beklagten vom ; S 12 (22) R 324/05).

4Auf den im August 2009 gestellten Antrag der Klägerin auf Überprüfung der ablehnenden Bescheide erkannte die Beklagte mit Bescheid vom den Zeitraum vom bis als Beitragszeit nach dem ZRBG an; sie gewährte Regelaltersrente ab dem mit einem Zugangsfaktor 1,900; es ergab sich eine laufende Rentenzahlung in Höhe von 281,62 Euro monatlich ab April 2010 sowie eine Nachzahlung von 18 924,69 Euro (für die Zeit vom bis ). Der auf einen früheren Rentenbeginn gerichtete Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom ). Sie habe ihre ablehnende Entscheidung (Bescheid vom in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom ) gemäß § 44 SGB X überprüft und mit dem nun angefochtenen Bescheid die begehrte Rente bewilligt. Nach § 44 Abs 4 SGB X würden bei Rücknahme eines Verwaltungsakts mit Wirkung für die Vergangenheit Sozialleistungen längstens für einen Zeitraum von bis zu vier Jahren vor der Rücknahme erbracht, vom Beginn des Jahres an gerechnet, in dem die Rücknahme beantragt worden sei. Ausgehend von dem am gestellten Überprüfungsantrag werde die Rente daher zutreffend ab dem geleistet.

5Das SG hat die Beklagte unter Abänderung des Bescheids vom , des Widerspruchsbescheids vom verurteilt, unter Rücknahme des Bescheids vom und des Widerspruchsbescheids vom , die Regelaltersrente der Klägerin insofern nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen neu festzustellen, als die Rente bereits am beginne und dementsprechend eine weitere Nachzahlung für die Zeit vom bis zu leisten sei (Urteil vom ): Es lägen die Voraussetzungen einer Neufeststellung der Altersrente gemäß § 44 Abs 1 SGB X vor. Unter Berücksichtigung der geänderten Rechtsprechung des BSG vom 2. und (BSG <13. Senat> vom - BSGE 103, 190 = SozR 4-5075 § 1 Nr 7; BSGE 103, 201 = SozR 4-5075 § 1 Nr 5 und B 13 R 85/08 R; BSG <5. Senat> vom - BSGE 103, 220 = SozR 4-5075 § 1 Nr 8; B 5 R 66/08 R) könne die Klägerin auf ihren im September 2002 gestellten Rentenantrag bereits ab Altersrente beanspruchen. Dies folge aus § 3 Abs 1 ZRBG iVm § 99 Abs 1 SGB VI, wonach ein vor Juli 2003 gestellter Rentenantrag als schon am gestellt gelte. Auch aus den Gesetzesmaterialien (Hinweis auf BT-Drucks 14/8583, S 3 und 6) folge, dass eine rückwirkende Rentenzahlung ab sichergestellt werden sollte. Diesem Anspruch stünden weder § 44 Abs 4 SGB X noch § 100 Abs 4 SGB VI entgegen, die aus Gründen der allgemeinen Gleichbehandlung (Art 3 Abs 1 GG) im Wege verfassungskonformer Auslegung nicht anzuwenden seien. Vorrangig seien vielmehr die speziellen Vorschriften von § 99 Abs 1 S 2 SGB VI iVm § 3 Abs 1 und Abs 2 ZRBG einschlägig.

6Diese Gesetzesauslegung sei geboten, weil ansonsten die Gruppe der "Vorkämpfer" für Ghetto-Renten ungerechtfertigt von den Vorteilen der geänderten Rechtsprechung zum ZRBG ausgeschlossen bliebe. Diese Konstellation sei mit jener vergleichbar, wie sie dem (BSGE 94, 294 = SozR 4-2600 § 306 Nr 1) zur Nichtanwendung von § 306 SGB VI bei Bestandsrentnern, die in Ghettos gearbeitet haben, zu Grunde gelegen habe. Es sei nicht hinzunehmen, dass ein Teil der Gruppe, die ihren Rentenantrag fristgerecht noch vor Juli 2003 gestellt habe, Leistungen erst ab Januar 2005 erhalte, während der andere Teil derselben Gruppe Rentenleistungen rückwirkend schon ab erhalte. Dieser Teil profitiere nur davon, dass über die Rentenanträge nicht mehr vor den Urteilen des BSG vom 2. und (aaO) rechtskräftig entschieden worden sei. Diese Ungleichbehandlung beruhe letztendlich auf der zufälligen Dauer der Verwaltungs- bzw Gerichtsverfahren.

7Eine solche Ungleichbehandlung gleichgelagerter Sachverhalte sei nicht zu rechtfertigen. Dies werde durch die Rechtsprechung des BSG vom 2. und (aaO) und die Gesetzesmaterialien (BT-Drucks 14/8583 S 6) bestätigt, wonach möglichst alle Verfolgten, die in einem Ghetto eine Beschäftigung ausgeübt haben, in den Genuss der nach dem ZRBG vorgesehenen Rentenzahlungen kommen sollten. Dies gebiete zudem der in den Gesetzesmaterialien (aaO) zum Ausdruck kommende Entschädigungsgedanke. Einer diesem Zweck Geltung verschaffende Gesetzesauslegung sei der Vorzug gegenüber jeder anderen Gesetzesinterpretation zu geben, die die Wiedergutmachung erschwere oder zunichte mache. Diese Auslegungsregel folge insbesondere aus der Entscheidung des - LM BEG 1956 § 35 Nr 37) und des (BSGE 94, 294 = SozR 4-2600 § 306 Nr 1).

8Mit ihrer vom SG zugelassenen Sprungrevision, deren Einlegung die Klägerin zugestimmt hat, rügt die Beklagte die Verletzung von § 44 Abs 4 SGB X, § 99 Abs 1 S 2 SGB VI iVm § 3 Abs 1 S 1 ZRBG. Der Anwendung von § 44 Abs 4 SGB X stünden keine spezialgesetzlichen Sonderregelungen entgegen. Insbesondere treffe § 3 Abs 1 S 1 ZRBG keine von § 44 Abs 4 SGB X abweichende Regelung. Demnach gelte ein bis zum gestellter Antrag auf Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung als am gestellt. Der Überprüfungsantrag vom sei daher verfristet iS von § 3 Abs 1 S 1 ZRBG. Der Rentenantrag vom September 2002 sei unmaßgeblich, weil er nach § 77 SGG bindend abgelehnt worden sei. Gegen die Annahme, dass auf einen außerhalb der Frist von § 3 Abs 1 S 1 ZRBG gestellten Überprüfungsantrag die Rente immer rückwirkend zum gezahlt werden müsse, sprächen der eindeutige Wortlaut der Norm, die Gesetzesbegründung und Entstehungsgeschichte des ZRBG. Eine verfassungskonforme Auslegung unter Rückgriff auf Art 3 Abs 1 GG scheide daher aus. Der sachliche Grund für die Ungleichbehandlung der vom SG gegenübergestellten Vergleichsgruppen sei die bestandskräftige Ablehnung des ersten Rentenantrags. Die vom SG herangezogene zufällige Verfahrensdauer sei unbeachtlich. Das Verfassungsrecht gewichte die Bestandskraft einer Entscheidung grundsätzlich höher als deren Rechtswidrigkeit. Anhaltspunkte für eine willkürliche Rechtsanwendung lägen nicht vor, weil sich die als rechtswidrig erkannten Verwaltungsentscheidungen an dem (BSGE 80, 250 = SozR 3-2200 § 1248 Nr 15) orientiert hätten. Die Klägerin könne aus dem (BSGE 94, 294 = SozR 4-2600 § 306 Nr 1) mangels vergleichbarer Fallgestaltung kein für sie günstigeres Ergebnis herleiten. Es liege auch keine planwidrige Gesetzeslücke vor, die im Wege der richterlichen Rechtsfortbildung durch die Nichtanwendung von § 44 Abs 4 SGB X zu schließen sei. Bei Verabschiedung des ZRBG sei dem Gesetzgeber die Vorschrift von § 44 SGB X bekannt gewesen, dessen Anwendung er im Geltungsbereich des ZRBG nicht ausgeschlossen habe.

11Sie verteidigt das angefochtene Urteil und verweist ergänzend darauf, dass die Klägerin eine Altersrente von der israelischen Nationalversicherungsanstalt beziehe. Der dieser Rentengewährung zu Grunde liegende Rentenantrag berechtige - unter Berücksichtigung des Senatsurteils vom (B 13 R 20/10 R - zur Veröffentlichung in SozR 4-6840 Art 27 Nr 1 vorgesehen) - zum rückwirkenden Rentenbezug ab , unabhängig von der Anwendung von § 44 Abs 4 SGB X.

Gründe

12Die Revision der Beklagten ist begründet. Zu Unrecht hat das SG die angefochtenen Bescheide der Beklagten abgeändert und die Altersrente bereits ab zugesprochen.

13Gegenstand des vorliegenden Verfahrens ist ein Anspruch der Klägerin auf Zahlung ihrer Altersrente auch für die Zeit vor dem . Die übrigen im Bescheid vom in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom enthaltenen Regelungen sind nicht angefochten.

14Die Bescheide der Beklagten sind im streitigen Umfang nicht rechtswidrig. Eine weitergehende Rückwirkung der im Bescheid vom bewilligten Rentenzahlung als, wie dort geregelt, ab steht der Klägerin nicht zu.

151. In ihrem Falle sind die Voraussetzungen für eine Rücknahme des die Rente nach dem ZRBG ablehnenden Bescheids vom (in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom ) mit Wirkung für die Vergangenheit nach § 44 Abs 1 SGB X erfüllt. Denn im Sinne des Satzes 1 der Vorschrift hatte sich ergeben, dass bei Erlass des Ablehnungsbescheids das Recht unrichtig angewandt worden war und deshalb Sozialleistungen (hier: die Rente) zu Unrecht nicht erbracht worden waren.

16Damit war nach Abs 4 S 1 bis 3 der Vorschrift die in der Vergangenheit zu Unrecht nicht gezahlte Rente "längstens für einen Zeitraum bis zu vier Jahren" ab Beginn des Jahres der Stellung des Antrags auf Rücknahme zu erbringen. Da die Klägerin den Rücknahme-(Überprüfungs-)Antrag im August 2009 gestellt hatte, ergab sich ein Beginn der rückwirkenden Rentenzahlung am .

172. Einer Anwendung der dargestellten Regelung steht nicht entgegen, dass die Klägerin Berechtigte nach dem ZRBG ist.

18a) Wie sie zu Recht vorträgt, konnte die Klägerin ihre Ansprüche erst aufgrund der Urteile des BSG vom Juni 2009 (BSG <13. Senat> vom - BSGE 103, 190 = SozR 4-5075 § 1 Nr 7; BSGE 103, 201 = SozR 4-5075 § 1 Nr 5 und B 13 R 85/08 R ; BSG <5. Senat> vom - BSGE 103, 220 = SozR 4-5075 § 1 Nr 8; B 5 R 66/08 R) durchsetzen, die entgegenstehende frühere Rechtsprechung aufgegeben hatten. Wäre zu diesem Zeitpunkt über ihren ursprünglichen Antrag vom September 2002 noch nicht bindend (hier: durch ) - negativ - entschieden gewesen, hätte sie die Zahlung ihrer Rente rückwirkend ab (Inkrafttreten des ZRBG nach Art 3 Abs 2 des Gesetzes zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto und zur Änderung des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch vom , BGBl I 2074) beanspruchen können. Aus diesen Umständen kann die Klägerin jedoch keine weitergehenden Ansprüche als nach § 44 SGB X ableiten.

19Nach § 77 SGG ist ein Verwaltungsakt für die Beteiligten in der Sache bindend, wenn der dagegen eingelegte Rechtsbehelf erfolglos geblieben ist, "soweit durch Gesetz nichts anderes bestimmt ist". Als gesetzliche Regelung, mit deren Hilfe die Klägerin die Bindungswirkung des Ablehnungsbescheids vom November 2004 überwinden kann, kommt lediglich die Vorschrift des § 44 SGB X in Betracht.

20Sie gilt für die öffentlich-rechtliche Verwaltungstätigkeit der Behörden, die nach dem SGB ausgeübt wird (§ 1 Abs 1 S 1 SGB X). Hierzu gehört auch die Ausführung des ZRBG, das der Gesetzgeber als Spezialregelung zu dem im SGB VI geregelten Recht der gesetzlichen Rentenversicherung konzipiert hat. Dies geht insbesondere aus der Regelung des § 1 Abs 2 ZRBG hervor, wonach dieses Gesetz "die rentenrechtlichen Vorschriften des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung" (WGSVG) ergänzt; nach § 7 WGSVG ergänzen jedoch wiederum diese Vorschriften "zugunsten von Verfolgten die allgemein anzuwendenden Vorschriften des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch". Nichts anderes ergibt sich aus den in § 3 ZRBG in Bezug genommenen Begriffen des Rechts der gesetzlichen Rentenversicherung ("Antrag auf Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung", "Zugangsfaktor", "Wartezeit", "Rente wegen Alters").

21b) Eigene einschlägige Bestimmungen, die zugunsten der Klägerin als Spezialregelung dem § 44 SGB X vorgehen könnten, enthält das ZRBG nicht.

22Eine solche Bestimmung ist insbesondere nicht die Regelung des § 3 Abs 1 S 1 ZRBG. Nach dieser Vorschrift gilt "ein bis zum gestellter Antrag auf Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung (…) als am gestellt". Die Vorschrift regelt schon nach ihrem Wortlaut - anders als etwa § 17c WGSVG - nicht selbst unmittelbar den Rentenbeginn, sondern modifiziert bzw fingiert lediglich den maßgeblichen Zeitpunkt der Antragstellung (vgl Gesetzentwurf der Fraktionen der SPD, CDU/CSU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP, BT-Drucks 14/8583 S 1: "Die Antragstellung auf Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung wird fiktiv auf den Tag der BSG-Entscheidung am festgesetzt" - inhaltsgleich der Gesetzentwurf der Fraktion der PDS, BT-Drucks 14/8602 S 1: "Die Antragstellung auf Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung wird auf den Tag der BSG-Entscheidung am fingiert"). Sie ist mithin (nur) für eines von mehreren Tatbestandsmerkmalen, die nach § 99 Abs 1 SGB VI für den Beginn einer Altersrente maßgeblich sind, von Bedeutung und führt lediglich "im Zusammenwirken" (so BT-Drucks 14/8583 bzw 14/8602, jeweils S 6 - zu Art 1, zu § 3) mit anderen Regelungen zu einem Rentenbeginn frühestens ab . Einem solchen Verständnis steht auch die amtliche Überschrift des § 3 Abs 1 ZRBG ("Besonderheiten beim Rentenbeginn") nicht entgegen; diese verdeutlicht vielmehr, dass die Regelung nicht selbst den Rentenbeginn für "Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto" festlegt, sondern lediglich Besonderheiten hinsichtlich eines einzelnen für den Rentenbeginn nach § 99 SGB VI bedeutsamen Umstands - des Zeitpunkts der Antragstellung - normiert.

23Hiernach galt zwar der ursprüngliche Rentenantrag der Klägerin vom September 2002 gemäß § 3 Abs 1 S 1 ZRBG als am gestellt. Wie oben ausgeführt, ist jedoch die daraufhin mit Bescheid vom in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom - wenn auch zu Unrecht - erfolgte Ablehnung für die Klägerin bindend geworden. Von dieser Bindungswirkung kann lediglich nach näherer Maßgabe des § 44 SGB X abgewichen werden, und damit mit keiner längeren als der in dessen Abs 4 geregelten Rückwirkung.

243. Dies ist mit höherrangigem Recht vereinbar.

25Insbesondere folgt im Fall der Klägerin aus dem von ihr herangezogenen allgemeinen Gleichheitssatz (Art 3 Abs 1 GG) kein Verfassungsverstoß. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) ist Art 3 Abs 1 GG dann verletzt, wenn eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten anders behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen könnten (vgl zB BVerfGE 117, 272, 301 = SozR 4-2600 § 58 Nr 7 RdNr 70 mwN).

26Hier jedoch besteht der ausschlaggebende Unterschied zwischen jenen Berechtigten nach dem ZRBG, denen gegenüber im Zeitpunkt der Rechtsprechungsänderung durch das BSG im Juni 2009 noch keine bindende Ablehnung erfolgt war, und jenen, bei denen (wie bei der Klägerin) eine solche bereits vorlag, aus eben diesem Umstand. Hieran ändert nichts, dass es, wie die Klägerin aufzeigt, angesichts der Vielzahl der bis zum Stichtag nach § 3 Abs 1 ZRBG eingegangenen Anträge nach dem ZRBG oft von Zufällen abhing, ob im Zeitpunkt der Urteile des BSG vom Juni 2009 bereits eine unanfechtbare Entscheidung ergangen war.

27Denn zu den tragenden Prinzipien des Rechtsstaats gehört der Grundsatz, dass nach Abschluss eines Verfahrens durch unanfechtbare Entscheidung allenfalls ausnahmsweise eine neue Entscheidung in der Sache möglich ist. Demgemäß ist die öffentliche Gewalt von Verfassung wegen nicht verpflichtet, rechtswidrige Verwaltungsakte ohne Rücksicht auf ihren formellen Rechtsbestand auf Antrag oder von Amts wegen zu beseitigen (vgl BVerfGE 20, 230, 235; BVerfGE 117, 302, 315 = SozR 4-8100 Art 19 Nr 1 RdNr 32). Vielmehr hat der Gesetzgeber bei der Regelung der Rechtsbeständigkeit unanfechtbarer Verwaltungsakte zwischen dem Prinzip der Rechtssicherheit und dem Grundsatz der (materiellen) Gerechtigkeit abzuwägen. Zwar kommt im Wiedergutmachungsrecht dem Prinzip der materiellen Gerechtigkeit größeres Gewicht zu. Dennoch fordert das GG selbst hier (lediglich) einen Anspruch darauf, dass die Behörde nach pflichtgemäßem Ermessen darüber entscheidet, ob sie in eine erneute Nachprüfung eines unanfechtbaren ablehnenden Bescheids eintreten will ( BVerfGE 27, 297, 305 ff).

28Über das hiernach verfassungsrechtlich Gebotene ist der Gesetzgeber des SGB X, in Kraft seit , bereits weit hinausgegangen, hat er doch zugunsten der Sozialleistungsberechtigten die auch im Fall der Klägerin angewandte Regelung des § 44 Abs 1 SGB X (hierzu oben unter 1.) geschaffen. Dieser enthält auch gegenüber der Parallelvorschrift in § 48 Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVfG) günstigere Regelungen, weil dort die Überprüfung bindender Verwaltungsakte - wie vom BVerfG für das Wiedergutmachungsrecht gefordert - in das Ermessen der Verwaltungsbehörde gestellt ist, was damit auch für den Umfang der Rückwirkung gilt. Demgegenüber ist nach § 44 Abs 1 SGB X ein rechtswidriger Verwaltungsakt, der eine Sozialleistung zu Unrecht verweigert hat, zurückzunehmen, ohne dass der Verwaltung insoweit ein Ermessen zustünde; nach Abs 4 der Vorschrift sind ferner die vorenthaltenen Leistungen zwingend für vier Jahre rückwirkend zu erbringen. Diese Regelung kommt auch der Klägerin zugute.

29Ohne dass dies für die Entscheidung des Senats ein tragender Grund ist, wirkt sich zu Gunsten der Klägerin weiterhin aus, dass die Beklagte für den Zugangsfaktor (§ 77 Abs 2 S 1 Nr 2 Buchst b SGB VI) davon ausgegangen ist, dass die Klägerin die Altersrente nach Erreichen der Regelaltersgrenze erst zum in Anspruch genommen und die Rente daher auch nach einem höheren Zugangsfaktor (1,900) als bei einem (begehrten) Rentenbeginn zum (1,450) berechnet hat (vgl § 3 Abs 2 ZRBG).

30Wenn aber, wie aufgezeigt, die Beklagte mit den angefochtenen Bescheiden nicht gegen das GG verstoßen hat, besteht in keinerlei Hinsicht ein Anlass, im vorliegenden Fall die Vorschriften des § 3 Abs 1 ZRBG und § 44 Abs 4 SGB X im Sinne des Klageantrags "verfassungskonform" anzuwenden.

314. Der Fall der Klägerin ist entgegen ihrer Meinung nicht mit der Konstellation vergleichbar, die zum Senatsurteil vom (B 13 RJ 34/04 R - BSGE 94, 294 = SozR 4-2600 § 306 Nr 1) geführt hat. Denn im vorliegenden Fall führt der neue Antrag nach Unanfechtbarkeit des früheren Bescheids - anders als damals - nicht dazu, dass die Klägerin von einem Rentenanspruch nach dem ZRBG vollständig (und auf Dauer) ausgeschlossen wird, sondern lediglich zu einer nur eingeschränkten Rückwirkung.

325. Etwas anderes lässt sich nicht aus der Antwort der Bundesregierung vom auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Andreas Storm ua und der Fraktion der CDU/CSU zu Frage 6 (BT-Drucks 15/1475 S 4) ableiten; denn diese erläutert, dass auf Rentenanträge, die nach dem gestellt wurden, die Zahlung mit dem Antragsmonat beginnt. Zur Frage, ob bei Überprüfungsanträgen nach § 44 SGB X nach Ablauf des die Vier-Jahres-Frist nach dessen Abs 4 (nicht) gelten soll, nimmt sie keine Stellung (vgl hierzu aber die Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Ulla Jelpke ua und der Fraktion DIE LINKE zu Frage 10 <BT-Drucks 17/6776 S 5>, die die Anwendung des § 44 Abs 4 SGB X bejaht).

33Auch aus dem Urteil des Senats vom (B 13 RJ 23/01 R - BSGE 89, 151 = SozR 3-1300 § 44 Nr 34) ergibt sich nichts Abweichendes. Denn diese Entscheidung ist zum Übergang eines zivilrechtlichen Schadensersatzanspruchs auf Ersatz von Beiträgen zur Rentenversicherung ergangen und daher für den vorliegenden Sachverhalt von vornherein nicht einschlägig.

346. Ob die Klägerin vor dem weitere Rentenanträge zB bei einem israelischen Versicherungsträger (mit Wirkung für die deutsche gesetzliche Rentenversicherung: s hierzu Senatsurteil vom - B 13 R 20/10 R - zur Veröffentlichung in SozR 4-6480 Art 27 Nr 1 vorgesehen) gestellt hat, kann im vorliegenden Verfahren dahingestellt bleiben. Denn solche Anträge hätten sich auch dann mit Erlass des Bescheids der Beklagten vom erledigt, wenn sie der Beklagten nicht bekannt waren. Denn dieser Bescheid ist mit Eintritt seiner Bestandskraft nach § 77 SGG "in der Sache" bindend geworden (vgl zur Bindungswirkung bestandskräftiger Verwaltungsakte bereits BSGE 18, 22, 26 = SozR Nr 35 zu § 77 SGG). Nach der Rücknahme des Ablehnungsbescheids vom nach § 44 SGB X ist daher auch insoweit die rückwirkende Rentenzahlung durch § 44 Abs 4 SGB X beschränkt.

357. a) Unerheblich ist, in welchem Maße rechtswidrig die ablehnenden ursprünglichen Entscheidungen der Beklagten und der Gerichte waren. Dass sie sich überhaupt als rechtswidrig erwiesen haben, ist bereits Voraussetzung der Anwendung der Vorschrift des § 44 Abs 1 SGB X. Diese macht keine Unterscheidung zwischen verschiedenen Graden der Rechtswidrigkeit. Jedenfalls kann keine Nichtigkeit (§ 40 Abs 1 SGB X) der genannten Bescheide festgestellt werden. Es lag kein "besonders schwerwiegenden Fehler" vor, der "bei verständiger Würdigung aller in Betracht kommenden Umstände offensichtlich" gewesen wäre; insbesondere lässt sich dies den Urteilen des BSG vom 2. und nicht entnehmen.

36Im Übrigen führt noch nicht einmal die vom BVerfG festgestellte Nichtigkeit eines verfassungswidrigen Gesetzes automatisch zur Rücknahme unanfechtbarer, auf diesem Gesetz beruhender Verwaltungsentscheidungen (§ 79 Abs 2 BVerfGG), geschweige denn zu rückwirkender Leistungsgewährung.

37b) Auch der Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242 BGB) steht der Anwendung des § 44 Abs 4 SGB X nicht entgegen. Denn § 44 Abs 4 SGB X ist beim Vorliegen seiner Voraussetzungen ohne weiteres anwendbar, ohne dass der Leistungsträger eine Einrede zu erheben bräuchte und vor allem ohne dass gegen die Anwendung der Vorschrift der Einwand unzulässiger Rechtsausübung oder ein Verstoß gegen Treu und Glauben geltend gemacht werden könnte ( BSGE 60, 158, 160 = SozR 1300 § 44 Nr 23 S 53; BSGE 62, 10, 14 = SozR 2200 § 1254 Nr 7 S 18). Unerheblich ist, ob den Versicherungsträger an der Rechtswidrigkeit des nach § 44 Abs 1 SGB X zurückgenommenen Verwaltungsakts ein Verschulden trifft ( SozR 1300 § 44 Nr 17, Leits 1).

38c) Zugunsten der Klägerin wirkt sich schließlich nicht der vom BGH zum Entschädigungsrecht entwickelte Grundsatz aus, dass eine Gesetzesauslegung, die möglich ist und dem Ziel entspricht, das zugefügte Unrecht so bald und so weit wie irgend möglich wiedergutzumachen, den Vorzug gegenüber jeder anderen Auslegung verdient, die die Wiedergutmachung erschwert oder zunichte macht (stRspr, zB - RzW 1955, 55, 57; aus neuerer Zeit - LM BEG 1956 § 35 Nr 37 unter II 2 c der Gründe; - LM BEG 1956 § 35 Nr 34 unter II 2 der Gründe).

39Zwar ist hiervon bei der Auslegung einschlägiger Vorschriften auch das BSG ausgegangen (zB SozR 5070 § 9 Nr 7 S 14; SozR 5070 § 10 Nr 20 S 46; SozR 5070 § 10a Nr 2 S 3; SozR 5070 § 9 Nr 1 S 3).

40Die von der Klägerin erstrebte Rechtsanwendung ist jedoch, wie bereits erläutert, nicht möglich:

41Der Gesetzgeber hat mit dem ZRBG zur Wiedergutmachung erlittenen Unrechts Rentenzeiten, die mit in einem Ghetto verrichteter Arbeit erworben wurden, unabhängig von weiteren Voraussetzungen (insbesondere nach dem FRG) als Regelaltersrente zahlbar gemacht. Anders als etwa bei der Zuerkennung eines festen Entschädigungsbetrags handelt es sich damit bei den auf der Grundlage des ZRBG gezahlten Leistungen um Renten, die dem Recht der gesetzlichen Rentenversicherung nach dem SGB VI folgen. Die aus dieser Konzeption folgenden Konsequenzen, wie etwa im vorliegenden Fall aus der Bestandskraft eines ablehnenden Bescheids, treten bei allen Renten ein. Sie widersprechen insbesondere nicht dem Wiedergutmachungsgedanken (s hierzu oben unter 3.).

42d) Damit lässt sich auch kein anderes Ergebnis aus § 2 Abs 2 Halbs 2 SGB I ableiten, wonach bei der Auslegung der Vorschriften des SGB "sicherzustellen (ist), dass die sozialen Rechte möglichst weitgehend verwirklicht werden". Im Übrigen enthält § 44 SGB X bereits eine Konkretisierung des in dieser Vorschrift allgemein geregelten Effektuierungsgedankens ( BSGE 63, 214, 218 = SozR 1300 § 44 Nr 34 S 95; Steinbach in Hauck/Noftz, SGB I, K § 2 RdNr 36, Stand Einzelkommentierung Dezember 2005).

438. Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BSG:2012:070212UB13R4011R0

Fundstelle(n):
DStR 2012 S. 1813 Nr. 36
NJW 2012 S. 2908 Nr. 39
CAAAE-08674