Einstellung von Steuerverfahren in Italien mit Unionsrecht vereinbar
Leitsatz
Das Unionsrecht, insbesondere das Rechtsmissbrauchsverbot, Art. 4 Abs. 3 EUV, die vom AEU-Vertrag garantierten Freiheiten, das Diskriminierungsverbot, die Vorschriften über staatliche Beihilfen und die Verpflichtung, die wirksame Anwendung des Unionsrechts zu gewährleisten, ist dahin auszulegen, dass es in einem die direkte Besteuerung betreffenden Verfahren wie dem Ausgangsverfahren der Anwendung einer nationalen Vorschrift nicht entgegensteht, die die Einstellung der bei dem in Steuersachen letztinstanzlich entscheidenden Gericht anhängigen Verfahren gegen Zahlung eines Betrags in Höhe von 5 % des Streitwerts vorsieht, wenn diese Verfahren auf eine Klage zurückgehen, die mehr als zehn Jahre vor Inkrafttreten dieser Vorschrift erhoben wurde, und die Finanzverwaltung in den ersten beiden Rechtszügen unterlegen ist.
Instanzenzug: Corte suprema di cassazione (Italien) - ,
Gründe
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung des Unionsrechts auf dem Gebiet der direkten Besteuerung.
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem Ministero dell'Economia e delle Finanze (Ministerium für Wirtschaft und Finanzen) und der Agenzia delle Entrate (Agentur für Steuern und Abgaben) einerseits und der 3M Italia SpA (im Folgenden: 3M Italia) andererseits wegen der Besteuerung der von dieser Gesellschaft für die Jahre 1989 bis 1991 ausgeschütteten Dividenden.
Rahmen des nationalen Rechts
Art. 3 Abs. 2bis des Decreto-legge Nr. 40/2010 (GURI Nr. 71 vom ), das mit Änderungen in das Gesetz Nr. 73/2010 (GURI Nr. 120 vom ) umgewandelt wurde (im Folgenden: Decreto-legge Nr. 40/2010), lautet:
"Um die Dauer gerichtlicher Verfahren in Steuersachen innerhalb der Grenzen einer angemessenen Verfahrensdauer im Sinne der [am in Rom unterzeichneten und] durch das Gesetz Nr. 848 vom ratifizierten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten [im Folgenden: EMRK] zu halten, werden in Anbetracht der Überschreitung einer angemessenen Verfahrensdauer im Sinne von Art. 6 Abs. 1 EMRK anhängige Streitverfahren in Steuersachen, die auf Klagen zurückgehen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Gesetzes, mit dem das vorliegende Decreto-legge in ein Gesetz umgewandelt wird, seit mehr als zehn Jahren im Register der ersten Instanz eingetragen sind, und in denen die Finanzverwaltung in den beiden ersten Rechtszügen unterlegen ist, wie folgt eingestellt:
...
b) bei der Corte suprema di cassazione anhängige Streitverfahren in Steuersachen können gegen Zahlung eines Betrags in Höhe von 5 % des Streitwerts ... und gleichzeitigen Verzicht auf jeglichen Anspruch auf eine billige Entschädigung im Sinne des Gesetzes Nr. 89 vom eingestellt werden. Hierzu kann der Steuerpflichtige innerhalb von neunzig Tagen ab Inkrafttreten des Gesetzes zur Umwandlung des vorliegenden Decreto-legge einen entsprechenden Antrag bei der zuständigen Geschäftsstelle oder Kanzlei stellen, dem ein Beleg für die entsprechende Zahlung beizulegen ist. Die in diesem Absatz genannten Verfahren werden bis zum Ablauf der genannten Frist ausgesetzt und nach vollständiger Zahlung der Verfahrenskosten eingestellt. Eine Rückerstattung ist in jedem Fall ausgeschlossen."
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
Die Gesellschaft 3M Company mit Sitz in den Vereinigten Staaten bestellte an den Aktien der von ihr beherrschten 3M Italia ein Nießbrauchsrecht zugunsten der Gesellschaft Shearson Lehman Hutton Special Financing, die ihren Sitz ebenfalls in den Vereinigten Staaten hat. Letztere wiederum übertrug ihr Nießbrauchsrecht der Olivetti & C. mit Sitz in Italien, wobei das Stimmrecht der Eigentümerin 3M Company vorbehalten blieb.
Nach einer Überprüfung meinte die italienische Finanzverwaltung, dass die Übertragung des Nießbrauchs an Olivetti & C. fiktiv sei und die von 3M Italia an diese Gesellschaft ausgeschütteten Dividenden in Wirklichkeit von Shearson Lehman Hutton Special Financing, einer nicht in Italien ansässigen Gesellschaft, bezogen worden seien. Sie entschied daher, dass auf diese Dividenden statt des Vorausabzugs von 10 % und der Steuergutschrift, die für in Italien ansässige Steuerpflichtige gelten, der in den italienischen Vorschriften über die Besteuerung von Einkünften aus Eigentum vorgesehene Steuerabzug von 32,4 % anzuwenden sei. Ferner vertrat die Finanzverwaltung die Auffassung, dass die Verantwortung für die nicht ordnungsgemäße Anwendung der Steuererhebungsregeln 3M Italia anzulasten sei. Daher verlangte sie von dieser die Zahlung von 20 089 887 000 ITL für das Jahr 1989, 12 960 747 000 ITL für das Jahr 1990 und 9 806 820 000 ITL für das Jahr 1991 zuzüglich Geldbußen und Zinsen.
3M Italia erhob gegen die entsprechenden Steuerbescheide Klage bei der Commissione tributaria provinciale di Caserta (Finanzgericht der Provinz Caserta), die die Bescheide aufhob. Diese Entscheidung wurde durch ein Urteil der Commissione tributaria regionale Campania (Finanzgericht der Region Kampanien) vom bestätigt.
Das Ministero dell'Economia e delle Finanze und die Agenzia delle Entrate legten beim vorlegenden Gericht Kassationsbeschwerde ein und machten u. a. geltend, dass der fragliche Vorgang, also die Übertragung des Nießbrauchs, in Wirklichkeit nur ein Scheingeschäft sei, mit dem die Steuer umgangen werden solle. In diesem Stadium des Verfahrens beantragte 3M Italia die Anwendung von Art. 3 Abs. 2bis Buchst. b des Decreto-legge Nr. 40/2010, um auf diese Weise die Einstellung des Verfahrens vor der Corte suprema di cassazione zu erreichen.
Die Corte suprema di cassazione zweifelt jedoch an der Vereinbarkeit dieser Vorschrift mit dem Unionsrecht.
Sie wirft die Frage auf, ob der in den Urteilen vom , Halifax u. a. (C-255/02, Slg. 2006, I-1609), und vom , Part Service (C-425/06, Slg. 2008, I-897), verankerte Grundsatz des Verbots des Rechtsmissbrauchs auf dem Gebiet der harmonisierten Steuern auf nicht harmonisierte Steuern wie die direkten Steuern angewandt werden kann. In diesem Zusammenhang fragt sie sich insbesondere, ob "nicht ein Interesse der Gemeinschaft in Fällen wie dem vorliegenden besteht, die einen grenzüberschreitenden wirtschaftlichen Charakter haben und in denen die Anwendung von Rechtsformen, die nicht den tatsächlichen wirtschaftlichen Vorgängen entsprechen, einen Missbrauch der vom EG-Vertrag garantierten Grundfreiheiten, in erster Linie des freien Kapitalverkehrs, darstellen könnte".
Wenn dem so sei, sei zu prüfen, ob die fragliche nationale Vorschrift, die es bei einer "nahezu symbolischen" Verpflichtung des Steuerpflichtigen bewenden lasse, nicht gegen die Verpflichtung, missbräuchliche Praktiken zu verhindern, sowie gegen Art. 4 Abs. 3 EUV verstoße, wonach die Mitgliedstaaten alle geeigneten Maßnahmen zur Erfüllung der Verpflichtungen ergreifen, die sich aus den Verträgen ergeben, und alle Maßnahmen unterlassen, die die Verwirklichung der Ziele der Union gefährden könnten.
Das vorlegende Gericht bezweifelt auch die Vereinbarkeit der fraglichen Vorschrift, die einen fast vollständigen Verzicht auf die Beitreibung der Steuerforderung enthalte, mit den Grundsätzen des Binnenmarkts. Unter Hinweis auf "die vom Vertrag garantierten Grundfreiheiten und Grundprinzipien" fragt es sich insbesondere, ob eine solche Vorschrift als eine "ordnungsgemäße Ausübung des Steuerwettbewerbs" angesehen werden könne, wenn sich der Ausfall von Steuereinnahmen wie im vorliegenden Fall aus missbräuchlichen Praktiken ergebe. Außerdem begründe dieser Steuerverzicht eine "Diskriminierung zugunsten von Unternehmen mit Sitz in Italien".
Wegen des Vorteils, den die fragliche Vorschrift dem Begünstigten verschaffe, und wegen ihres selektiven Charakters seien darüber hinaus die Vorschriften des AEU-Vertrags über staatliche Beihilfen zu berücksichtigen. Eine Steueramnestie, die einfach in einem Verzicht auf die Steuer bestehe, könne, auch wenn sie nur im gerichtlichen Verfahren gegen Zahlung eines sehr geringen, ja geradezu lächerlichen Betrags erfolge, nicht durch die Natur oder die Systematik des Steuersystems gerechtfertigt sein und sei grundsätzlich als staatliche Beihilfe zu qualifizieren.
Schließlich fragt sich das vorlegende Gericht, ob eine solche Vorschrift, da sie dem letztinstanzlich entscheidenden Gericht die Befugnis entziehe, seine Rechtmäßigkeitskontrolle, die eine Kontrolle der Auslegung und Anwendung des Unionsrechts einschließe, auszuüben und ein Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof zu richten, nicht der Verpflichtung zuwiderlaufe, eine wirksame Anwendung des Unionsrechts zu gewährleisten.
Unter diesen Umständen hat die Corte suprema di cassazione beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Stellt das Rechtsmissbrauchsverbot in Steuersachen, wie es in den Urteilen Halifax u. a. und Part Service umschrieben worden ist, nur im Bereich der harmonisierten Steuern und in den von sekundären Gemeinschaftsrechtsnormen geregelten Bereichen einen fundamentalen Grundsatz des Gemeinschaftsrechts dar, oder erstreckt es sich, wenn es um den Missbrauch von Grundfreiheiten geht, auf die Bereiche der nicht harmonisierten Steuern, z. B. der direkten Steuern, sofern grenzüberschreitende Geschäftsvorfälle besteuert werden, wie etwa in dem Fall, in dem eine Gesellschaft Nutzungsrechte an Aktien einer anderen Gesellschaft, die ihren Sitz in einem anderen Mitgliedstaat oder in einem Drittstaat hat, erwirbt?
2. Unabhängig von der Beantwortung der vorangehenden Frage: Besteht ein Interesse der Gemeinschaft, dass die Mitgliedstaaten geeignete Maßnahmen zur Verhinderung von Steuerumgehungen im Bereich der nicht harmonisierten Steuern vorsehen? Steht dieses Interesse einer Nichtanwendung - im Rahmen einer Amnestiemaßnahme - des Rechtsmissbrauchsverbots, das auch als Regel des innerstaatlichen Rechts anerkannt ist, entgegen, und liegt in einem solchen Fall ein Verstoß gegen die aus Art. 4 Abs. 3 des Vertrags über die Europäische Union ableitbaren Grundsätze vor?
3. Kann aus den Grundsätzen des Binnenmarkts ein Verbot abgeleitet werden, neben außerordentlichen Maßnahmen des vollständigen Verzichts auf die Steuerforderung eine außerordentliche Maßnahme der Beendigung von Steuerstreitigkeiten vorzusehen, deren Anwendung zeitlich begrenzt und an die Zahlung nur eines Teils, und zwar eines erheblich geringeren Teils der geschuldeten Steuer geknüpft ist?
4. Stehen der Grundsatz der Nichtdiskriminierung und die Regelung über staatliche Beihilfen der Regelung über die Beendigung von Steuerstreitigkeiten, um die es im vorliegenden Fall geht, entgegen?
5. Steht der Grundsatz der wirksamen Anwendung des Gemeinschaftsrechts einer außerordentlichen und zeitlich begrenzten Verfahrensregelung entgegen, die dem letztinstanzlichen Gericht, das verpflichtet ist, Fragen nach der Gültigkeit und Auslegung dem Gerichtshof der Europäischen Union zur Vorabentscheidung vorzulegen, die Rechtmäßigkeitskontrolle (und insbesondere die Kontrolle der richtigen Auslegung und Anwendung des Gemeinschaftsrechts) entzieht?
Zu den Vorlagefragen
Mit seinen Vorlagefragen möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob das Unionsrecht, insbesondere das Rechtsmissbrauchsverbot, Art. 4 Abs. 3 EUV, die vom AEU-Vertrag garantierten Freiheiten, das Diskriminierungsverbot, die Vorschriften über staatliche Beihilfen und die Verpflichtung, die wirksame Anwendung des Unionsrechts zu gewährleisten, dahin auszulegen ist, dass es in einem die direkte Besteuerung betreffenden Verfahren wie dem Ausgangsverfahren der Anwendung einer nationalen Vorschrift entgegensteht, die die Einstellung von bei dem in Steuersachen letztinstanzlich entscheidenden Gericht anhängigen Verfahren gegen Zahlung eines Betrags in Höhe von 5 % des Streitwerts vorsieht, wenn diese Verfahren auf eine Klage zurückgehen, die mehr als zehn Jahre vor dem Inkrafttreten dieser Vorschrift erhoben wurde, und die Finanzverwaltung in den ersten beiden Rechtszügen unterlegen ist.
Zur Zulässigkeit
3M Italia und die italienische Regierung halten das Vorabentscheidungsersuchen für unzulässig.
Da im Ausgangsverfahren weder Vorsatz noch Fahrlässigkeit abschließend festgestellt worden seien, das Unionsrecht auf das Ausgangsverfahren nicht anwendbar sei und es im italienischen Recht einen Verfassungsgrundsatz gebe, der Rechtsmissbrauch verbiete, stünden die ersten beiden Fragen des vorlegenden Gerichts, so 3M Italia, in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Streitgegenstand des Ausgangsverfahrens und beträfen ein hypothetisches Problem.
Die italienische Regierung macht geltend, die Vorlageentscheidung komme nicht der Verpflichtung nach, alle tatsächlichen und rechtlichen Angaben zum Ausgangsverfahren zu liefern, um es dem Gerichtshof zu ermöglichen, eine der Lösung des Rechtsstreits zweckdienliche Auslegung zu geben. Insbesondere enthalte die Vorlageentscheidung keine Analyse des Art. 3 Abs. 2bis des Decreto-legge Nr. 40/2010, anhand deren sich nachvollziehen lasse, weshalb diese Vorschrift einen Steuerverzicht enthalte. Es werde auch nicht ausgeführt, inwiefern der Sachverhalt des Ausgangsverfahrens grenzüberschreitenden Charakter habe und als rechtsmissbräuchlich zu qualifizieren sei. Daher seien die vorgelegten Fragen abstrakt und hypothetisch.
Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass ein Vorabentscheidungsersuchen eines nationalen Gerichts nur dann für unzulässig erklärt werden kann, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (vgl. u. a. Urteile vom , Bosman, C-415/93, Slg. 1995, I-4921, Randnr. 61, und vom , Schröder, C-450/09, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 17).
Die Informationen, die dem Gerichtshof im Rahmen einer Vorlageentscheidung geliefert werden müssen, dienen nicht nur dazu, dem Gerichtshof zu ermöglichen, dem vorlegenden Gericht sachdienliche Antworten zu geben, sondern sie sollen auch den Regierungen der Mitgliedstaaten und den anderen interessierten Beteiligten die Möglichkeit geben, sich gemäß Art. 23 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union zu äußern. Nach ständiger Rechtsprechung ist es dazu zum einen erforderlich, dass das nationale Gericht den tatsächlichen und rechtlichen Rahmen, in den sich seine Fragen einfügen, festlegt oder zumindest die tatsächlichen Annahmen erläutert, auf denen diese Fragen beruhen. Zum anderen muss die Vorlageentscheidung die genauen Gründe angeben, aus denen dem nationalen Gericht die Auslegung des Unionsrechts fraglich und die Vorlage von Fragen zur Vorabentscheidung an den Gerichtshof erforderlich erscheint (Urteil vom 8. September 2009, Liga Portuguesa de Futebol Profissional und Bwin International, C-42/07, Slg. 2009, I-7633, Randnr. 40 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Im vorliegenden Fall enthält die Vorlageentscheidung eine Darstellung des dem Ausgangsverfahren zugrunde liegenden Sachverhalts und des einschlägigen nationalen Rechts, nämlich des Art. 3 Abs. 2bis Buchst. b des Decreto-legge Nr. 40/2010. Darüber hinaus werden die Gründe angeführt, aus denen das vorlegende Gericht Zweifel an der Vereinbarkeit dieser Vorschrift mit dem Unionsrecht hat und es für erforderlich erachtet, den Gerichtshof um Vorabentscheidung zu ersuchen.
In seiner dritten Frage, die allgemein die Auslegung der "Grundsätze des Binnenmarkts" betrifft, geht das vorlegende Gericht zwar nicht näher auf diese Grundsätze ein, doch reicht die in der Vorlageentscheidung enthaltene Darstellung der tatsächlichen und rechtlichen Umstände und der Zweifel an der Vereinbarkeit von Art. 3 Abs. 2bis Buchst. b des Decreto-legge Nr. 40/2010 mit dem Unionsrecht insgesamt aus, um die Mitgliedstaaten und die anderen interessierten Beteiligten in die Lage zu versetzen, ihre Erklärungen hierzu abzugeben und sich wirksam am Verfahren zu beteiligen, wie dies die schriftlichen und mündlichen Erklärungen der Beteiligten belegen, die am Verfahren teilgenommen haben, und es dem Gerichtshof zu ermöglichen, dem vorlegenden Gericht eine sachdienliche Antwort zu geben.
Die Frage schließlich, ob das Unionsrecht auf den Rechtsstreit des Ausgangsverfahrens anwendbar ist, gehört zur inhaltlichen Prüfung der Vorlagefragen in ihrer Umformulierung in Randnr. 15 des vorliegenden Urteils. Diese Fragen sind für die Entscheidung dieses Rechtsstreits maßgeblich, da es um dessen Beendigung durch eine Entscheidung des vorlegenden Gerichts gemäß der fraglichen nationalen Vorschrift geht. Daraus folgt, dass die Fragen offenkundig in einem Zusammenhang mit der Realität des Ausgangsverfahrens stehen und weder abstrakt noch hypothetisch sind.
Demnach ist das Vorabentscheidungsersuchen zulässig.
Zu den Vorlagefragen
Die direkten Steuern fallen nach ständiger Rechtsprechung zwar in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten, doch müssen diese ihre Befugnisse unter Wahrung des Unionsrechts ausüben (vgl. u. a. Urteil vom , Glaxo Wellcome, C-182/08, Slg. 2009, I-8591, Randnr. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Im vorliegenden Fall sieht Art. 3 Abs. 2bis Buchst. b des Decreto-legge Nr. 40/2010 die Einstellung der bei der Corte suprema di cassazione anhängigen Steuerverfahren, die seit Klageerhebung mehr als zehn Jahre andauern und in denen die Finanzverwaltung in den ersten beiden Rechtszügen unterlegen ist, gegen Zahlung eines Betrags in Höhe von 5 % des Streitwerts und den Verzicht auf eine Schadensersatzforderung wegen Überschreitung einer angemessenen Verfahrensdauer vor, "um die Dauer gerichtlicher Verfahren in Steuersachen innerhalb der Grenzen einer angemessenen Verfahrensdauer im Sinne der [EMRK] zu halten, ... in Anbetracht der Überschreitung einer angemessenen Verfahrensdauer im Sinne von Art. 6 Abs. 1 EMRK".
Außerdem soll mit Art. 3 Abs. 2bis Buchst. b des Decreto-legge Nr. 40/2010, den das vorlegende Gericht als einen Steuerverzicht versteht, seinem Wortlaut nach die Dauer der Verfahren in Steuersachen verkürzt werden, um den in der EMRK aufgestellten Grundsatz der angemessenen Verfahrensdauer einzuhalten und entsprechende Verstöße abzustellen.
Insoweit ergibt sich aus den Akten, dass der Sachverhalt des Ausgangsverfahrens über 20 Jahre zurückreicht.
Vor diesem Hintergrund ist zu untersuchen, ob die in der Vorlageentscheidung angeführten Vorschriften und Grundsätze des Unionsrechts der Anwendung einer nationalen Vorschrift wie Art. 3 Abs. 2bis Buchst. b des Decreto-legge Nr. 40/2010 in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens entgegenstehen.
Erstens ist zum Rechtsmissbrauchsverbot und zu Art. 4 Abs. 3 EUV zunächst festzustellen, dass es sich im Ausgangsverfahren nicht um einen Rechtsstreit handelt, in dem sich Steuerpflichtige in Betrugsabsicht oder missbräuchlich auf eine Norm des Unionsrechts berufen oder berufen könnten. Daher sind die auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer ergangenen Urteile Halifax u. a. und Part Service, auf die das vorlegende Gericht mit der Frage Bezug nimmt, ob sich das in diesen Urteilen aufgestellte Rechtsmissbrauchsverbot auf den Bereich nicht harmonisierter Steuern erstreckt, im vorliegenden Fall nicht einschlägig.
Sodann ist den Akten auch nicht zu entnehmen, dass es im Ausgangsverfahren um die Anwendung einer nationalen Vorschrift ginge, die eine Beschränkung einer der vom AEU-Vertrag garantierten Freiheiten enthält, und die Frage, ob diese Beschränkung mit der Notwendigkeit, missbräuchliche Praktiken zu verhindern, gerechtfertigt werden kann. Folglich ist auch die Rechtsprechung des Gerichtshofs zum Rechtsmissbrauch im Bereich der direkten Besteuerung, wie sie sich insbesondere aus den Urteilen vom 12. September 2006, Cadbury Schweppes und Cadbury Schweppes Overseas (C-196/04, Slg. 2006, I-7995), vom , Test Claimants in the Thin Cap Group Litigation (C-524/04, Slg. 2007, I-2107), vom , Jobra (C-330/07, Slg. 2008, I-9099), und Glaxo Wellcome ergibt, ebenfalls nicht einschlägig.
Schließlich ist jedenfalls festzustellen, dass es im Unionsrecht keinen allgemeinen Grundsatz gibt, aus dem sich eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten, missbräuchliche Praktiken im Bereich der direkten Besteuerung zu bekämpfen, herleitete und der der Anwendung einer Vorschrift wie der des Ausgangsverfahrens entgegenstünde, wenn sich der steuerbare Vorgang aus solchen Praktiken ergibt und das Unionsrecht nicht betroffen ist.
Folglich können das Rechtsmissbrauchsverbot und Art. 4 Abs. 3 EUV, wonach die Mitgliedstaaten gehalten sind, alle geeigneten Maßnahmen allgemeiner oder besonderer Art zur Erfüllung der Verpflichtungen zu ergreifen, die sich aus dem Unionsrecht ergeben, und alle Maßnahmen zu unterlassen, die die Verwirklichung der Ziele der Union gefährden könnten, der Anwendung einer nationalen Vorschrift wie Art. 3 Abs. 2bis Buchst. b des Decreto-legge Nr. 40/2010 in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens grundsätzlich nicht entgegenstehen.
Zweitens ist zu den vom AEU-Vertrag garantierten Freiheiten und zum Diskriminierungsverbot zu bemerken, dass durch den im Ausgangsverfahren fraglichen Vorgang offensichtlich nur der freie Kapitalverkehr betroffen ist, da es um die von einer Gesellschaft eines Drittstaats vorgenommene Übertragung des Nießbrauchs an Aktien einer italienischen Gesellschaft auf eine andere italienische Gesellschaft geht. Insoweit genügt jedoch die Feststellung, dass sich aus den Akten nicht ergibt, dass eine Vorschrift wie Art. 3 Abs. 2bis Buchst. b des Decreto-legge Nr. 40/2010 in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens den freien Kapitalverkehr oder sonst allgemein die Ausübung einer der vom AEU-Vertrag garantierten Freiheiten berührt.
Da diese Freiheiten auf ihrem jeweiligen Gebiet die spezielle Ausprägung des allgemeinen Verbots der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit darstellen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , Attanasio Group, C-384/08, Slg. 2010, I-2055, Randnr. 31), steht auch dieses Verbot der Anwendung einer nationalen Vorschrift wie Art. 3 Abs. 2bis Buchst. b des Decreto-legge Nr. 40/2010 in einem die direkte Besteuerung betreffenden Verfahren nicht entgegen.
Was drittens die Vorschriften über staatliche Beihilfen angeht, so hat der Gerichtshof wiederholt entschieden, dass staatliche Maßnahmen nicht schon wegen der mit ihnen verfolgten Ziele von einer Einordnung als "Beihilfen" im Sinne von Art. 107 AEUV ausgenommen sind. Art. 107 AEUV unterscheidet nämlich nicht nach den Gründen oder Zielen der staatlichen Maßnahmen, sondern beschreibt diese nach ihren Wirkungen (vgl. Urteil vom , British Aggregates/Kommission, C-487/06 P, Slg. 2008, I-10515, Randnrn. 84 und 85 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
Nach ständiger Rechtsprechung verlangt die Einstufung als staatliche Beihilfe, dass die folgenden Voraussetzungen sämtlich erfüllt sind. Erstens muss es sich um eine staatliche Maßnahme oder eine Maßnahme unter Inanspruchnahme staatlicher Mittel handeln. Zweitens muss diese Maßnahme geeignet sein, den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen. Drittens muss dem Begünstigten durch sie ein Vorteil gewährt werden. Viertens muss sie den Wettbewerb verfälschen oder zu verfälschen drohen (Urteil vom , Fallimento Traghetti del Mediterraneo, C-140/09, Slg. 2010, I-5243, Randnr. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Zur dritten Voraussetzung ist festzustellen, dass eine Maßnahme, mit der die staatlichen Stellen bestimmten Unternehmen eine steuerliche Vergünstigung gewähren, die zwar nicht mit der Übertragung staatlicher Mittel verbunden ist, aber die Begünstigten finanziell besser stellt als die übrigen Steuerpflichtigen, eine staatliche Beihilfe im Sinne von Art. 107 Abs. 1 AEUV ist (vgl. Urteil vom , Italien/Kommission, C-66/02, Slg. 2005, I-10901, Randnr. 78).
Dagegen stellen die Vorteile aus einer unterschiedslos auf alle Wirtschaftsteilnehmer anwendbaren allgemeinen Maßnahme keine staatlichen Beihilfen im Sinne dieses Artikels dar (vgl. Urteil Italien/Kommission, Randnr. 99).
Um zu beurteilen, ob eine Maßnahme selektiven Charakter hat, ist zu prüfen, ob sie im Rahmen einer bestimmten rechtlichen Regelung bestimmte Unternehmen gegenüber anderen Unternehmen, die sich in einer vergleichbaren tatsächlichen und rechtlichen Situation befinden, begünstigt. Jedoch fallen staatliche Maßnahmen, die eine Differenzierung zwischen Unternehmen vornehmen und damit a priori selektiv sind, dann nicht unter den Begriff der staatlichen Beihilfe, wenn sich diese Differenzierung aus der Natur oder der Systematik der Regelung ergibt, in die sie eingebunden sind (vgl. Urteil British Aggregates/Kommission, Randnrn. 82 und 83 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Im vorliegenden Fall ist, selbst wenn die Anwendung von Art. 3 Abs. 2bis Buchst. b des Decreto-legge Nr. 40/2010 in einer bestimmten Situation dazu führen könnte, dass dem durch diese Vorschrift Begünstigten ein Vorteil gewährt würde, zur Selektivität der Maßnahme festzustellen, dass diese allgemein auf alle Steuerpflichtigen anwendbar ist, die Partei in einem bei der Corte suprema di cassazione anhängigen steuerrechtlichen Verfahren sind, und zwar unabhängig von der Natur der fraglichen Steuer, sofern dieses Verfahren auf eine Klage zurückgeht, die mehr als zehn Jahre vor Inkrafttreten dieser Vorschrift erhoben wurde, und die Finanzverwaltung in den ersten beiden Rechtszügen unterlegen ist.
Der Umstand, dass nur die Steuerpflichtigen, die diese Voraussetzungen erfüllen, diese Maßnahme in Anspruch nehmen können, kann als solcher dieser Maßnahme keinen selektiven Charakter verleihen. Die Personen, die sie nicht in Anspruch nehmen können, befinden sich nämlich nicht in einer tatsächlichen und rechtlichen Situation, die im Hinblick auf das vom nationalen Gesetzgeber verfolgte Ziel, die Wahrung des Grundsatzes der angemessenen Verfahrensdauer zu gewährleisten, mit derjenigen dieser Steuerpflichtigen vergleichbar ist.
Diese Maßnahme ist zwar zeitlich befristet anwendbar, weil die Steuerpflichtigen, um die Vergünstigung zu erhalten, bei der zuständigen Geschäftsstelle oder Kanzlei innerhalb von 90 Tagen nach Inkrafttreten des Gesetzes zur Umwandlung dieses Decreto-legge einen entsprechenden Antrag stellen müssen. Zum einen ist jedoch dieser Art von Maßnahmen, die nur punktuell sein können, eine solche Befristung inhärent und zum anderen erscheint diese Frist ausreichend, um es allen Steuerpflichtigen, auf die diese allgemeine und punktuelle Maßnahme anwendbar ist, zu ermöglichen, diese Vergünstigung zu beantragen.
Somit ist, ohne dass die übrigen in Randnr. 37 des vorliegenden Urteils genannten Voraussetzungen geprüft zu werden brauchten, festzustellen, dass eine Maßnahme wie die nach Art. 3 Abs. 2bis Buchst. b des Decreto-legge Nr. 40/2010 nicht als staatliche Beihilfe eingestuft werden kann.
Schließlich ergibt sich hinsichtlich der Verpflichtung, die wirksame Anwendung des Unionsrechts zu gewährleisten, aus den vorstehenden Ausführungen, dass das Rechtsmissbrauchsverbot, Art. 4 Abs. 3 EUV, die vom AEU-Vertrag garantierten Freiheiten, das Diskriminierungsverbot und die Vorschriften über staatliche Beihilfen der Anwendung einer nationalen Vorschrift wie des Art. 3 Abs. 2bis Buchst. b des Decreto-legge Nr. 40/2010 in einem die direkte Besteuerung betreffenden Verfahren nicht entgegenstehen.
In Ermangelung einer Verletzung des Unionsrechts kann daher nicht davon ausgegangen werden, dass diese Vorschrift dadurch, dass sie wie jede andere Vorschrift, die die Erledigung des Verfahrens vor einer Entscheidung zur Sache vorsieht, bewirkt, dass das letztinstanzlich entscheidende nationale Gericht daran gehindert ist, in den fraglichen Verfahren seine Rechtmäßigkeitskontrolle gemäß dem Unionsrecht auszuüben, nachdem es gegebenenfalls den Gerichtshof nach Art. 267 AEUV angerufen hat, der den letztinstanzlich entscheidenden Gerichten obliegenden Verpflichtung, im Rahmen ihrer Zuständigkeiten die wirksame Anwendung des Unionsrechts zu gewährleisten, zuwiderläuft.
Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass das Unionsrecht, insbesondere das Rechtsmissbrauchsverbot, Art. 4 Abs. 3 EUV, die vom AEU-Vertrag garantierten Freiheiten, das Diskriminierungsverbot, die Regeln über staatliche Beihilfen und die Verpflichtung, die wirksame Anwendung des Unionsrechts zu gewährleisten, dahin auszulegen ist, dass es in einem die direkte Besteuerung betreffenden Verfahren wie dem Ausgangsverfahren der Anwendung einer nationalen Vorschrift nicht entgegensteht, die die Einstellung der bei dem in Steuersachen letztinstanzlich entscheidenden Gericht anhängigen Verfahren gegen Zahlung eines Betrags in Höhe von 5 % des Streitwerts vorsieht, wenn diese Verfahren auf eine Klage zurückgehen, die mehr als zehn Jahre vor Inkrafttreten dieser Vorschrift erhoben wurde, und die Finanzverwaltung in den ersten beiden Rechtszügen unterlegen ist.
Kosten
Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Vierte Kammer) für Recht erkannt:
Das Unionsrecht, insbesondere das Rechtsmissbrauchsverbot, Art. 4 Abs. 3 EUV, die vom AEU-Vertrag garantierten Freiheiten, das Diskriminierungsverbot, die Vorschriften über staatliche Beihilfen und die Verpflichtung, die wirksame Anwendung des Unionsrechts zu gewährleisten, ist dahin auszulegen, dass es in einem die direkte Besteuerung betreffenden Verfahren wie dem Ausgangsverfahren der Anwendung einer nationalen Vorschrift nicht entgegensteht, die die Einstellung der bei dem in Steuersachen letztinstanzlich entscheidenden Gericht anhängigen Verfahren gegen Zahlung eines Betrags in Höhe von 5 % des Streitwerts vorsieht, wenn diese Verfahren auf eine Klage zurückgehen, die mehr als zehn Jahre vor Inkrafttreten dieser Vorschrift erhoben wurde, und die Finanzverwaltung in den ersten beiden Rechtszügen unterlegen ist.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
Fundstelle(n):
BAAAE-07899