BGH Urteil v. - 1 StR 412/11

Anklageschrift: Umgrenzungsfunktion bei Bandentaten oder "uneigentlichen Organisationsdelikten"

Leitsatz

Die Umgrenzungsfunktion der Anklageschrift gebietet auch bei Bandentaten oder "uneigentlichen Organisationsdelikten" nicht, dass für die Bestimmtheit des Anklagevorwurfs i.S.d. § 200 Abs. 1 Satz 1 StPO mehr an Substanz verlangt wird als materiell-rechtlich für einen Schuldspruch erforderlich ist.

Gesetze: § 200 Abs 1 S 1 StPO, § 264 StPO

Instanzenzug: Az: 2 KLs 630 Js 8140/09 Urteil

Gründe

1Das Landgericht hat durch das angefochtene Urteil das Verfahren gemäß § 260 Abs. 3 StPO eingestellt und festgestellt, dass eine Entscheidung über die Verpflichtung zur Entschädigung der Angeklagten noch nicht veranlasst ist.

2Gegen dieses Urteil hat die Staatsanwaltschaft zu Ungunsten aller Angeklagten Revision eingelegt. Sie rügt die Verletzung materiellen Rechts. Die Rechtsmittel, die vom Generalbundesanwalt vertreten werden, haben in vollem Umfang Erfolg.

I.

3Dem Einstellungsurteil des Landgerichts ging folgendes prozessuale Geschehen voraus:

4Mit Anklageschrift vom (eingegangen am ) hat die Staatsanwaltschaft den sechs Angeklagten und einem weiteren Beschuldigten (   C.     ) zur Last gelegt, jeweils in 83 Fällen einen vollendeten gewerbsmäßigen Bandenbetrug und jeweils in 49 Fällen einen versuchten gewerbsmäßigen Bandenbetrug begangen zu haben. Den Angeklagten wird vorgeworfen, minderwertige Elektrogeräte (insbesondere Stromgeneratoren aus China) nach Anbringen von Typenaufklebern hochwertiger Hersteller zu einem Vielfachen des wirklichen Wertes an getäuschte Kunden verkauft oder einen Verkauf versucht zu haben. In der insgesamt 173 Seiten umfassenden Anklageschrift werden u.a. die Bandenabrede und die Bandenstruktur sowie die Aufgabenbereiche der Angeklagten innerhalb der Bande dargestellt. Die einzelnen Taten werden nach Tatzeit, Tatort, Verkäufer (soweit bekannt), Geschädigte(r), Kaufpreis, Anzahl der verkauften Gegenstände und Art der Bezahlung aufgelistet. Die jeweiligen Tätigkeiten der Bandenmitglieder werden im Anklagesatz geschildert. Im wesentlichen Ergebnis der Ermittlungen in der Anklageschrift vom wird u.a. näher dargelegt, inwieweit die einzelnen Taten den Angeklagten zuzurechnen sind (vgl. u.a. S. 99 ff.).

5Das Landgericht hat am im Wesentlichen folgenden Eröffnungsbeschluss erlassen:

Gegen den Angeschuldigten    C.      wurde die Eröffnung des Hauptverfahrens insgesamt abgelehnt. Hinsichtlich der anderen sechs Angeklagten wurde das Hauptverfahren in 44 Fällen eröffnet und die Anklageschrift zur Hauptverhandlung zugelassen. Wegen der übrigen Fälle wurde die Eröffnung des Hauptverfahrens abgelehnt. Soweit eine Ablehnung erfolgte, wurde diese im Wesentlichen mit dem Fehlen eines hinreichenden Tatverdachtes begründet.

6Durch weiteren wurden die Verfahren abgetrennt, soweit eine Eröffnung des Hauptverfahrens abgelehnt worden war. Über die gegen die teilweise Nichteröffnung eingelegte sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft (§ 210 Abs. 2 StPO) hat das zuständige Oberlandesgericht noch nicht entschieden.

7Unter dem hat die Staatsanwaltschaft gemäß § 207 Abs. 3 Satz 1 StPO eine dem Beschluss vom entsprechende neue Anklageschrift eingereicht, wobei sie gemäß § 207 Abs. 3 Satz 2 StPO von einer erneuten Darstellung des wesentlichen Ergebnisses der Ermittlungen abgesehen hat. In der Neufassung der Anklageschrift wird den Angeklagten "nur noch" zur Last gelegt, jeweils in 17 Fällen einen vollendeten gewerbsmäßigen Bandenbetrug und jeweils in 27 Fällen einen versuchten Bandenbetrug begangen zu haben. In der nunmehr insgesamt 73 Seiten umfassenden Anklageschrift werden erneut u.a. die Bandenabrede und Bandenstruktur sowie die Arbeitsaufteilung unter den angeklagten Bandenmitgliedern dargestellt. Die einzelnen Taten werden nach Tatzeit, Tatort, Verkäufer (bis auf einen Fall namentlich), Geschädigte(r), Kaufpreis, Anzahl der verkauften Gegenstände und Art der Bezahlung aufgelistet.

8Am wurden in der am begonnenen Hauptverhandlung die Verfahrensbeteiligten u.a. über Vorverständigungsgespräche unterrichtet und es wurde ihnen die Auffassung des Gerichts zum bisherigen Ergebnis der Beweisaufnahme mitgeteilt. Die Verfahrensbeteiligten wurden auch darauf hingewiesen, "dass die Kammer weiterhin zu prüfen haben wird, ob die vorgelegte Anklageschrift ihrer Informationsfunktion genügt und dass diese Prüfung auch zu einem anderen Ergebnis führen kann als mit der Eröffnung des Hauptverfahrens erfolgt."

9Eine vom Gericht angeregte Verfahrenseinstellung gemäß § 153 Abs. 2 StPO ist an der fehlenden Zustimmung der Staatsanwaltschaft gescheitert.

10In dem angefochtenen Urteil vom erfolgte eine Einstellung des Verfahrens, weil die Anklage ihre Funktion nicht erfülle, den Verfahrensgegenstand zu umgrenzen. Welche bestimmten Taten den Angeklagten vorgeworfen werde, gehe aus dem Anklagesatz nicht hervor, jedenfalls nicht, welchen konkreten Tatbeitrag welcher Angeklagte zu welcher Tat geleistet haben soll. Die den Angeklagten vorgeworfene Bildung einer Bande reiche dazu ebenso wenig aus wie die generelle Beschreibung der Funktionen, die die Angeklagten innerhalb der "Gruppierung" eingenommen haben. Stromgeneratoren der in der Anklageschrift genannten Art seien auch von anderen Personen vertrieben worden und die Straßenverkäufer seien nicht nur für die Angeklagten unterwegs gewesen. Die Handlungen der einzelnen Angeklagten seien nicht so hinreichend beschrieben, dass die Anklage ihrer Umgrenzungsfunktion genüge.

II.

11Die Revisionen der Staatsanwaltschaft sind begründet. Die Anklage ist wirksam, weil sie die notwendigen Angaben zur Bestimmung des Prozessgegenstandes enthält und damit ihrer Umgrenzungsfunktion genügt.

12Eine Anklage ist nur dann unwirksam mit der Folge, dass das Verfahren wegen Fehlens einer Prozessvoraussetzung einzustellen ist, wenn etwaige Mängel ihre Umgrenzungsfunktion betreffen (vgl. u.a. mwN). Mängel der Informationsfunktion berühren ihre Wirksamkeit dagegen nicht (vgl. u.a. mwN; mwN); insoweit können Fehler auch noch in der Hauptverhandlung durch Hinweise entsprechend § 265 StPO geheilt werden (vgl. u.a. mwN).

131. Die Anklageschrift hat nach § 200 Abs. 1 Satz 1 StPO die dem Angeklagten zur Last gelegte Tat sowie Zeit und Ort ihrer Begehung so genau zu bezeichnen, dass die Identität des geschichtlichen Vorgangs dargestellt und erkennbar wird, welche bestimmte Tat gemeint ist; sie muss sich von anderen gleichartigen strafbaren Handlungen desselben Täters unterscheiden lassen (vgl. u.a. mwN, BGHSt 40, 44, 45). Dabei muss die Schilderung umso konkreter sein, je größer die allgemeine Möglichkeit ist, dass der Angeklagte verwechselbare weitere Straftaten gleicher Art verübt hat (vgl. u.a. mwN). Die begangene konkrete Tat muss durch bestimmte Tatumstände so genau bezeichnet werden, dass keine Unklarheit darüber möglich ist, welche Handlungen dem Angeklagten zur Last gelegt werden (vgl. u.a. ). Denn es darf nicht unklar bleiben, über welchen Sachverhalt das Gericht nach dem Willen der Staatsanwaltschaft urteilen soll. Erfüllt die Anklage ihre Umgrenzungsfunktion nicht, ist sie unwirksam (vgl. u.a. mwN; ; ; mwN; , BGHSt 40, 44, 45). Ein wesentlicher Mangel der Anklageschrift, der als Verfahrenshindernis wirken kann, ist daher anzunehmen, wenn die angeklagten Taten anhand der Anklageschrift nicht genügend konkretisierbar sind, so dass unklar bleibt, auf welchen konkreten Sachverhalt sich die Anklage bezieht und welchen Umfang die Rechtskraft eines daraufhin ergehenden Urteils haben würde (vgl. u.a. mwN; mwN; ; mwN). Bei der Prüfung, ob die Anklage die gebotene Umgrenzung leistet, dürfen ggf. die Ausführungen im wesentlichen Ergebnis der Ermittlungen zur Ergänzung und Auslegung des Anklagesatzes herangezogen werden (vgl. u.a. mwN; mwN; ).

142. Danach liegen hier keine schweren Mängel der Anklageschrift vor, die zur Unwirksamkeit der Anklage und damit zu einem Verfahrenshindernis führen würden. Es bestehen insbesondere keinerlei Zweifel an dem Umfang der Rechtskraft eines daraufhin ergehenden Urteils. Alle den Angeklagten vorgeworfenen Taten sind nach Tatzeit, Tatort, Verkäufer, Geschädigte(r), Kaufpreis (oder Kaufpreisangebot), Anzahl der verkauften (oder verbindlich angebotenen) Gegenstände und (bei den vollendeten Taten) Art der Bezahlung hinreichend konkretisiert. Es ist danach klar, welche Taten den Angeklagten zur Last gelegt werden. Aus der Anklageschrift ergibt sich eindeutig, dass alle Taten allen Angeklagten als jeweils mittäterschaftlich (§ 25 Abs. 2 StGB) begangene Betrugsfälle angelastet werden, wobei die Anklage die Voraussetzungen einer Bande bejaht.

15Soweit in dem angefochtenen Urteil ausgeführt wird, dass eine hinreichende Konkretisierung der einzelnen Handlungen der Angeklagten deshalb fehle, weil nur die jeweilige Bandentätigkeit dargestellt werde, ist auf Folgendes hinzuweisen: Richtig ist, dass, wenn sich mehrere Täter zu einer Bande zusammenschließen, dies nicht zur Folge hat, dass jedes von einem der Mitglieder aufgrund der Bandenabrede begangene Betrugsdelikt den anderen Bandenmitgliedern ohne weiteres als gemeinschaftlich begangene Straftat i.S.d. § 25 Abs. 2 StGB zugerechnet werden kann (vgl. u.a. ). Allein die Bandenmitgliedschaft und ein Handeln im Interesse der Bande ohne konkreten Bezug zu einer von anderen Bandenmitgliedern begangenen Straftat genügt nicht, um eine Strafbarkeit des Bandenmitglieds wegen einer Bandentat zu begründen. Wegen einer Tat, die "aus der Bande heraus" begangen wird, kann als Täter oder Teilnehmer nur bestraft werden, wenn er an dieser konkreten Tat mitgewirkt hat (vgl. u.a. mwN).

16Diese materiell-rechtliche Frage der Strafbarkeit eines Angeklagten ist von der Problematik der Umgrenzungsfunktion einer Anklageschrift zu trennen. Kann einem Angeklagten nach Ausschöpfung der Beweismöglichkeiten die Begehung einer konkreten Tat nicht nachgewiesen werden, ist er freizusprechen, wenn diese Tat i.S.d. § 264 StPO angeklagt war. Die Verneinung einer Bandenabrede durch den Tatrichter und auch die Nichtannahme eines - hier dann allerdings nahe liegenden - "uneigentlichen Organisationsdeliktes" (vgl. hierzu auch Rn. 12) mögen dazu führen, dass noch strengere Anforderungen an die Feststellung der konkreten Tatbeiträge eines jeden Angeklagten an den jeweiligen Taten zu stellen sind, sie führen aber nicht dazu, dass die vorher zu Recht (im Eröffnungsbeschluss) angenommene Einhaltung der Umgrenzungsfunktion entfällt.

17In seinem Hinweis vom in der Hauptverhandlung ist das Landgericht selbst (noch) zutreffend davon ausgegangen, dass eine insoweit (behauptete) fehlende Konkretisierung unter dem Gesichtspunkt der Informationsfunktion der Anklageschrift zu prüfen ist. Letzterer Frage ist hier jedoch nicht näher nachzugehen, da diesbezügliche etwa bestehende Mängel nicht die Unwirksamkeit der Anklage begründen würden (vgl. u.a. mwN) und durch Hinweise entsprechend § 265 StPO in der Hauptverhandlung geheilt werden können (vgl. u.a. Rn. 26; mwN). Entscheidend für den vorliegenden Fall ist, dass die einzelnen Taten unverwechselbar dargestellt sind und sowohl die generelle Tätigkeit der einzelnen Angeklagten als auch - soweit als möglich - die konkreten Tatbeiträge näher geschildert werden. Durch die Ausführungen im wesentlichen Ergebnis der Ermittlungen, inwieweit die einzelnen Taten den Angeklagten zuzurechnen sind, wird nicht nur der hinreichende Tatverdacht belegt, den die Strafkammer zutreffend insoweit beim Eröffnungsbeschluss vom bejaht hat, sondern auch die Anbindung der Angeklagten an die konkreten Taten.

18In diesem Zusammenhang weist der Senat auf Folgendes hin:

19Bei einer Tatbegehung als Bandenmitglied oder im Rahmen eines "uneigentlichen Organisationsdeliktes" (vgl. zum Begriff des "Organisationsdeliktes" auch mwN) - beides kommt im vorliegenden Fall durchaus in Betracht - müssen dem einzelnen Täter nicht zwingend Ausführungshandlungen vor Ort gegenüber dem Tatopfer vorgeworfen werden; es genügt, wenn er an dieser konkreten Tat an anderer Stelle mitgewirkt hat. Eine arbeitsteilige Begehungsweise besteht gerade darin, dass nicht jeder Teilnehmer der Tat jede Handlung selbst vornimmt; ausreichend ist vielmehr, dass jeder aufgrund gemeinsamen Entschlusses seine abgesprochene Aufgabe wahrnimmt mit dem übereinstimmenden Willen, den erhofften Taterfolg zu erreichen. Hierbei hat sich jeder die von ihm gebilligten Tatbeiträge der anderen an der konkreten Tat zurechnen zu lassen. Die unterschiedlichen Tätigkeiten und subjektiven Vorstellungen der Tatbeteiligten können sowohl dazu führen, dass unter Umständen verschiedene Teilnahmeformen (Mittäterschaft, Beihilfe) vorliegen als auch, dass sich der strafrechtlich relevante Sachverhalt konkurrenzrechtlich für den jeweiligen Teilnehmer anders auswirkt.

20Die Umgrenzungsfunktion der Anklageschrift kann jedenfalls nicht gebieten, dass für die Bestimmtheit des Anklagevorwurfs i.S.d. § 200 Abs. 1 Satz 1 StPO mehr an Substanz verlangt wird als materiell-rechtlich für einen Schuldspruch erforderlich ist.

Nack                                                  Rothfuß                                           Hebenstreit

                            Elf                                                       Jäger

Fundstelle(n):
NJW 2012 S. 867 Nr. 12
wistra 2012 S. 195 Nr. 5
JAAAE-03138