BGH Beschluss v. - 3 StR 196/11

Revision in Strafsachen: Revisionrüge der Verhandlung vor einem unzuständigen Gericht trotz einer Verständigung über das Verfahrensergebnis; beachtlicher Rechtsfehler bei Verkennung der Zuständigkeit der Staatsschutzkammer; Sonderzuständigkeit bei Zusammentreffen weiterer Straftaten mit der Bildung einer kriminellen Vereinigung und Betäubungsmitteldelikten

Leitsatz

1. Die Revisionsrüge, das Gericht habe seine Zuständigkeit mit Unrecht angenommen (§ 338 Nr. 4 StPO), bleibt dem Angeklagten auch dann uneingeschränkt erhalten, wenn dem Urteil eine Verständigung (§ 257c StPO) vorausgegangen ist.

2. Ein in der Revision beachtlicher Rechtsfehler nach § 338 Nr. 4, § 6a StPO, § 74a Abs. 1 Nr. 4 GVG liegt nicht nur dann vor, wenn das Tatgericht seine Zuständigkeit auf der Grundlage objektiv willkürlicher Erwägungen angenommen hat.

3. Die Ausnahmeregelung des § 74a Abs. 1 Nr. 4 Halbsatz 2 GVG greift unabhängig davon ein, ob neben einem Betäubungsmitteldelikt weitere Straftaten mit der Bildung einer kriminellen Vereinigung in Tateinheit stehen.

Gesetze: § 6a StPO, § 257c StPO, § 338 Nr 4 StPO, § 74a Abs 1 Nr 4 Halbs 2 GVG, § 29 BtMG, §§ 29ff BtMG, § 129 StGB, § 252 StGB

Instanzenzug: LG München I Az: 2 KLs 100 Js 5110/10 Urteil

Gründe

1Das Landgericht hat den Angeklagten B.    wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit "Bildung krimineller Vereinigungen" zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren und neun Monaten sowie den Angeklagten M.   wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in zwei Fällen, Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in drei Fällen, räuberischer Erpressung und versuchter räuberischer Erpressung in drei Fällen, "dies alles jeweils in Tateinheit mit Bildung krimineller Vereinigungen" (jeweils zutreffend: mitgliedschaftlicher Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung), zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zehn Jahren und sechs Monaten verurteilt. Mit ihren Revisionen beanstanden beide Angeklagten mit Erfolg die Zuständigkeit der erkennenden Staatsschutzkammer; auf die vom Angeklagten M.    darüber hinaus geltend gemachte Sachrüge kommt es daher nicht an.

I.

2Der - von beiden Angeklagten übereinstimmend erhobenen - Zuständigkeitsrüge liegt folgendes Verfahrensgeschehen zugrunde:

3Die Staatsanwaltschaft hat mit der Anklage dem Angeklagten B.   ein Betäubungsmitteldelikt in Tateinheit mit Bildung einer kriminellen Vereinigung, dem Angeklagten M.   mehrere Betäubungsmittelstraftaten sowie drei Fälle der versuchten und einen Fall der vollendeten räuberischen Erpressung, jeweils in Tateinheit mit Bildung einer kriminellen Vereinigung, zur Last gelegt. In der Hauptverhandlung vor der Staatsschutzkammer hat der Verteidiger des Angeklagten M.   vor Vernehmung der Angeklagten zur Sache die Zuständigkeit des Tatgerichts mit der Begründung gerügt, dem Angeklagten würden neben der Bildung der kriminellen Vereinigung insbesondere Taten nach dem Betäubungsmittelgesetz vorgeworfen. Der Verteidiger des Angeklagten B.    hat sich der Beanstandung angeschlossen. Die Strafkammer hat die Zuständigkeitsrüge zurückgewiesen und ihren Beschluss im Wesentlichen damit begründet, dass die dem Angeklagten M.    zur Last gelegten Erpressungsdelikte gegenüber den Betäubungsmitteltaten "nicht als von minderem Gewicht" eingestuft werden könnten. Beide Angeklagte haben schließlich den ihnen vorgeworfenen Sachverhalt nach einer Verständigung eingeräumt.

II.

41. Die Zuständigkeitsrüge ist jeweils in zulässiger Weise erhoben. Dem steht insbesondere nicht entgegen, dass die Angeklagten die Tatvorwürfe aufgrund einer Verständigung nach § 257c StPO eingestanden haben. Auch in diesem Fall bleibt dem Angeklagten vielmehr die Befugnis zur Einlegung eines Rechtsmittels und zur Erhebung von Verfahrensrügen - hier: Beanstandung nach § 338 Nr. 4 StPO - uneingeschränkt erhalten. Im Einzelnen:

5a) Das Gesetz zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren vom (BGBl. I S. 2353), mit dem § 257c StPO und weitere, die Verständigung in Strafsachen betreffende Bestimmungen in die Strafprozessordnung eingefügt worden sind, sieht nach einer derartigen Beendigung des erstinstanzlichen Verfahrens keine Beschränkungen hinsichtlich der Rechtsmittelbefugnis vor (vgl. BGH, Beschlüsse vom - 3 StR 156/09, StV 2009, 680; vom - 3 StR 547/08, NStZ 2010, 289, 290; Meyer-Goßner, StPO, 54. Aufl., § 257c Rn. 32a; Weider in Niemöller/Schlothauer/Weider, Gesetz zur Verständigung im Strafverfahren, 2010, 155 f., 160 f.). Soweit im Gesetzgebungsverfahren eine Einschränkung der Revisionsmöglichkeit für den Fall einer Absprache in Betracht gezogen worden war (vgl. etwa Gesetzentwurf des Bundesrates, BT-Drucks. 16/4197 S. 6, 11), betrafen die dort vorgesehenen Begrenzungen ausdrücklich nicht die in § 338 StPO genannten absoluten Revisionsgründe. Der - der Gesetzesänderung zugrunde liegende - Entwurf der Bundesregierung verzichtete schließlich bewusst auf jegliche Beschränkung der Rügemöglichkeiten in der Revision mit der ausdrücklichen Begründung, gerade im Bereich der Verständigung sei "eine Lockerung der revisionsrechtlichen Nachprüfung nicht sachgerecht". Eine vollumfängliche Kontrolle durch das Revisionsgericht könne einen unterstützenden Beitrag dazu leisten, dass Verständigungen in erster Instanz wirklich so ablaufen, wie es den Vorgaben des Gesetzgebers entspreche; sie diene außerdem der Gleichmäßigkeit der Anwendung und Fortentwicklung des Rechts (BT-Drucks. 16/12310 S. 9). Dieser - nach alldem eindeutige - Wille des Gesetzgebers kommt auch in § 302 Abs. 1 Satz 2 StPO zum Ausdruck, der bestimmt, dass der Verzicht auf ein Rechtsmittel ausgeschlossen ist, wenn dem Urteil eine Verständigung nach § 257c StPO vorausgegangen ist. Hieraus ergibt sich zwanglos, dass gerade im Fall einer Verständigung ein Rechtsmittel möglich sein soll, das sich auf die Rüge aller denkbaren Gesetzesverletzungen im Sinne der §§ 337, 338 StPO stützen kann.

6b) Die Zustimmung der Angeklagten zu der Verständigung ist nicht als konkludente Rücknahme des Zuständigkeitseinwands zu werten. Die Angeklagten haben die Zuständigkeit der Staatsschutzkammer ausdrücklich beanstandet. Ihre gleichwohl nach Zurückweisung der Rüge durch das Landgericht erteilte Zustimmung zu einem Verfahren nach § 257c StPO kann auf verschiedenen Gründen beruhen. So ist es etwa denkbar, dass sie sich auch deshalb auf eine Verständigung mit der von ihnen für unzuständig gehaltenen Staatsschutzkammer einließen, weil sie sich nicht sicher waren, ob sie mit ihrer Zuständigkeitsrüge in der Revisionsinstanz Erfolg haben werden (vgl. die unter 2. dargestellten unterschiedlichen Ansichten), und deshalb nicht Gefahr laufen wollten, dass die ohne eine Verständigung zu erwartenden höheren Strafen durch Verwerfung der Revision rechtskräftig werden, während sie andererseits durch ihre Zustimmung zu einer Verständigung die Zusage von Strafen aus einem niedrigeren Rahmen erreichen konnten (§ 257c Abs. 3 Satz 2 StPO), selbst wenn sie diesen immer noch für überhöht hielten. Ihrem Verhalten kann deshalb nicht ohne Weiteres ein Erklärungswert dahin beigemessen werden, sie wollten ihre Auffassung, die Staatschutzkammer sei zur Durchführung des Hauptverfahrens nicht zuständig, nicht mehr aufrecht erhalten. Dem steht die Entscheidung des (, StV 2010, 470) nicht entgegen. Dort hatte der Angeklagte zunächst die Auswechslung seines Pflichtverteidigers begehrt, dann aber unter ausschließlicher Mitwirkung dieses Pflichtverteidigers eine Verständigung nach § 257 Abs. 2 StPO getroffen. Dies hat der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs als wirksame konkludente Rücknahme des Antrags auf Auswechslung des Pflichtverteidigers mit der Folge der Unzulässigkeit der auf die Nichtbescheidung des ursprünglichen Antrags gestützten Revisionsrüge gewertet. Die jeweils maßgebenden Sachverhalte weisen somit entscheidungserhebliche Unterschiede auf.

7c) Die Einlegung der Revision und Erhebung der entsprechenden Verfahrensrüge stellt auch kein widersprüchliches oder missbräuchliches Verhalten dar, das zum Verlust der Rügemöglichkeit in der Revisionsinstanz führen könnte.

8Bereits der Große Senat für Strafsachen hatte die Frage aufgeworfen, ob und gegebenenfalls in welchem Maße im Revisionsverfahren nach einer Verfahrensabsprache etwa unter dem Gesichtspunkt widersprüchlichen Verhaltens bestimmte Verfahrensrügen, namentlich Aufklärungsrügen, ausgeschlossen sein können, sich hierzu indes nicht näher verhalten (, BGHSt 50, 40, 52). In der Folgezeit haben mehrere Strafsenate des Bundesgerichtshofs diesen Gedanken aufgegriffen. Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat die Rüge der fehlerhaften Zurückweisung eines Befangenheitsantrags wegen missbräuchlichen Prozessverhaltens für unzulässig erachtet, wenn der Angeklagte nach Ablehnung des Befangenheitsgesuchs an einer Urteilsabsprache mitwirkt und im Hinblick auf die vom Tatgericht zugesagte Strafobergrenze ein Geständnis ablegt (, NJW 2009, 690 f.). Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat - allerdings nicht tragend und nicht näher begründet - ausgeführt, es liege nahe, dass Revisionsrügen nach § 338 Nr. 1 und 4 StPO nach einer Vereinbarung mit den nach dem Beschwerdevorbringen unzuständigen Richtern als unstatthaft zu bewerten seien (, BGHR StPO § 338 Revisibilität 1). Der Senat ist mit Blick auf die seit Inkrafttreten des Gesetzes zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren geänderte Rechtslage an die diesen - teilweise zudem abweichende Sachverhalte betreffenden - Entscheidungen zugrunde liegende Rechtsauffassung nicht gebunden. Er vermag sich der dort vertretenen Ansicht - jedenfalls vor dem Hintergrund der gesetzlichen Neuregelung - nicht anzuschließen und hält an seiner Auffassung fest, dass dem Angeklagten die Befugnis zur Einlegung eines Rechtsmittels und zur Erhebung von Verfahrensrügen uneingeschränkt erhalten bleibt, auch wenn dem Urteil eine Verständigung vorausgegangen ist (BGH, Beschlüsse vom - 3 StR 156/09, StV 2009, 680; vom - 3 StR 547/08, NStZ 2010, 289, 290; vgl. auch , NStZ-RR 2010, 383; vom - 2 StR 590/10, NJW 2011, 2377). Die Zustimmung des Angeklagten zu einer Verständigung nach § 257c StPO führt als solche nach der dargelegten, auf dem ausdrücklichen Willen des Gesetzgebers beruhenden Konzeption des die Verständigung betreffenden Regelungsgefüges der Strafprozessordnung nicht zum Verlust einzelner prozessualer Rechte. Dieses Regelungsgefüge und damit auch der Wille des Gesetzgebers würden umgangen, wollte man die Erhebung einer Rüge nach § 338 Nr. 4 StPO in der Revisionsinstanz als rechtsmissbräuchlich oder widersprüchlich bewerten.

92. Die Rügen sind begründet; denn die Staatsschutzkammer hat ihre Zuständigkeit mit Unrecht angenommen (§ 338 Nr. 4 StPO). Diese könnte sich hier im Hinblick auf die den Angeklagten vorgeworfene Zuwiderhandlung gegen § 129 StGB allein aus § 74a Abs. 1 Nr. 4 Halbsatz 1 GVG ergeben. Ihr steht indes § 74a Abs. 1 Nr. 4 Halbsatz 2 GVG entgegen; denn den Angeklagten liegen neben der Bildung einer kriminellen Vereinigung tateinheitlich dazu begangene Betäubungsmitteldelikte zur Last. Dies führt zur Zuständigkeit der allgemeinen Strafkammer. Daran ändert es nichts, dass dem Angeklagten M.   darüber hinaus auch Erpressungstaten vorgeworfen werden.

10a) Der Senat hat aufgrund der in zulässiger Weise erhobenen Rüge die Zuständigkeit der Staatsschutzkammer in der Sache in vollem Umfang zu überprüfen; ein beachtlicher Rechtsfehler nach § 338 Nr. 4, § 6a StPO, § 74a Abs. 1 Nr. 4 GVG ist nicht erst dann gegeben, wenn das Tatgericht seine Zuständigkeit auf der Grundlage objektiv willkürlicher Erwägungen angenommen hat (vgl. Meyer-Goßner, StPO, 54. Aufl., § 338 Rn. 33; LR/Hanack, StPO, 25. Aufl., § 338 Rn. 74, 67; LR/Erb, StPO, 26. Aufl., § 6a Rn. 26; aA SK-StPO/Frisch, § 338 Rn. 95 [Stand: Januar 2005]; Radtke/Hohmann/Rappert, StPO, 2011, GVG § 74a Rn. 6).

11aa) Nach den §§ 337, 338 StPO prüft das Revisionsgericht grundsätzlich in vollem Umfang, ob die geltend gemachte Gesetzesverletzung vorliegt. Ein Ausnahmefall, bei dem eine Revision nur im Falle willkürlichen Handelns des Tatgerichts Erfolg haben kann, liegt nicht vor. Den Gesetzesmaterialien zu § 6a StPO, der Regelungen zur Zuständigkeit besonderer Strafkammern enthält, ist ein Wille des Gesetzgebers dahin, die revisionsrechtliche Überprüfung an dem Willkürmaßstab auszurichten, nicht zu entnehmen (vgl. BT-Drucks. 8/976 S. 32 f.). Diese Bestimmung ist dem die örtliche Zuständigkeit regelnden § 16 StPO nachgebildet. Die Nachprüfung der örtlichen Zuständigkeit ist in der Revision indes gerade nicht auf Fälle der Willkür beschränkt (vgl. etwa , BGHSt 11, 130 ff.; , StraFo 2009, 162). Vielmehr prüft das Revisionsgericht, ob der Beschwerdeführer den Zuständigkeitseinwand rechtzeitig erhoben und das Gericht seine Zuständigkeit in der Sache zu Recht angenommen hat (vgl. SK-StPO/Frisch, § 338 Rn. 85 [Stand: Januar 2005]).

12Auch in den Fällen, in denen es um die Zuständigkeit einer Jugend- oder Erwachsenenstrafkammer geht oder in denen das Oberlandesgericht in einer Staatsschutzstrafsache die Anklage des Generalbundesanwalts zur Hauptverhandlung zugelassen hat, prüft der Bundesgerichtshof im Revisionsverfahren - in der zweiten Fallgruppe sogar von Amts wegen - ob das Tatgericht seine Zuständigkeit rechtsfehlerfrei angenommen hat (, StraFo 2010, 466; , BGHSt 46, 238, 247 ff.).

13bb) Die vorliegende Fallkonstellation weicht in den für die Beurteilung wesentlichen Punkten erheblich von denjenigen Fällen ab, in denen die Rechtsprechung einen auf objektiv willkürliches Handeln des Tatgerichts beschränkten Prüfungsumfang bezüglich der gerichtlichen Zuständigkeit annimmt.

14(1) Eine solche eingeschränkte Überprüfung kann etwa in Betracht kommen, wenn eine vorangegangene Entscheidung der Beurteilung des Revisionsgerichts nach § 336 Satz 2 StPO (vgl. zu einem unanfechtbaren Eröffnungsbeschluss , GA 1981, 321) oder nach § 269 StPO (s. etwa , BGHSt 46, 238, 241) grundsätzlich entzogen ist. In diesen Fällen dient die Eröffnung der Rügemöglichkeit mit dem Prüfungsmaßstab der Willkür allein dem Zweck, den Angeklagten zur Wahrung seines Rechts auf den gesetzlichen Richter nach Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG nicht auf die Verfassungsbeschwerde zu verweisen, sondern den Verstoß gegen die grundrechtliche Gewährleistung bereits im Verfahren vor den Fachgerichten zu prüfen und gegebenenfalls zu korrigieren (, BGHSt 46, 238, 241 mwN).

15Ein derartiger Fall ist hier nicht gegeben. Zwar hatte die Staatsschutzkammer mit dem für den Angeklagten nach § 336 Satz 2, § 210 Abs. 1 StPO unanfechtbaren Eröffnungsbeschluss die Anklage zur Hauptverhandlung zugelassen. Allerdings hatte sie gemäß § 6a Satz 2 StPO ihre Zuständigkeit in der Hauptverhandlung (erneut) zu überprüfen, da beide Angeklagte einen entsprechenden Einwand rechtzeitig im Sinne des § 6a Satz 3 StPO geltend gemacht hatten. Damit steht in der Revisionsinstanz nicht der Eröffnungsbeschluss, sondern die Behandlung der Zuständigkeitseinwände durch das Landgericht zur Nachprüfung (vgl. Rieß, NStZ 1981, 447, 448; LR/Hanack, StPO, 25. Aufl., § 336 Rn. 15; SK-StPO/Frisch, § 336 Rn. 19 [Stand: Mai 2003]; BT-Drucks. 8/976, 32, 33).

16(2) Soweit die Rechtsprechung in anderen Konstellationen verschiedentlich die Zuständigkeitsrügen in der Revision nur nach dem Maßstab geprüft hat, ob das erstinstanzliche Gericht seine Zuständigkeit willkürlich angenommen hat, betraf dies die Bewertung normativer Zuständigkeitsmerkmale durch das Tatgericht, beispielsweise die Erforderlichkeit besonderer Kenntnisse des Wirtschaftslebens nach § 74c Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 GVG (, NStZ 1985, 464, 466), die notwendige Mitwirkung eines dritten Richters aufgrund Umfangs oder Schwierigkeit der Sache nach § 76 Abs. 2 Satz 1 GVG (, BGHSt 44, 328, 333 f.) oder tatrichterliche wertende Prognoseentscheidungen wie die Höhe der zu erwartenden Strafe nach § 24 Abs. 1 Nr. 2 GVG (, NStZ 1993, 197). Derartige normative, einer wertenden Betrachtung zugängliche Gesichtspunkte sind hier nicht von maßgebender Relevanz. Vielmehr geht es um die klar eingrenzbare Frage, ob die Zuständigkeit der Staatsschutzkammer aufgrund der Art der den Angeklagten zur Last gelegten Taten gegeben ist. Die Zuständigkeit des Gerichts hängt somit nicht von einer richterlichen Entscheidung ab (vgl. dazu , NJW 2005, 3434, 3435 f.), sondern allein von den verfahrensgegenständlichen Taten.

17b) Für die somit umfassend vorzunehmende Überprüfung der Zuständigkeit der Staatsschutzkammer gilt:

18aa) Die Ausnahme von der Sonderzuständigkeit der Staatsschutzkammer nach § 74a Abs. 1 Nr. 4 Halbsatz 2 GVG trotz eines Anklagevorwurfs nach § 129 StGB ist gegeben, wenn die Zuwiderhandlung gegen ein Vereinigungsverbot mit einem Betäubungsmitteldelikt zusammentrifft. Aus dem auf die Formulierung in § 52 Abs. 1 StGB zurückgreifenden Gesetzeswortlaut ("dieselbe Handlung") ergibt sich, dass der Ausnahmetatbestand Tateinheit zwischen dem Vereinigungs- und dem Betäubungsmitteldelikt voraussetzt (vgl. LR/Siolek, StPO, 26. Aufl., GVG § 74a Rn. 13; s. auch zu ähnlichen Normen Meyer-Goßner, StPO, 54. Aufl., GVG § 74c Rn. 4; Radtke/Hohmann/Rappert, StPO, 2011, GVG § 74c Rn. 2; Franzen/Gast/Joecks/Randt, AO, 7. Aufl., § 391 Rn. 33 ff.; Hilgers-Klautzsch in Kohlmann, Steuerstrafrecht, AO § 391 Rn. 87 [Stand: 03.2010]; Klein/Jäger, AO, 10. Aufl., § 391 Rn. 25). Diese Voraussetzung ist hier - wie auch vom Landgericht zutreffend angenommen - erfüllt, da jedenfalls ein Teil der Erlöse aus den Straftaten gegen das Betäubungsmittelgesetz in die Gemeinschaftskasse der Vereinigung fließen sollte und die Taten mithin in Verfolgung der Vereinigungsziele begangen wurden (st. Rspr.; s. etwa , BGHSt 29, 288, 290; vgl. auch LK/Krauß, StGB, 12. Aufl., § 129 Rn. 194).

19bb) Die Zuständigkeit der Staatsschutzkammer wird nicht dadurch begründet, dass dem Angeklagten M.   auch noch Erpressungstaten zur Last liegen; denn die Ausnahmeregelung des § 74a Abs. 1 Nr. 4 Halbsatz 2 GVG greift unabhängig davon ein, ob neben einem Betäubungsmitteldelikt weitere Straftaten mit der Bildung einer kriminellen Vereinigung in Tateinheit stehen (ebenso ; LG Frankfurt am Main, Beschluss vom - 5/23 KLs 80 Js 20257/88, StV 1990, 490; SK-StPO/Frister, GVG § 74a Rn. 17 [Stand: Oktober 2009]; Kissel/Mayer, GVG, 6. Aufl., § 74a Rn. 3; aA LR/Siolek, StPO, 26. Aufl., GVG § 74a Rn. 13).

20(1) § 74a Abs. 1 Nr. 4 Halbsatz 2 GVG sieht nach seinem Wortlaut als einzige Voraussetzung für die Ausnahmeregelung vor, dass dieselbe Handlung, die den Verstoß gegen das Vereinigungsdelikt nach § 129 StGB begründet, eine Straftat nach dem Betäubungsmittelgesetz darstellt; unerheblich ist dagegen, ob zusätzlich noch weitere Delikte verwirklicht sind.

21(2) Sinn und Zweck der Regelung sowie die Intention des Gesetzgebers sprechen ebenfalls nicht dafür, es bei weiteren hinzukommenden Delikten bei der Zuständigkeit der Staatsschutzkammer zu belassen. Der der Einführung des § 74a Abs. 1 Nr. 4 Halbsatz 2 GVG zugrunde liegende Gesetzentwurf der Bundestagsfraktionen von SPD und FDP (BT-Drucks. 9/27) enthält dazu zwar keine Begründung. In einer Stellungnahme des Bundesrates zu einem vorangegangenen Entwurf der Bundesregierung wurde die mit demselben Gesetz eingeführte ähnliche Regelung zur Zuständigkeit bei Steuerstraftaten in § 391 Abs. 4 AO jedoch darauf gestützt, dass bei der Bekämpfung der Betäubungsmittelkriminalität der Kenntnis der örtlichen Verhältnisse besondere Bedeutung zukomme (BT-Drucks. 8/3551 S. 48). Der Ausschluss der Sonderzuständigkeit der Wirtschaftsstrafkammer im Falle zugleich verwirklichter Betäubungsmitteldelikte in § 74c Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 GVG beruht ausweislich der einschlägigen Gesetzesmaterialien unter anderem auf der Erwägung, dass dadurch eine Überlastung der Spezialkammern verhindert werden solle (BT-Drucks. 8/976 S. 67).

22Diese beiden Gesichtspunkte sind mit Blick auf die vergleichbare Konstellation auch bei der Frage der Zuständigkeit der Staatsschutzkammer von Bedeutung. Sie sprechen dafür, dass die Ausnahmeregelung des § 74a Abs. 1 Nr. 4 Halbsatz 2 GVG auch in den Fällen gilt, in denen zu den Betäubungsmitteltaten weitere Delikte hinzutreten (vgl. OLG Karlsruhe aaO). Die vom Gesetzgeber bei Betäubungsmittelstraftaten angenommene große Relevanz der ortsnahen Verhandlung wird nicht dadurch vermindert, dass der Täter noch andere Delikte verwirklicht hat. Begründet die drohende Überlastung der Spezialkammer durch Betäubungsmitteldelikte eine Ausnahme von deren Zuständigkeit, so muss dies erst recht gelten, wenn die Spezialkammer außerhalb ihres eigentlichen Aufgabenbereichs neben Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz noch weitere "fachfremde" Taten aufzuklären hat. Vor diesem Hintergrund kommt dem Umstand keine entscheidende Bedeutung zu, ob zum Zeitpunkt der Gesetzgebung "Fragen der Mischkriminalität" eine Rolle spielten (vgl. LR/Siolek, StPO, 26. Aufl., GVG § 74a Rn. 13).

23(3) Aus den dargelegten Gründen folgt auch, dass die Zuständigkeit der Staatsschutzkammer nach § 74a Abs. 1 Nr. 4 GVG nicht davon abhängen kann, welches Gewicht die zu dem Betäubungsmitteldelikt hinzukommende Straftat hat (wohl aA OLG Oldenburg, Beschluss vom - HEs 41/03, NStZ-RR 2004, 174, 175; Meyer-Goßner, StPO, 54. Aufl., GVG § 74a Rn. 4). Für eine nach diesem Kriterium auszurichtende Differenzierung bieten weder der Gesetzeswortlaut noch der erkennbare Wille des Gesetzgebers einen Anhaltspunkt. Zudem ist es aus Gründen der Rechtssicherheit und -klarheit nicht angebracht, die gerichtliche Zuständigkeit und damit eine wesentliche Verfahrensfrage von einem derartigen, gesetzlich nicht vorgesehenen und weitgehend unbestimmten Kriterium abhängig zu machen; auf diese Weise entstünden erhebliche, der Anwendungspraxis nicht zuträgliche Abgrenzungsschwierigkeiten (vgl. SK-StPO/Frister aaO Rn. 17). Auch aus praktischen Erwägungen erscheint die Differenzierung nach dem Gewicht der zusätzlich begangenen Straftat(en) nicht erforderlich; denn einer möglicherweise sachwidrigen Zuständigkeit der allgemeinen Strafkammer ließe sich für den Fall, dass das Betäubungsmitteldelikt von völlig untergeordneter Bedeutung ist, etwa durch eine Beschränkung des Verfahrensstoffes nach § 154a StPO spätestens mit dem Eröffnungsbeschluss begegnen (vgl. BGH, Beschlüsse vom - StB 32/80, BGHSt 29, 341 ff.; vom - 3 StR 106/05, NStZ 2005, 650; OLG Karlsruhe aaO; LR/Siolek aaO Rn. 15).

24(4) Die Zuständigkeit der Staatsschutzkammer lässt sich schließlich nicht daraus herleiten, dass die dem Angeklagten M.   vorgeworfenen Erpressungstaten nicht in Tateinheit zu den Betäubungsmitteldelikten stehen. Die Erpressungsstraftaten werden durch das fortdauernde Vereinigungsdelikt zwar nicht mit den Betäubungsmitteltaten zu einer einzigen tateinheitlichen Tat verklammert, da die zu verklammernden Taten angesichts der Strafandrohung im Verhältnis zur Bildung einer kriminellen Vereinigung nicht leichter oder gleichwertig sind (vgl. , NStZ-RR 2006, 232, 233). Es bleibt allerdings dabei, dass es sich bei der fortdauernden Zuwiderhandlung gegen ein Vereinigungsverbot um dieselbe Tat handelt, diese Tat tateinheitlich mit Betäubungsmitteldelikten zusammentrifft und daher die Zuständigkeit der Staatsschutzkammer insgesamt nicht gegeben ist.

253. Wegen der fehlenden Zuständigkeit der Staatsschutzkammer ist die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an eine allgemeine Strafkammer zurückzuverweisen. Die örtliche Zuständigkeit des Landgerichts München I ergibt sich nach § 7 Abs. 1, § 13 Abs. 1, § 3 StPO daraus, dass der Angeklagte B.   am aufgrund eines gemeinsamen Tatplans der Angeklagten ein Kilogramm Heroingemisch in der          Landstraße in München - also dem dortigen Gerichtsbezirk - kaufte und übernahm.

III.

26Für das weitere Verfahren weist der Senat darauf hin, dass im Falle einer erneuten Verurteilung wegen versuchter räuberischer Erpressung Erörterungen zu einem etwaigen Rücktritt angebracht sein könnten.

Becker                                                  Pfister                                             Schäfer

                             Mayer                                                 Menges

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:



Fundstelle(n):
NJW 2012 S. 468 Nr. 7
OAAAD-99141