BAG Beschluss v. - 1 ABR 30/10

Zuständigkeit der Paritätischen Kommission bei Reklamationen - ERA-TV Metall- und Elektroindustrie Baden-Württemberg

Leitsatz

1. Der Betriebsrat hat nach § 10.3 Abs. 2 Satz 2 iVm. § 6.4 ERA-TV einen Anspruch gegen den Arbeitgeber auf Übergabe der schriftlichen Beschreibung und Bewertung der Arbeitsaufgaben der reklamierenden Arbeitnehmer an die Paritätische Kommission, wenn über das Ergebnis der Überprüfung gemäß § 10.2 ERA-TV kein Einverständnis erzielt wird und daher eine weitere Überprüfung der Einstufung in der Paritätischen Kommission erfolgt.

2. Weigern sich die Vertreter einer Seite, in der Paritätischen Kommission an einer Abstimmung teilzunehmen, sind entsprechend den zu § 76 Abs. 5 Satz 2 BetrVG entwickelten Grundsätzen nur die tatsächlich abgegebenen Stimmen zu zählen.

Gesetze: § 1 TVG, § 2a ArbGG, § 10 ArbGG, § 256 ZPO

Instanzenzug: Az: 2 BV 8/08 Beschlussvorgehend Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg Az: 2 TaBV 3/09 Beschluss

Gründe

1A. Die Beteiligten streiten über die Durchführung des Reklamationsverfahrens nach dem Entgeltrahmen-Tarifvertrag (ERA-TV) der Metall- und Elektroindustrie Baden-Württemberg.

2Die Arbeitgeberin ist ein Unternehmen der Automobilzulieferindustrie mit zuletzt 327 Mitarbeitern. Sie ist Mitglied im Verband der Metall- und Elektroindustrie Baden-Württemberg e.V. Antragsteller ist der bei ihr gebildete Betriebsrat.

Am schlossen der Verband der Metall- und Elektroindustrie Baden-Württemberg e.V. und die Industriegewerkschaft Metall den räumlich für das Land Baden-Württemberg geltenden Entgeltrahmen-Tarifvertrag (ERA-TV) sowie den Einführungstarifvertrag zum ERA-TV (ETV-ERA). Bei der Arbeitgeberin fand die Einführung des ERA-TV am statt. In diesem Tarifvertrag ist bestimmt:

Im ETV-ERA ist bestimmt:

5Zur Vorbereitung der Einführung des ERA-TV hatte die Arbeitgeberin im Jahre 2006 die Arbeitsaufgaben der Beschäftigten bewertet und eingestuft. Ende November 2007 teilte sie ihnen die Zusammensetzung ihres Entgelts nach der ERA-Einführung mit. Daraufhin reklamierten im Januar 2008 insgesamt 40 Arbeitnehmer gemeinsam mit dem Betriebsrat die erfolgten Einstufungen mit der jeweils im Einzelnen näher dargelegten Begründung, die Arbeitgeberin habe bei der Bewertung der Arbeitsaufgaben nicht alle tatsächlich ausgeführten Tätigkeiten ausreichend berücksichtigt. Der Betriebsrat leitete die Reklamationsscheine an die Arbeitgeberin weiter und forderte diese in einem Begleitschreiben auf, die Entgeltgruppe und gegebenenfalls die Einstufung der Arbeitsaufgabe zu überprüfen. Anfang Mai 2008 wies die Arbeitgeberin die Reklamationen gegenüber den Arbeitnehmern zurück und teilte dies zugleich dem Betriebsrat mit. Dessen Forderung, den Fall zur weiteren Behandlung an die Paritätische Kommission zu übergeben, lehnte sie ab.

6Der Betriebsrat hat die Auffassung vertreten, die Paritätische Kommission habe im Reklamationsverfahren auch zu prüfen, ob die tatsächlich ausgeführten mit den bewerteten Arbeitsaufgaben übereinstimmen. Die Arbeitgeberin habe ihr deshalb die schriftlichen Arbeitsaufgabenbeschreibungen, die Begründungen für die Aufgabenbewertungen sowie die Reklamationsscheine zu übergeben. Des Weiteren habe sie die von ihr entsandten Mitglieder der Paritätischen Kommission anzuweisen, die Reklamationen unter formellen und materiellen Gesichtspunkten zu prüfen und über sie zu entscheiden.

Der Betriebsrat hat zuletzt beantragt,

8Die Arbeitgeberin hat beantragt, die Anträge abzuweisen.

9Das Arbeitsgericht hat den Anträgen zu 1 und zu 3 stattgegeben und den Antrag zu 2 abgewiesen. Gegen den Beschluss haben beide Beteiligten im Umfang ihres jeweiligen Unterliegens Beschwerde eingelegt. Das Landesarbeitsgericht hat den Anträgen insgesamt stattgegeben und die Beschwerde der Arbeitgeberin zurückgewiesen. Mit ihrer Rechtsbeschwerde verfolgt diese ihren Abweisungsantrag weiter.

10B. Die Rechtsbeschwerde der Arbeitgeberin hat teilweise Erfolg. Der Antrag zu 2 ist unbegründet, der Antrag zu 3 ist unzulässig. Soweit sie sich gegen den Antrag zu 1 wendet, ist die Rechtsbeschwerde unbegründet.

11I. Das Landesarbeitsgericht hat über die Anträge zutreffend im Beschlussverfahren entschieden. Es handelt sich um eine Angelegenheit aus dem Betriebsverfassungsgesetz iSd. § 2a Abs. 1 Nr. 1 ArbGG. Dies ist nicht nur der Fall, wenn die durch das Betriebsverfassungsgesetz geregelte Ordnung des Betriebs und die gegenseitigen Rechte und Pflichten der Betriebsparteien als Träger dieser Ordnung im Streit sind, sondern auch dann, wenn es um Rechte betriebsverfassungsrechtlicher Organe geht, die ihre Grundlage in Tarifverträgen haben ( - zu C I 1 der Gründe, BAGE 97, 167). Der Betriebsrat beruft sich hier auf Rechtspositionen, die er durch den ERA-TV begründet sieht. Dieser ergänzt in den §§ 7 ff. die gesetzlichen Mitbestimmungsrechte aus §§ 99 ff. BetrVG bei Ein- und Umgruppierungen, ohne diese jedoch auszuschließen ( - Rn. 28 ff., EzA BetrVG 2001 § 99 Eingruppierung Nr. 8). Eine derartige Ergänzung der Mitbestimmung in personellen Angelegenheiten ist zulässig (vgl.  - BAGE 111, 350).

12II. Der Betriebsrat ist antragsbefugt. Er macht mit seinen Anträgen geltend, ihm seien durch den ERA-TV eigene Rechte eingeräumt worden. Ob diese tatsächlich bestehen, ist eine Frage der Begründetheit der Anträge.

13III. In dem Verfahren war die Paritätische Kommission nicht nach § 83 Abs. 3 ArbGG zu hören. Diese ist nicht beteiligtenfähig iSd. § 10 Satz 1 Halbs. 2 ArbGG, weil sie nicht selbst Träger eigener betriebsverfassungsrechtlicher Rechte ist. Der ERA-TV hat vielmehr den Betriebsparteien die das Betriebsverfassungsgesetz ergänzenden Rechte und Pflichten bei Ein- und Umgruppierungen zugewiesen und die Paritätische Kommissionen lediglich als Einrichtung zur Lösung von Meinungsverschiedenheiten in diesen Fragen geschaffen. Eine Übertragung eigener betriebsverfassungsrechtlicher Rechte an die Paritätische Kommission ist damit jedoch nicht verbunden.

14IV. Der Antrag zu 1 ist zulässig und begründet.

151. Er erfüllt die Anforderungen des auch im Beschlussverfahren anwendbaren § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO. Die Unterlagen, welche die Arbeitgeberin der Paritätischen Kommission übergeben soll, sind hinreichend bestimmt bezeichnet. Aus dem Vorbringen des Betriebsrats ist ersichtlich, auf welche Reklamationen sich das Begehren bezieht.

162. Der Antrag zu 1 ist begründet.

17a) Der Betriebsrat hat bei einer Reklamation der dem Arbeitnehmer mitgeteilten Entgeltgruppe gemäß § 10.3 Abs. 2 Satz 2 iVm. § 6.4 ERA-TV einen Anspruch gegen den Arbeitgeber auf Übergabe der schriftlichen Beschreibung und Bewertung der Arbeitsaufgaben des betreffenden Arbeitnehmers an die Paritätische Kommission, wenn - wie hier - über das Ergebnis der Überprüfung gemäß § 10.2 ERA-TV kein Einverständnis erzielt wird und daher eine weitere Überprüfung der Einstufung in der Paritätischen Kommission erfolgt. Dieser sind des Weiteren die Reklamationsscheine zuzuleiten, aus denen sich die Gründe für die Reklamation ergeben, weil nur dann eine sachgerechte Prüfung der Einwände möglich ist. Der Anspruch auf Übergabe der Unterlagen an die Paritätische Kommission steht dem Betriebsrat zu, da die Paritätische Kommission selbst nicht Träger eigener betriebsverfassungsrechtlicher Rechte und Pflichten ist.

18b) Die Arbeitgeberin kann die Übergabe der Unterlagen und damit die Überprüfung der Reklamation durch die Paritätische Kommission nicht mit der Begründung ablehnen, diese sei hierfür nicht zuständig. Hierüber hat die Paritätische Kommission selbst zu befinden. Der ERA-TV weist der Arbeitgeberin insoweit kein Vorprüfungsrecht zu. Wird über die Zulässigkeit des Reklamationsverfahrens in der Paritätischen Kommission keine Einigung erzielt, tritt auf Antrag einer Seite die erweiterte Paritätische Kommission nach § 10.4 iVm. § 7.3.3 ERA-TV zusammen. Kommt auch dort keine einheitliche oder mehrheitliche Meinung zustande, wird auf Antrag einer Seite eine Schiedsstelle gebildet. Nach § 7.3.7 ERA-TV, auf den in § 10.4 ERA-TV verwiesen ist, können Arbeitgeber und Betriebsrat die Entscheidung der Schiedsstelle gerichtlich überprüfen lassen. In diesem Verfahren ist dann auch über die Zulässigkeit des Reklamationsverfahrens zu entscheiden, weil es sich hierbei um eine Verfahrensfrage handelt, die nach § 7.3.7 ERA-TV der gerichtlichen Überprüfung unterliegt.

19V. Der Antrag zu 2 ist zulässig, aber unbegründet.

201. Mit dem Antrag zu 2 verlangt der Betriebsrat, der Arbeitgeberin aufzugeben, die von ihr in die Paritätische Kommission entsandten Mitglieder anzuweisen, alle bei ihr gegen die mitgeteilten Einstufungen eingegangenen Reklamationen, soweit sie ihnen nicht stattgegeben hat, unter formellen und materiellen Gesichtspunkten zu prüfen und hierüber zu entscheiden. Dem Betriebsrat geht es damit - wie er in der Anhörung vor dem Arbeitsgericht klargestellt hat - darum, dass die Arbeitgeberin ihren Vertretern in der Paritätischen Kommission die Weisung erteilt, zu den streitigen Punkten zu verhandeln und an der Abstimmung hierüber teilzunehmen. So verstanden ist der Antrag hinreichend bestimmt.

212. Der Antrag ist jedoch unbegründet. Der ERA-TV enthält für das Begehren des Betriebsrats keine Rechtsgrundlage.

22a) Der ERA-TV ergänzt die gesetzlichen Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats bei Ein- und Umgruppierungen und sieht für Fälle fehlender Übereinstimmung der Betriebsparteien bei Einstufungen und Reklamationen sowie bei Reklamationen durch Beschäftigte die Bildung einer Paritätischen Kommission zur Herbeiführung einer Einigung vor. So hat nach § 10.3 ERA-TV eine weitere Überprüfung der Einstufung in der Paritätischen Kommission zu erfolgen, wenn im Falle einer Reklamation über das Ergebnis der Überprüfung kein Einverständnis erzielt wird. Zur effektiven Durchführung dieses tariflichen Regelungsauftrags hat der Betriebsrat das Recht, vom Arbeitgeber die Benennung und Entsendung von Vertretern in die Paritätische Kommission verlangen zu können. Andernfalls könnte der Arbeitgeber die Bildung der tarifvertraglich vorgesehenen Paritätischen Kommission verhindern.

23b) Der Betriebsrat kann jedoch vom Arbeitgeber nicht die Erteilung bestimmter Weisungen an die von ihm entsandten Vertreter fordern. Das Verfahren in der Paritätischen Kommission bezweckt eine betriebsnahe einfache Konfliktlösung in Fällen der Ein- und Umgruppierung. Dabei gehen die Tarifvertragsparteien davon aus, dass die Mitglieder der Paritätischen Kommission aktiv und weisungsungebunden an der Lösung streitiger Reklamationsfälle mitwirken. Den Fall der Passivität oder des bewussten Fernbleibens von Sitzungen der Paritätischen Kommission haben sie nicht bedacht. Insoweit besteht eine unbewusste Regelungslücke, die von den Gerichten für Arbeitssachen zu schließen ist, weil sich unter Berücksichtigung von Treu und Glauben ausreichende Anhaltspunkte für den mutmaßlichen Willen der Tarifvertragsparteien ergeben (vgl.  - zu 4 a der Gründe, BAGE 110, 277). Mit Blick auf die mit dem Verfahren in der Paritätischen Kommission bezweckte einfache Konfliktlösung liegt es nahe, die bestehende Regelungslücke durch Anwendung der in der betrieblichen Praxis bekannten Verfahrensgrundsätze des Einigungsstellenverfahrens zu schließen. Weigern sich die Vertreter einer Seite, in der Paritätischen Kommission an einer Abstimmung teilzunehmen, sind daher entsprechend den zu § 76 Abs. 5 Satz 2 BetrVG entwickelten Grundsätzen nur die tatsächlich abgegebenen Stimmen zu zählen (vgl.  - zu B I der Gründe, BAGE 68, 277; DKKW/Berg 12. Aufl. § 76 Rn. 78; Fitting 25. Aufl. § 76 Rn. 74; ErfK/Kania 11. Aufl. § 76 BetrVG Rn. 20; aA Kreutz GK-BetrVG 9. Aufl. § 76 Rn. 111; Richardi BetrVG 12. Aufl. § 76 Rn. 103, die Stimmenthaltungen als Nein-Stimmen werten). Dies bewirkt für die Mitglieder der Paritätischen Kommission einen Mitwirkungszwang und verhindert eine Blockade des Reklamationsverfahrens durch eine der Betriebsparteien, weil die erschienenen und abstimmungswilligen Mitglieder der Paritätischen Kommission eine Sachentscheidung herbeiführen können.

24VI. Der zu 3 gestellte Feststellungsantrag ist unzulässig. Er ist nicht auf die Feststellung eines Rechtsverhältnisses iSv. § 256 Abs. 1 ZPO gerichtet.

251. Nach dieser auch im Beschlussverfahren anwendbaren Vorschrift kann die gerichtliche Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens eines Rechtsverhältnisses beantragt werden, wenn der Antragsteller ein rechtliches Interesse an der entsprechenden richterlichen Entscheidung hat. Ein Rechtsverhältnis ist jede durch die Herrschaft einer Rechtsnorm über einen konkreten Sachverhalt entstandene rechtliche Beziehung einer Person zu einer anderen Person oder zu einer Sache. Der Antrag nach § 256 Abs. 1 ZPO muss sich dabei nicht notwendig auf das Rechtsverhältnis als Ganzes erstrecken. Er kann sich auch auf daraus folgende einzelne Beziehungen, Ansprüche oder Verpflichtungen oder auf den Umfang einer Rechtspflicht beschränken. Bloße Elemente oder Vorfragen eines Rechtsverhältnisses können jedoch ebenso wie abstrakte Rechtsfragen nicht Gegenstand eines Feststellungsantrags sein. Das liefe auf die Erstellung eines Rechtsgutachtens hinaus, was den Gerichten verwehrt ist ( - Rn. 12, EzA ZPO 2002 § 256 Nr. 10).

2. Nach diesen Grundsätzen ist der Antrag zu 3 nicht auf die Feststellung einer rechtlichen Beziehung einer Person (des Betriebsrats) zu einer anderen Person (der Arbeitgeberin) gerichtet. Es geht dem Betriebsrat vielmehr um die Feststellung des Umfangs der Prüfungskompetenz der Paritätischen Kommission und dabei konkret um die Frage, ob sich diese auch auf die Prüfung der Übereinstimmung der zugrunde gelegten Arbeitsaufgabenbeschreibung mit der übertragenen Arbeitsaufgabe erstreckt. Das betrifft kein Rechtsverhältnis, sondern zielt auf die Erstattung eines Rechtsgutachtens zum Umfang der Prüfungskompetenz der Paritätischen Kommission.

Fundstelle(n):
DB 2012 S. 1755 Nr. 31
TAAAD-98685